20 Minuten - „ein
historischer Moment“: Stefan von Kempis berichtet vom Besuch Benedikts XVI. an der
Klagemauer.
Kurz vor zehn Uhr Jerusalemer Zeit: das Gefolge des Papstes kommt
über eine Brücke vom Tempelberg direkt hinunter zur Klagemauer hinunter. Es ist heiß
vor der „Western Wall“; der Platz, wo sonst Juden beten und singen, ist geräumt und
wirkt auf einmal sehr leer, überall sieht man nur Journalisten und Sicherheitsbeamte.
Kardinal Bertone und der New Yorker Rabbiner Schneier unterhalten sich angeregt; einige
aus dem Papst-Gefolge wirken etwas nervös, alle tragen aus Respekt eine jüdische Kippa
auf dem Kopf; zwischen den dicken Steinquadern aus der Zeit des Herodes ruht sich
eine graue Taube aus. Benedikt kommt in einer schwarzen Limousine vorgefahren; er
steigt aus, begrüßt den Direktor und den Rabbiner dieses heiligen Orts, er lächelt
etwas verhalten, geht mit schnellen Schritten. Vor der Klagemauer sind zwei Stehpulte
aufgebaut; der Rabbiner der Klagemauer, Shmuel Rabinovich, trägt mit lauter Stimme
auf Hebräisch einen Psalm vor. Dann ist Benedikt dran; er setzt sich die Lesebrille
auf und fängt an, auf lateinisch zu lesen, seine Stimme ist leise, anfangs kaum zu
verstehen. Der Papst hat sich für einen Psalm entschieden, dessen Kernsatz heißt:
„Erbittet für Jerusalem Frieden“. Als er geendet hat, hört man das Klicken der Lesebrille,
als er sie aufs Pult zurücklegt. Benedikt XVI. geht zur Klagemauer – es ist fast
wie eine Heraufbeschwörung dieses magischen Moments, als vor neun Jahren der kranke
Johannes Paul diesen Weg ging. Der Papst schiebt einen großen, zusammengefalteten
Gebetszettel zwischen die Quader; das gelingt nicht gleich. Dann verharrt er ein paar
Minuten, mit gefalteten Händen, bewegungslos. Kein Kniefall, keine demonstrative Geste.
Über seinem Kopf flattern zwei Schwalben; die Stille wird nur mal von den Rufen einiger
Fotografen oder Sicherheitsbeamten unterbrochen. Der Papst dreht sich um, geht zurück,
die Hände immer noch gefaltet, und begrüßt einige jüdische Rabbiner. Schneier ist
da, ein Freund des Papstes, er spricht Benedikt auf deutsch an; ein paar Gesprächsfetzen
lassen sich verstehen, etwa: „dass wir weiterarbeiten“, und dann: „Ich bin mit Ihnen“.
Die Atmosphäre, bisher etwas konzentriert-gedrückt, lockert sich auf, Schneier macht
sogar einen Witz. „Ich bin der Oberrabbiner von Frankreich“, sagt einer der Anwesenden
zu Benedikt; ein anderer überreicht eine kleine Skulptur und ein dickes Buch über
die Klagemauer, Titel: „Die Steine unseres Erbes berühren“. Zwanzig Minuten ungefähr,
dann ist die Visite Benedikts an der Klagemauer vorüber. Ein historischer Moment,
gewiss – auch wenn jede spektakuläre Geste unterblieben ist. Nur 24 Stunden später
wird Benedikt wieder vor einer Mauer stehen – beim Besuch in Bethlehem nämlich. Und
das wird dann wirklich ein neues Bild sein, das es mit Johannes Paul noch nicht gegeben
hat – denn die Mauer von Bethlehem, eine Klagemauer ganz anderer Art, steht erst seit
ein paar Jahren.