Wir dokumentieren in voller Länge die Ansprache Papst Benedikts beim Besuch im Flüchtlingslager
„Aida Refugee Camp“ in Betlehem. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Freunde! Mein
Besuch im Aida Refugee Camp an diesem Nachmittag bietet mir eine willkommene
Gelegenheit, meine Solidarität mit allen heimatlosen Palästinensern zu bekunden, die
sich danach sehnen, an ihren Geburtsort zurückkehren zu können oder ständig in ihrem
eigenen Heimatland zu leben. Ich danke Ihnen, Herr Präsident, für Ihre freundliche
Begrüßung. Auch Ihnen, Frau Abu Zayd und unseren anderen Rednern, danke ich. All den
Funktionären der United Nations Relief and Works Agency, die für die Flüchtlinge
sorgen, möchte ich die Wertschätzung bezeugen, die zahllose Menschen auf der ganzen
Welt für die Arbeit, die hier und in anderen Lagern in der Region getan wird, empfinden. Einen
besonderen Gruß richte ich an die Schüler und Lehrer in den Schulen. Durch Ihr Engagement
im Bildungsbereich drücken Sie Hoffnung auf die Zukunft aus. Zu allen jungen Menschen
hier sage ich: Bereitet euch mit neuem Eifer auf die Zeit vor, wenn ihr in den kommenden
Jahren für die Angelegenheiten des palästinensischen Volkes verantwortlich sein werdet!
Den Eltern kommt hier eine äußerst wichtige Rolle zu, und so rufe ich alle Familien
in diesem Lager auf: Achten Sie darauf, Ihre Kinder in ihrer Ausbildung zu unterstützen
und ihre Begabungen zu fördern, damit es in der zukünftigen palästinensischen Gesellschaft
nicht an qualifizierten Kräften für Führungspositionen fehlt. Ich weiß, daß viele
Ihrer Familien auseinandergerissen sind – durch Gefangenschaft einzelner Familienmitglieder
oder aufgrund eingeschränkter Bewegungsfreiheit – und viele unter Ihnen haben im Laufe
der Feindseligkeiten den schmerzlichen Verlust von Angehörigen erlebt. Alle, die in
dieser Weise leiden, haben mein Mitgefühl. Bitte seien Sie versichert, daß ich aller
palästinensischen Flüchtlinge auf der ganzen Welt, besonders derjenigen, die während
des jüngsten Konflikts im Gazastreifen ihre Häuser und geliebte Menschen verloren
haben, ständig in meinen Gebeten gedenke. Ich möchte auch die gute Arbeit vieler
kirchlicher Organisationen würdigen, die sich hier und in anderen Teilen der palästinensischen
Territorien der Flüchtlinge annehmen. Die Päpstliche Mission für Palästina, die vor
etwa sechzig Jahren gegründet wurde, um die katholische humanitäre Flüchtlingshilfe
zu koordinieren, setzt ihre dringend benötigte Arbeit zusammen mit anderen derartigen
Organisationen fort. In diesem Lager erinnert die Anwesenheit der Franziskanischen
Missionsschwestern vom Unbefleckten Herzen Marias an die charismatische Figur des
heiligen Franziskus, dieses großen Apostels des Friedens und der Versöhnung. Und so
möchte ich meine besondere Dankbarkeit für den enormen Beitrag bekunden, den verschiedene
Glieder der franziskanischen Familie durch ihren Einsatz für die Menschen in diesen
Ländern leisten, indem sie sich zu „Werkzeugen des Friedens“ machen, wie ein althergebrachtes,
dem Heiligen von Assisi zugeschriebenes Wort sagt. Werkzeuge des Friedens. Wie
sehr sehnen sich die Menschen in diesem Lager, in diesen Gebieten und in dieser ganzen
Region nach Frieden! In diesen Tagen ist dieses Sehnen besonders schmerzlich und intensiv,
da Sie der Ereignisse vom Mai 1948 und der Jahre des immer noch ungelösten Konflikts
gedenken, den diese Ereignisse nach sich zogen. Sie leben jetzt unter unsicheren und
schwierigen Bedingungen, mit begrenzten Beschäftigungsmöglichkeiten. Es ist verständlich,
daß Sie sich oft frustriert fühlen. Ihr legitimes Streben nach einem ständigen Zuhause,
nach einem unabhängigen palästinensischen Staat, bleibt unerfüllt. Statt dessen sehen
Sie sich – wie so viele in dieser Region und in der ganzen Welt – gefangen in einer
Spirale der Gewalt, von Angriff und Gegenangriff, Vergeltung und fortwährender Zerstörung.
Die ganze Welt sehnt sich danach, daß diese Spirale durchbrochen werde, sehnt den
Frieden herbei, der den ständigen Kämpfen ein Ende setzt. Über uns, die wir uns
an diesem Nachmittag hier versammeln, steht hoch aufragend ein krasses Mahnmal für
die Pattsituation, in welche die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern
geraten zu sein scheinen – die Mauer. In einer Welt, in der immer mehr Grenzen geöffnet
werden – für den Handel, für Reisen, für die Beweglichkeit der Menschen, für kulturellen
Austausch – ist es tragisch zu sehen, daß noch Mauern errichtet werden. Wie sehr sehnen
wir uns danach, die Früchte der viel schwierigeren Aufgabe zu sehen, Frieden zu schaffen!
Wie ernsthaft beten wir für ein Ende der Feindseligkeiten, welche den Bau dieser Mauer
verursacht haben! Auf beiden Seiten der Mauer bedarf es großen Mutes, wenn es darum
geht, Furcht und Mißtrauen zu überwinden sowie dem Trieb zu widerstehen, für Verlust
und Beleidigung Vergeltung zu üben. Es erfordert Großmut, nach Jahren des Kampfes
Versöhnung zu suchen. Aber die Geschichte hat gezeigt, daß es nur dann zum Frieden
kommt, wenn die Konfliktparteien gewillt sind, ihren Groll zu überwinden und auf gemeinsame
Ziele hin zusammenzuarbeiten, indem jede die Interessen und die Besorgnisse der anderen
ernst nimmt und sich bemüht, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Es muß die
Bereitschaft vorhanden sein, mutige und phantasievolle Initiativen zur Versöhnung
zu ergreifen: Wenn jeder auf vorgängige Zugeständnisse des anderen beharrt, kann das
Ergebnis nur eine Pattsituation sein. Der humanitären Hilfe, wie sie in diesem
Lager geleistet wird, kommt eine unentbehrliche Rolle zu, doch die langfristige Lösung
eines Konflikts, wie dieser ihn darstellt, kann nur politischer Art sein. Niemand
erwartet vom palästinensischen und vom israelischen Volk, allein dahin zu gelangen.
Die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ist unbedingt notwendig, und daher
richte ich einen neuerlichen Appell an alle Betroffenen, ihren Einfuß zugunsten einer
gerechten und dauerhaften Lösung geltend zu machen, und zwar unter Berücksichtigung
der legitimen Forderungen aller Parteien und in Anerkennung ihres Rechts auf ein Leben
in Frieden und Würde, in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht. Doch zugleich
können diplomatische Bemühungen nur zum Erfolg führen, wenn Palästinenser und Israelis
selber bereit sind, aus dem Kreis der Aggression auszubrechen. Mir kommen dabei noch
jene anderen schönen, dem heiligen Franziskus zugeschriebenen Worte in den Sinn: „…
daß ich Liebe bringe, wo man haßt, Verzeihung, wo man beleidigt, … Licht, wo Finsternis
regiert, Freude, wo Traurigkeit herrscht.“ Sie alle rufe ich erneut zu einem tiefgreifenden
Engagement auf, nach dem Vorbild des heiligen Franziskus und anderer großer Friedensstifter
den Frieden und die Gewaltlosigkeit zu fördern. Der Friede muß im Hause, in der Familie,
im Herzen seinen Anfang nehmen. Ich bete weiterhin darum, daß alle in den Konflikt
verwickelten Parteien in diesen Ländern den Mut und die Phantasie aufbringen, den
anspruchsvollen, aber unverzichtbaren Weg der Versöhnung zu beschreiten. Möge der
Friede in diesen Ländern eine neue Blütezeit erleben! Gott segne sein Volk mit Frieden!(Offizielle
Übersetzung des Heiligen Stuhles) (rv 13.05.2009 gs)