Die Vatikanischen
Museen mussten letztes Jahr dank der Krise eine leichte Einbuße an Besuchern hinnehmen
– so wie fast alle anderen großen Museen der Welt. Für 2008 zählte man im Vatikan
4,5 Millionen Besucher. Das ist weit mehr als jedes italienische Museum vorweisen
kann. Und nebenbei eine Zahl, die bestimmten Kunstwerken, besonders der Sixtina, abträglich
ist. Was tut der kluge Museumsleiter? Darüber hat Gudrun Sailer mit dem Direktor der
Vatikanischen Museen, Antonio Paolucci, gesprochen. Es macht unter den Museumsleitern
zwei Typen aus: Den „Manager“ und den „Taliban“.
„Ein Museumsdirektor ist wie
Herkules vor der Weggabelung. Er steht vor zwei Versuchungen – beide legitim. Eine
ist es, das Museum so lang wie möglich offen zu halten, um möglichst viel Publikum
anzuziehen. Das hat Risiken: Die unausgesetzte Beleuchtung und auch die Zahl von Menschen
schaden den Kunstwerken. Andere Direktoren meinen, man sollte so wenig Leute wie möglich
ins Museum lassen: ausschließlich Kenner, die wissen, wie man ein Kunstwerk betrachtet,
die es respektieren und lieben. Der normale Museumsdirektor muss da einen Mittelweg
finden. Er darf nicht vergessen, dass er Werke in Obhut hat, die auch für die Menschen
von morgen zugänglich sein müssen, ja sogar für die, die noch nicht einmal geboren
sind. Die Konservierung geht über alles andere.“
Sie sind seit rund eineinhalb
Jahren im Amt, und als eine der ersten Handlungen haben Sie die Öffnungszeiten verlängert.
Die Schlangen vor dem Eingang sind heute weniger lang. Welche Zaubertricks haben Sie
sonst noch angewendet?
„Ich habe ermöglicht, dass die Besucher ihre Eintrittskarten
heute auch online kaufen können. Auch das gehört zur Aufgabe des Leiters eines vielbesuchten
Museums wie unserem, das in Italien bei weitem das meistbesuchte ist. Gleich danach,
wenngleich weit abgeschlagen, kommen die Uffizien in Florenz, die aber bloß ein Drittel
unserer Besucherzahlen haben. Freilich wäre es traurig, ein Museum nur unter dem statistischen
Gesichtspunkt zu betrachten!“
Die meisten Besucher wollen in den Vatikanischen
Museen nur das eine: Die Sixtinische Kapelle sehen. Bedauern Sie das?
„Ich
bedaure das sehr, denn es bedeutet, die Vatikanischen Museen nicht zu verstehen. Die
Sixtina ist wie ein gleißendes Licht in der Nacht, das blind macht für alle anderen
Schätze. Dabei ist Michelangelo nur einer der vielen Sterne in unserem Himmel! Es
gibt Raffael, Beato Angelico, die spektakuläre Sammlung antiker Skulpturen. Noch vor
100 Jahren kam man in die Museen, um den Laokoon zu sehen, den Apoll vom Belvedere
und Raffael, der als der größte Künstler aller Zeiten galt, zu Recht, wie ich denke.
Der Meister der Meister, das Vorbild für alle.“
Muss man sich da nicht
einfach eingestehen, dass sich der Geschmack der Zeit ändert?
„Natürlich
ändert sich der Geschmack der Massen. Heute trifft Michelangelo den Geschmack der
breiten Mehrheit. Warum? Weil Michelangelo sozusagen modern ist. Die Leute meinen,
in Michelangelo etwas zu sehen, das ihnen selbst zueigen ist. Die innere Spannung,
die Unzufriedenheit, der extreme Individualismus, die Polemik gegen alles und jeden
– das gehört zum Mythos von Michelangelo und spiegelt sich im Geschmack der Masse.
Raffael dagegen ist Stille, Ordnung, Glück, Ausgewogenheit. Raffael ist groß, weil
die Dinge, die er schuf – ich denke an die Raffael-Stanzen oder an die Transfiguration
- wie aus den Händen Gottes kommen. Die Werke wirken, als seien sie nicht erarbeitet,
unter Mühen und Anstrengung. Sie wirken leicht.“
Es gibt rund ein Dutzend
Sammlungen in den Vatikanischen Museen. Sind unter ihnen welche, die sozusagen ihr
Licht unter den Scheffel stellen?
„Die vatikanischen Museen heißen Museen
im Plural, weil sie verschiedenste Formen menschlicher Ziviliastionen und Kulturen
vereinen. In diesem Sinn sind sie identitässtiftend für die Katholische Kirche, denn
sie spiegeln deren Universalität und auch die Aufmerksamkeit der Kirche für fremde
Kulturen, den Respekt für die Dinge, die von Menschenhand geschaffen sind - ob es
sich um das rituelle Boot aus Papua Neuguinea handelt oder um das Jüngste Gericht
Michelangelos. Wir haben eine ägyptische Abteilung, eine etruskische, eine ethnologisch-missionarische.
Die durchschnittliche Dauer einer Führung durch die Vatikanischen Museen liegt bei
einer und einer Viertelstunde. Danach muss noch Zeit sein für den Petersdom und dann,
immer noch am Vormittag, die Besichtigung des Kolosseums. Das sind die hässlichen
Rhythmen der Tourismusindustrie.“
Können Sie eine vatikanische Sammlung
nenen, die Sie als Direktor für komplett unterschätzt halten?
„Eine ganz
besonders: das grandiose und fast unbekannte ethnografisch-missionarische Museum.
Das ist eines der wichtigsten Museen weltweit auf diesem Gebiet. Es bietet chinesische,
japanische, burmesische Werke, welche aus Afrika und Mittelamerika. Es sind Objekte,
die Missionare gesammelt haben, und alle zusammen bilden sie eine Geografie der Weltkulturen.
Und doch ist das ein Museum, von dessen Existenz das normale Publikum oft nicht einmal
weiß.“
Gibt es Überlegungen, die Besucherströme besser zu lenken, sodass
die großen Massen, die nur die Sixtina sehen wollen, nur die Sixtina sehen und die
anderen Sammlungen besser geschützt werden?
„Das ist wahrhaft das Problem
der Probleme! Es wird seit langer Zeit überlegt, einen zusätzlichen Eingang zu schaffen.
Es wird überlegt, neue Rundgänge anzulegen. Aber so leicht ist das nicht. Bisher ruhen
die Vatikanischen Museen auf einem sensiblem Gleichgewicht. Da denke ich etwa an die
Galerie der Landkarten. Einer der schönsten Orte der Welt, nicht wahr? Gregor XIII.,
der gebildete Papst aus Bologna, ließ im Korridor, der die Päpstlichen Gemächer mit
den Regierungspalästen verband, von seinem Geographen Ignazio Danti diese Galerie
anlegen. Sie bietet detailgetreue Landkarten von allen Regionen, jeder Kirchturm,
jedes Dorf des geliebten Italien ist verzeichnet. Montaigne, der diese Galerie Ende
des 19. Jahrhundert sah, sagte: Der Papst wandert durch Italien und bleibt dabei zu
Hause. Einer der faszinierendsten Orte der Museen, meiner Meinung nach, aber wenn
Sie ihn um neun Uhr morgens besuchen, ist es bloß ein überfüllter Schlauch voller
Leute, die zur Sixtina drängen.“
1506 legte Papst Julius II. mit der Aufstellung
der Laokoon-Gruppe den Grundstein der Vatikanischen Museen. Diese Sammlungen sind
eigentlich nicht für, sagen wir, missionarische Zwecke gegründet worden, also in der
Absicht, mit Kunst zu Gott zu bekehren…
„Glücklicherweise nicht! Es gibt
mehr nackte Männer und Frauen in den Vatikanischen Museen als in jeder anderen Sammlung
der Welt, besonders in der Sixtina und in der griechisch-römischen Statuensammlung.
Die Päpste wollten ganz einfach die Kultur des Menschen sammeln – ohne propagandistischen
Zweck. Das kam später. Aber der Anfang war die Leidenschaft der Päpste für die Antike.
Und dann: Jeder Papst hatte seinen eigenen Geschmack. Hier haben wir es nicht einer
Sammlung von dynastischem Zuschnitt zu tun, wie bei den Habsburgern oder den Bourbonen
oder den Medici. Aber alle Päpste bis Paul VI. waren aufmerksam für die Kultur der
Menschen ihrer Zeit.“ (rv 15.07.2009 gs)