Die deutschen Bischöfe haben zur Bundestagswahl am 27. September aufgerufen. „Wahlenthaltung
ist keine vernünftige und konstruktive Antwort auf tatsächliche oder vermeintliche
Missstände“, heißt es in dem Appell. „Wer von seinem Wahlrecht nicht Gebrauch macht,
verzichtet auf die aktive Beeinflussung der Politik.“ Ebenso mahnen die Bischöfe die
Politiker. Wahlaussagen müssten auch „nach den Wahlen Bestand haben“. Für die Wahlentscheidung
empfehlen die Bischöfe verschiedene Überlegungen. Die Maßnahmen zur Bewältigung der
Finanz- und Wirtschaftskrise sollten „ethisch“ geklärt sein, etwa im Hinblick auf
die Belastung der nächsten Generationen oder auf die internationale Lastenverteilung.
Wesentlich sei auch „der Schutz der Würde und des Lebens des Menschen in allen Phasen
seiner Existenz.“ Des Weiteren gehöre „zu den Aufgaben der Politik auch die Förderung
eines kinder- und familienfreundlicheren Umfelds“.
Wir dokumentieren hier den
Wahlaufruf der deutschen Bischöfe vom 3. September im Wortlaut:
Liebe Schwestern
und Brüder!
In der Bundestagswahl am 27. September stellen die wahlberechtigten
Bürgerinnen und Bürger die Weichen für die Politik in der nächsten Legislaturperiode.
Die Wahl fällt in eine Zeit weltweiter Unsicherheiten und Turbulenzen vor allem im
Bereich der Finanz- und Wirtschaftswelt. Sie betreffen auch unser Land. Über ihren
Ausgang und ihr Ende gibt es noch keine Klarheit. Zugleich erleben wir in vielen Teilen
der Erde krisenhafte Entwicklungen und gewaltsame Konflikte, die auch uns berühren.
Hinzu kommt eine Fülle schwieriger Probleme im Inneren unserer Gesellschaft und unseres
Landes, dessen 60. Gründungstag wir gerade begangen haben und das bald den zwanzigsten
Jahrestag der Wiedergewinnung seiner staatlichen Einheit begehen kann. Entsprechend
muss die Wahlentscheidung der Wählerinnen und Wähler klug, besonnen und verantwortungsbewusst
erfolgen, damit sie zu politischer Stabilität und Handlungsfähigkeit beiträgt.
Zu
Recht erwarten die Wählerinnen und Wähler von den politischen Parteien einen fairen,
sachbezogenen und informativen Wahlkampf, in dem die unterschiedlichen politischen
Auffassungen, Inhalte und Ziele erkennbar werden. Zugleich müssen sie darauf vertrauen
können, dass Wahlaussagen nach den Wahlen Bestand haben, was natürlich nicht ausschließt,
dass unsere Demokratie immer auch Kompromisse braucht, deren Wesen es ist, dass sich
alle Beteiligten bei der konkreten Einigung entgegenkommen und auf die uneingeschränkte
Durchsetzung ihrer Ziele, Interessen und Lösungswege verzichten. Die Wahlentscheidung
des Einzelnen beruht auf einer Vielzahl von Gründen und Motiven. Auch folgende Überlegungen
sollten nach unserer Auffassung dabei mit bedacht werden.
Zu den vordringlichen
Aufgaben der nächsten Zeit gehört die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise.
Nachhaltige und gerechte Lösungen können – im nationalen wie im internationalen Rahmen
- nur auf der Grundlage einer festen Werteordnung gefunden werden. Unser Grundgesetz
bringt eine solche Werteordnung zur Geltung. Die katholische Soziallehre enthält zusätzliche
Kriterien. Auch kann eine Rückbesinnung auf die ethischen Grundlagen der Sozialen
Marktwirtschaft hilfreich sein. Sowohl die kurzfristigen als auch die langfristigen
Maßnahmen zur Krisenbewältigung bedürfen der ethischen Klärung z. B. bezüglich ihrer
Auswirkungen auf einzelne Bevölkerungsgruppen sowie im Hinblick auf die Belastung
der nächsten Generationen unter dem Gesichtspunkt der intergenerationellen Gerechtigkeit
oder auch im Hinblick auf eine vertretbare internationale Lastenverteilung. Es ist
ein Regelwerk anzustreben, das Auswüchse, wie wir sie in der Vergangenheit erlebt
haben, so weit wie möglich verhindert, und zugleich werteorientierte Verhaltensweisen
fördert. In seiner neuen Enzyklika „Caritas in Veritate“ mahnt Papst Benedikt XVI.:
„Die ganze Wirtschaft und das ganze Finanzwesen – nicht nur einige ihrer Bereiche
– müssen nach ethischen Maßstäben als Werkzeuge gebraucht werden, so dass sie angemessene
Bedingungen für die Entwicklung des Menschen und der Völker schaffen.“ (Nr. 65).
Ebenfalls
eine Aufgabe von großer Aktualität ist der Schutz der Würde und des Lebens des Menschen
in allen Phasen seiner Existenz. Dies gilt für alle Politikbereiche, insbesondere
für die Bereiche der Rechts-, Gesundheits-, Wissenschafts- und Forschungspolitik.
Wiederholt
haben wir auch unsere Sorge über Tendenzen zum Ausdruck gebracht, die auf die Trennung
von Ehe und Familie und eine Entgrenzung des Familienbegriffs hinauslaufen. Wir wiederholen
deshalb unsere Erwartung, dass die herausragende Rechtsstellung von Ehe und Familie
gesichert und die materielle Lage der Familien verbessert werden. Zugleich bedürfen
die Eltern der Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder. Zu den Aufgaben der Politik
gehört schließlich auch die Förderung eines kinder- und familienfreundlicheren Umfelds.
Unsere
sozialen Sicherungssysteme müssen zukunftsfähig bleiben. Niemand darf alleine gelassen
werden. Wer krank ist, muss unabhängig von Einkommen, Vermögen und Alter die erforderliche
medizinische und pflegerische Versorgung erhalten. Pflegebedürftige Menschen und Menschen
mit Behinderungen sowie ihre Familien dürfen nicht im Stich gelassen werden; sie haben
Anspruch auf Hilfe, Unterstützung und Förderung. Menschen, die über lange Zeit erwerbstätig
sind, müssen die Aussicht auf ein Alterseinkommen haben, das ihnen ein Leben ohne
Armut ermöglicht. Armut, insbesondere auch Kinderarmut, ist in unserem wohlhabenden
Land ein Skandal, der dringend Abhilfe verlangt. Nicht hinnehmbar ist die hohe und
derzeit wieder ansteigende Arbeitslosigkeit. Wer arbeitslos ist, muss die Chance haben,
wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Er verdient dabei Unterstützung, sich für den
Arbeitsmarkt fit zu machen. Die Bereitschaft zu eigener Initiative ist zu fordern
und zu fördern. Solidarität und Eigenverantwortung bleiben die prägenden Säulen des
Sozialstaats.
Bildung ist für jeden Menschen von existentieller Bedeutung.
Sie dient der Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit. Eine Politik, die Bildung
vorrangig unter ökonomischen Gesichtspunkten verstünde und nach ihrem wirtschaftlichen
Nutzen beurteilte, griffe deshalb zu kurz. Bedauerlicherweise sind die Bildungschancen
in unserem Land ungleich verteilt. Die Verbesserung der Chancen gerade sozial schwacher
Menschen im Bildungswesen ist eine wichtige politische Herausforderung.
In
unserem Land leben viele Menschen ausländischer Herkunft. Sie alle haben ein Recht
darauf, bei uns menschenwürdig und unter Beachtung der unverletzlichen Menschenrechte
sowie der ihnen zukommenden Grundrechte aufgenommen zu werden. Eine besondere Verantwortung
haben wir für diejenigen, die vor Verfolgung und Gefahren zu uns geflohen sind. Die
Ausländer- und Migrationspolitik ist daran zu messen, ob sie diesen Erfordernissen
genügt und für die betroffenen Personenkreise humane Lebensbedingungen gewährleistet.
Trotz
aller Probleme, die wir in unserem Lande zu lösen haben, dürfen wir nicht vergessen,
dass in vielen Ländern dieser Erde Not und Armut herrschen. Auch die dort lebenden
Menschen bedürfen unserer Solidarität. Die Politik in der nächsten Legislaturperiode
wird deshalb auch danach zu beurteilen sein, welchen Stellenwert sie der Entwicklungszusammenarbeit
beimisst.
Das Ende der Legislaturperiode möchten wir schließlich auch zum Anlass
nehmen, den Abgeordneten zu danken, die in diesen Jahren nach bestem Wissen und Gewissen
Verantwortung für unser Gemeinwesen getragen haben.
Für allgemeine Politikerschelte
und Politikverdrossenheit besteht kein Grund. Wir bitten die wahlberechtigten Bürgerinnen
und Bürger, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Wer von seinem Wahlrecht nicht
Gebrauch macht, verzichtet auf die aktive Beeinflussung der Politik. Er übernimmt
Mitverantwortung für den Fall, dass politische Kräfte auf die Gestaltung der Geschicke
unseres Gemeinwesens einwirken, denen diese – aus welchen Gründen auch immer – nicht
anvertraut werden können. Wahlenthaltung ist keine vernünftige und konstruktive Antwort
auf tatsächliche oder vermeintliche Missstände.