Kardinal Sterzinsky: 20 Jahre Bischof im wiedervereinigten Berlin
Das katholische Erzbistum
Berlin hat seine 2006 begonnene Strukturreform großenteils abgeschlossen. Die Vorgaben
und Ziele des Planes 2009 seien „weitgehend erreicht und umgesetzt“, erklärte Kardinal
Georg Sterzinsky in einem Schreiben an haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter des Erzbistums.
Seit Beginn seines Bischofsamts 1989 hat sich einiges verändert im Erzbistum. Nach
dem Wechsel von Kardinal Joachim Meisner im Februar 1989 nach Köln wurde Sterzinsky
am 9. September zum Bischof geweiht und dessen Nachfolger in Berlin. Antje Dechert
hat den Kardinal gefragt, wie er den Amtsantritt im Kontext des Mauerfalles erlebt
habe.
„Als ich berufen wurde, war mir klar, es bleibt nichts wie es über
Jahrzehnte war. Und Berlin als Brennpunkt zwischen der demokratischen Ordnung in Westdeutschland
und der sozialistischen Ordnung in Ostdeutschland würde sicherlich wie ein Kessel
sein, wie ein Schmelztiegel, in dem die Veränderung am deutlichsten und zuallererst
spürbar würde. So war es dann auch. Und als ich am 9. September hier geweiht wurde,
war das auch zu spüren.“ Zwei Monate später, am Tag oder besser in der Nacht
des Mauerfalls vom 9. auf den 10. November 1989, waren Sie unterwegs nach Rom, um
sich bei Johannes Paul II, vorzustellen und um die römischen Dikasterien aufzusuchen...
„Als wir gegen Mitternacht in Rom ankamen, fragten wir: ‚Ist in Berlin
irgendetwas passiert?‘ ‚Nö, ist alles normal, die Leute gehen rüber und nüber!‘ ‚Was
heißt denn das? Das ist doch nicht normal!‘ Also für Römer schien das normal zu sein.
Für uns war das etwas völlig Unerwartetes. Da hatte uns also die große Überraschung
erreicht, die Mauer war durchlässig geworden. Und von da an war alles ganz anders.
Es überstürzten sich die Ereignisse.“ Seit 20 Jahren sind Sie jetzt Bischof
des wiedervereinten Berlins. Würden Sie sagen, die Stadt ist heute zusammengewachsen?
„Berlin leidet immer noch unter der jahrzehntelangen Spaltung. In dem was
wir früher Westberlin genannt haben und in dem, was wir Ostberlin genannt haben, gibt
es immer noch unterschiedliche Mentalitäten. In Westberlin denkt man immer noch individualistischer
als in Ostberlin. Man ist selbstbewusst darauf bedacht, das Leben zu gestalten, ist
auch viel anspruchsvoller und hält seinen eigenen Anspruch für so richtig und gewichtig,
dass man ihn zur Geltung bringen will, kämpft. In Ostberlin ist man kollektiver im
Denken und im Empfinden und möchte entweder gemeinsam etwas erreichen oder bringt
seinen eigenen Standpunkt nicht so zur Geltung und stellt ihn in Frage, wenn er nicht
übereinstimmt mit der allgemeinen Meinung – das ist immer noch so. Andererseits ist
man natürlich anspruchsvoll und meint also wirtschaftlich und sozial müsste es uns
mindestens so gut gehen wie denen, die im Westen gelebt haben und wirtschaftlich so
erfolgreich waren. Man merkt das auch an den Wahlergebnissen. Die Linke hat natürlich
auch im Westen schon einigen Erfolg, aber längst nicht so wie im Osten. Und im Osten,
das werden wir auch bei der nächsten Bundestagswahl wieder erleben, wird sicherlich
die Linke die stärkste Partei sein. Da merkt man es also immer noch.“ Wie
hat die Kirche zur Wiedervereinigung der Stadt beigetragen?
„Tatsache ist,
dass in der Zeit der politischen Trennung und Spaltung durch die Mauer, die katholische
Kirche das deutlichste Zeichen für den Anspruch auf Einheit war. Denn, das war die
einzige Institution, die juristisch nicht getrennt war. Es gab nur ein Bistum. Es
war aber alles gedoppelt außer dem Domkapitel. Es gab nur ein Domkapitel, die Kanoniker
- vier im Westen drei im Osten - und nur einen Bischof für Ost wie West. Dieser hatte
sogar das besondere Privileg, dass er zwar im Osten residierte, aber zehn Mal im Monat
in den Westen fahren durfte, um dort seine Aufgaben als Bischof wahrzunehmen und zu
erfüllen. Sonst gab es keine einzige nicht getrennte Institution, auch die evangelische
Kirche war nach Ost- und West getrennt in zwei Kirchen.“ Sie stammen gebürtig
aus einer Kleinstadt im früheren Ostpreußen, dem heutigen Polen, lebten lange in Thüringen.
Sind Sie nach 20 Jahren in der Hauptstadt auch ein bisschen Berliner geworden? Und
was macht in Ihren Augen den typischen Berliner aus?
„Berliner sind Viele
natürlich mit einer großen Freude. Viele Berliner sind voller Stolz Berliner, diese
großzügige Stadt, diese kulturell so pulsierende Stadt, diese multiforme, multikulturelle,
aber immer ganz säkularistische Stadt. Man ist aus Neigung und voller Stolz säkularistisch,
auch der Religion gegenüber. Also man kann so religiös sein wie man will, aber bitte,
Religion darf nichts Verbindliches sein. Religiös sein ja, wenn es denn sein muss,
aber bitte ohne Bekenntnis. Religiöse Gefühle ja, aber bloß nicht mit einer Bindung.
Das ist typisch berlinisch – und der hohe Anteil der nicht Deutschsprachigen - auch
unter den Katholiken. Für uns ist das eine große Bereicherung in der Stadt. Annähernd
30 Prozent der Katholiken sind nicht deutschsprachig sondern Italiener, Kroaten. Von
den Philippinen kommen sie, aus Thailand und aus vielen Nationen. Das macht die katholische
Kirche wirklich zum Abbild der Weltkirche.“ Welche Aufgaben und Herausforderungen
sehen Sie für die Zukunft in Ihrem Bistum? Stichwort Pro Reli, Ökumene, multikulturelles
Miteinander?
„Ob wir Religion an die Schule bringen? Das weiß ich nicht,
aber wir müssen immer wieder deutlich machen, Religion ist zwar eine persönliche Sache,
aber nicht nur eine private Sache, sondern eine Sache, die die Gesellschaft angeht
und die die Menschheit als Gemeinschaft angeht. Ich hoffe, dass wir das immer wieder
tun und vor allem unsere sozialen Werke. Die finden ja immer wieder Beachtung. Sie
müssen dann aber tatsächlich aus christlichem Geist heraus leben und handeln, eine
schwierige Aufgabe: nicht nachlassen, Geduld, Geduld, Geduld. Diese gehört ja Gott
sei Dank auch zu den Gaben, die uns der Geist Gottes gibt.“ …Wenn die Kirche
ihren prophetischen Auftrag erfüllt, auch wenn sie nicht gleich beachtet wird, wird
sie sicherlich ihre Aufgabe erfüllen. Mir ist das bewusst geworden, als ich zurückschaute
auf die ersten Jahre meines Bischofsamtes, galt ich immer als ein ganz verrückter
Vogel, wenn ich die Frage der Migranten und ihre Anliegen ansprach. Aber alles das,
was ich damals vor 16, 17 Jahren zur Sprache brachte, gemeinsam mit juristisch geschulten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern natürlich, das hat jetzt alles in der öffentlichen
Diskussion zu einem Erfolg geführt. Wenn ich damals sagte, Deutschland ist ein Einwanderungsland,
dann haben die gesagt: Also dieser Berliner Bischof, der spinnt. Nun, man hat sich
nicht entschlossen zu sagen: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Aber man sagt
heute immerhin in Gesetzestexten, es ist ein Zuwanderungsland.“ In der Deutschen
Bischofskonferenz leiten Sie die Kommission für Ehe und Familie, sowie die Unterkommission
„Frauen in Kirche und Gesellschaft“ und Sie sind auch stellvertretender Vorsitzender
der Migrationskommission. Das sind alles soziale Felder, die viel mit Gleichberechtigung
zu tun haben. Sind Sie ein sehr gerechtigkeitsliebender Mensch?
„Das weiß
ich nicht. Ich sehe da mehr eine Verpflichtung. Also wenn ich meiner Neigung nachginge,
dann wäre ich längst in einem kontemplativen Kloster gelandet, aber der liebe Gott
hat es nicht zugelassen. Schon seit meiner frühesten Jugend habe ich gedacht, am liebsten
würde ich Karmelit werden oder vielleicht Benediktiner, wenn ich doch nur gut singen
könnte. Aber ich bin in der DDR aufgewachsen, da gab es die einen nicht und die anderen
nicht und immer wenn ich mich zurückziehen wollte in die Studierstube, um kontemplativ
zu leben, hat mir Gott eine Aufgabe in der Öffentlichkeit zugewiesen. Die habe ich
immer gehorsam übernommen. Und das ist immer so, wenn man den Winken Gottes folgt,
wird man vielleicht doch auch am glücklichsten.“ Was sind dringende
Fragen, denen sich die Kirche heute stellen muss?
„Die Frauenfrage, die
steht an! Die ist lange genug aufgeschoben worden und noch lange nicht erledigt, noch
nicht einmal theoretisch richtig durchdrungen. Ich hab sie auch nicht verstanden,
aber wir müssen dran bleiben, sonst werden wir den Aufgaben unserer Zeit nicht gerecht.“ Wie
haben sie ihr Jubiläum gefeiert und was wünschen Sie sich persönlich für die Zukunft?
„Also
ich habe 20 Jahre nicht zum Jubiläum erklärt, sondern immer gesagt, das ist ein Gedenktag,
gut. Aber kirchlich sind 25 Jahre ein Jubiläumsjahr. Und vielleicht werde ich die
25 Jahre noch erleben, vielleicht auch nicht. Ich wünsche mir, dass ich dann nicht
mehr aktiv sein muss als Diözesanbischof. Mein Wunsch ist, dass meine Gesundheit,
die ich nun nach einem Jahr gesundheitlicher Schwäche und intensiver medizinischer
Therapie wieder errungen habe, sich jetzt als stabil erweist. Und dass mir die Gaben
Gottes geschenkt bleiben, dass ich mein Bischofsamt wahrnehmen kann, dass es gut weitergeht.
Wir haben den göttlichen Beistand erlebt und ich hoffe, dass ich weiter der Mittler
sein kann zwischen Gott und den Menschen.“ (rv 13.09.2009 ad/mg)