„Die Menschen finden gerade in Zeiten der Krise und Unsicherheit einen inneren Halt,
wenn sie sich an eine gemeinsame Geschichte erinnern.“ Daran weist der deutsche Botschafter
beim Heiligen Stuhl, Hans-Henning Horstmann, gegenüber Radio Vatikan hin. Eines der
wichtigsten historischen Momente sei u.a. die Einheit Deutschlands. Der Weg zur gesellschaftlichen
und menschlichen Einheit sei aber steinig, so Horstmann. Gerade in der gegenwärtigen
globalen Vertrauenskrise wisse man um die einmalige Chance eines vereinten Deutschland.
Das Ost-West-Denken sei in Mehrheit überwunden, so Horstmann in seiner aktuellen Kolumne.
(rv
26.08.2009 mg)
Lesen Sie den Beitrag von Hans-Henning Horstmann:
Sehr
verehrte Hörerinnen, sehr verehrte Hörer,
jedes Jahr hat seine staatlichen
und kirchlichen Gedenktage. Die Menschen finden gerade in Zeiten der Krise und Unsicherheit
einen inneren Halt, wenn sie sich an eine gemeinsame Geschichte erinnern, sich vergewissern,
woher sie kommen, um zu wissen, wo sie heute stehen und in gemeinsamer Trauer und
gemeinsamer Feier jeder individuell seinen Kompass ausrichtet. 2009 haben wir den
80. Jahrestag der Gründung des Vatikanstaates mit Ausstellungen und Konferenzen gefeiert.
Viele von uns haben noch einmal die ersten Menschen auf dem Mond vor 40 Jahren mit
großer Hochachtung und Staunen vor den Möglichkeiten der Weltraumtechnik erlebt. Gedenktage
zeigen uns die großen Möglichkeiten, die Gott dem menschlichen Verstand und seiner
Neugier gegeben hat. Sie zeigen aber auch, wozu der Mensch im Bösen fähig ist:
Vor
70 Jahren haben wir Deutschen am 1. September 1939 Polen überfallen: der Beginn des
2. Weltkrieges und der systematischen Verfolgung und Vernichtung jüdischer Mitbürger.
Der deutsche Einmarsch in Österreich 1938 war mit Ausnahme des Protestes von Mexiko
von der Weltöffentlichkeit hingenommen worden. Auch das Münchner Abkommen vom 29.
September 1938 war ein Zugeständnis an den Diktator, das zur Auflösung der Tschechoslowakei
und dem Einmarsch deutscher Truppen im März 1939 führte. Das verbliebene Gebiet der
ehemaligen Tschechoslowakei wurde dem Deutschen Reich angegliedert. Im August 1939
wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt unterzeichnet. Hitler und die Hybris
siegten am 1. September 1939.
Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland
1949 (nur wenige Wochen nach der Gründung des Nordatlantik-Vertrages (NATO) in die
die Bundesrepublik Deutschland 1955 aufgenommen wurde) war der Beginn einer deutschen
Geschichte der Freiheit und des Rechtes. Die Väter des Grundgesetzes hatten ihre Lehren
aus der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gezogen
und sich auf ein Grundgesetz geeinigt, das der klassischen Gewaltenteilung Exekutive,
Legislative und Judikative gerecht wurde, insbesondere aber in Artikel 1 festhielt:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar". Wir verdanken es gerade auch unseren amerikanischen
Freunden, dass wir uns nach 1945 wieder aufrichten konnten: als beispielhafte Staatsmänner
nenne ich George Marshall und General Lucius D. Clay, der u.a. die Luftbrücke während
der sowjetischen Blockade von Berlin organisierte. Papst Pius XII. hatte bereits einen
nur ihm unterstellten päpstlichen Legaten Erzbischof Münch 1945 in Deutschland ernannt,
der helfen sollte. Die großen Europäer De Gasperi, Schuman, de Gaulle, Beck, Spaak
und Churchill hatten Vertrauen in Konrad Adenauer und seine Politik der Westintegration.
Sie war nicht unumstritten. Sie ist in der Retrospektive Grundlage für die Ostpolitik
von Willy Brandt und Walter Scheel. Im August 1970 wurde der Grundlagenvertrag zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR abgeschlossen. Bei Vertragsunterzeichnung
übergab die Bundesregierung einen Brief zur deutschen Einheit, der u.a. festhielt:
„dass dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik
Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das
deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“. Noch im November
konnte der Grundlagenvertrag mit der Volksrepublik Polen unterzeichnet werden. Es
folgten die Verträge mit der Tschechoslowakei, Bulgarien und Ungarn 1973 (mit Rumänien
wurden bereits 1967 die diplomatischen Beziehungen aufgenommen).
In der Geschichte
der Zusammenarbeit mit den Ländern des Warschauer Paktes und des Rates für gegenseitige
Wirtschaftshilfe war die Flagge dem Handel gefolgt, eine alte deutsche Tradition:
durch Wirtschaft Vertrauen schaffen, kulturelle und wissenschaftliche Kontakte entwickeln,
um dann zu konkreter staatlicher Zusammenarbeit zu gelangen. Die Unterzeichnung der
Schlussakte von Helsinki 1975 (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)
gab den mutigen Bürgerrechtlern aus allen Teilen der Gesellschaft, vor allen Dingen
aber auch aus der Kirche in Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn und in der DDR
völkerrechtliche Legitimation für ihr Tun. Die Beziehungen verdichteten sich. Deutschland
konnte fest verankert in der Europäischen Gemeinschaft, in den transatlantischen Strukturen
und als Mitglied der Vereinten Nationen aktiv eine Politik, so wie sie uns Johannes
Paul II. mit großem Mut und Vertrauen auf Gott vorgelebt hat, verwirklichen. Mit dem
Europäischen Picknick im August 1989 im ungarischen Sopron und der Ausreise von DDR-Bürgern
durch Österreich nach Deutschland begann der Fall der Mauer. Nach den erfolgreichen
Verhandlungen mit der DDR konnten die Flüchtlinge aus der Prager Botschaft am 30.
September 1989 ausreisen, die Botschaftsflüchtlinge in anderen Botschaften erhielten
ebenfalls die Gelegenheit zur Ausreise und am 9. November fiel die Mauer.
Die
Friedensgebete in der DDR, und die sich verstärkenden friedlichen Montagsdemonstrationen
sind das historische Verdienst, dass sich die Deutschen gewaltlos - ohne Anwendung
des Schießbefehls - vereinen konnten. Bischof Reinelt und Pfarrer Führer haben unermüdlich
und erfolgreich zur glücklichen Vereinigung beigetragen.
Für die meisten –
mit Ausnahme der USA – war es eine Überraschung. Am wenigsten hatten wir Deutsche
mit dem Mauerfall gerechnet. Unsere Politik zielte auf eine Humanisierung des unmenschlichen
Grenzregimes des Eisernen Vorhangs und eine sich immer enger gestaltende Beziehung
der zwei deutschen Staaten in einem sich einigenden Europa. Bronislaw Geremek, der
spätere polnische Außenminister, war bei Amtsantritt des ersten Solidarnosc-Ministerpräsidenten
Mazowiecki Fraktionsvorsitzender im Sejm. Geremek schrieb im August 1989: „Die neue
polnische Führung halte die deutsche Wiedervereinigung für unausweichlich“. Tendenz
der deutschen Kommentare: die Polen neigen zur politischen Romantik. Im November begann
die Romantik zur Realität zu werden. In der DDR wurde statt „Wir sind das Volk“ nunmehr
skandiert: „Wir sind ein Volk“ und am 6. November in Leipzig „Deutschland, einig Vaterland“.
Helmut Kohl legte dem Deutschen Bundestag am 28. November 1989 sein 10-Punkte-Programm
zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas vor. Die Gespräche von Helmut
Kohl und Hans-Dietrich Genscher mit Gorbatschow und Eduard Schewardnadse und die treibende
Kraft George Bush senior und James Baker gestalteten den Prozess der 2 plus 4-Gespräche,
d.h. der Gespräche der beiden deutschen Staaten gemeinsam mit den USA, UdSSR, Frankreich
und Großbritannien. In Deutschland zeigte sich einmal mehr die kooperative Laizität
zwischen Staat und katholischer sowie evangelischer Kirche als guten Partnern für
die historisch einmalige Aufgabe. Sie wurden durch den Einsatz vieler gemeistert in
Staat, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und in mutigen persönlichen Lebensentscheidungen,
aber vor allem eben durch Kohl, Bush, Gorbatschow. Am 3. Oktober 1990 war Deutschland
staatlich vereint.
Der Weg zur gesellschaftlichen und menschlichen Einheit
ist steinig. Aber gerade in der gegenwärtigen globalen Vertrauenskrise wissen wir
um die einmalige Chance eines vereinten Deutschland. Das Ost-West-Denken ist in Mehrheit
überwunden: die Deutschen sind in ihren Regionen, in Deutschland und in Europa zu
Hause und stellen sich der neuen Aufgabe, von der wir nicht immer wissen, wie wir
sie meistern werden, aber zuversichtlich sind, dass wir sie meistern werden - auch
mit Hilfe der Wegweisungen der Sozialenzyklika von Benedikt XVI. zur Globalisierung.