Papstrede beim interreligiösen Treffen in Jerusalem
Am Montagabend ist Benedikt XVI. im „Notre Dame of Jerusalem Centre“ mit den Repräsentanten
verschiedener Organisationen für den interreligiösen Dialog zusammengetroffen. In
seiner Ansprache vor rund 500 Gästen aus verschiedenen Religionsgemeinschaften, darunter
hohe jüdische, muslimische, drusische, samaritanische und christliche Geistliche,
betonte Benedikt XVI. die wichtige Bedeutung der Religionen in der zeitgenössischen
Kultur.
Wir dokumentieren hier die Ansprache des Papstes:
Liebe
Mitbrüder im Bischofsamt! Sehr geehrte Religionsführer!
Liebe Freunde!
Es
ist mir eine große Freude, Ihnen an diesem Abend zu begegnen. Ich möchte dem Patriarchen,
Seiner Seligkeit Fouad Twal, für seinen herzlichen Willkommensgruß danken, den er
im Namen aller Anwesenden ausgesprochen hat. Ich erwidere seine freundlichen Worte
und grüße Sie alle sowie die Mitglieder der Gruppen und Organisationen, die Sie vertreten,
sehr herzlich.
„Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner
Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. ...
Da zog Abram weg ... Abram nahm seine Frau Sarai mit“ (Gen 12,1-5). Gottes Ruf, der
in die Welt hineinbricht und mit dem die Geschichte unserer Glaubenstradition beginnt,
erging mitten in das tägliche Leben der Menschen hinein. Und die Geschichte, die dann
folgte, war nicht von Isolierung bestimmt, sondern von der Begegnung mit der ägyptischen,
hethitischen, sumerischen, babylonischen, persischen und griechischen Kultur.
Der
Glaube wird immer innerhalb einer Kultur gelebt. Die Religionsgeschichte zeigt, daß
eine Gemeinschaft von Gläubigen nach und nach in Treue zu Gott ihren Weg geht und
dabei aus der Kultur, der sie begegnet, schöpft und diese prägt. Dieselbe Dynamik
findet sich in den einzelnen Gläubigen der großen monotheistischen Traditionen: Indem
wir – wie Abraham – auf Gottes Stimme hören, antworten wir auf seinen Ruf und ziehen
aus, wir suchen nach der Erfüllung seiner Verheißungen, streben danach, seinem Willen
zu gehorchen und ebnen einen Weg in unserer eigenen Kultur.
Heute, etwa viertausend
Jahre nach Abraham, findet die Begegnung der Religionen mit der Kultur nicht nur auf
geographischer Ebene statt. Bestimmte Aspekte der Globalisierung und insbesondere
die Welt des Internet haben eine weitgreifende virtuelle Kultur geschaffen, die im
Wert so unterschiedlich ist wie ihre zahllosen Erscheinungsformen. Zweifellos ist
viel erreicht worden, um ein Bewußtsein der Nähe und der Einheit innerhalb der weltweiten
Menschheitsfamilie zu schaffen. Zugleich kann jedoch die grenzenlose Anzahl der Portale,
durch die die Menschen so einfachen Zugang zu den verschiedensten Informationsquellen
haben, leicht zu einem Mittel immer größerer Zersplitterung werden: Die Einheit des
Wissens zerfällt, und die komplexen Fähigkeiten der Kritik, der Unterscheidungsfindung
und des Urteilsvermögens, die durch akademische und ethische Traditionen erlernt worden
sind, werden manchmal umgangen oder außer acht gelassen.
Dann stellt sich natürlich
die Frage, welchen Beitrag die Religion auf dem Hintergrund der raschen Globalisierung
zu den Kulturen der Welt leistet. Da viele schnell damit zur Hand sind, auf die offensichtlichen
Unterschiede zwischen den Religionen hinzuweisen, stehen wir als gläubige oder religiöse
Menschen vor der Herausforderung, deutlich unsere Gemeinsamkeiten zu verkünden.
Abrahams
erster Schritt im Glauben und unsere Schritte, die zur Synagoge, zur Kirche, zur Moschee
oder zum Tempel hinführen oder von dort herkommen, hinterlassen eine Spur in unserer
persönlichen menschlichen Geschichte, die sich sozusagen auf dem Weg zum ewigen Jerusalem
hin entfaltet (vgl. Offb 21,23). Ebenso verleiht jede Kultur durch die ihr innewohnende
Fähigkeit zu geben und zu empfangen der einen menschlichen Natur Ausdruck. Dennoch
kann die Kultur den Einzelnen niemals vollkommen zum Ausdruck bringen. Er oder sie
übersteigt die eigene Kultur auf der ständigen Suche nach etwas Höherem. Aus dieser
Perspektive heraus, liebe Freunde, sehen wir, daß eine Einheit möglich ist, die nicht
von der Gleichförmigkeit abhängt. Zwar können die Unterschiede, die Gegenstand des
interreligiösen Dialogs sind, uns manchmal als Hindernisse erscheinen, sie brauchen
aber nicht die gemeinsame Ehrfurcht und Achtung vor dem Universalen, dem Absoluten
und der Wahrheit zu überschatten, durch die religiöse Menschen überhaupt dazu gebracht
werden, das Gespräch miteinander zu suchen. In der Tat ist es gerade die gemeinsame
Überzeugung, daß diese transzendenten Wirklichkeiten ihre Quelle im Allmächtigen haben
– und Spuren von ihm in sich tragen –, die die Gläubigen voreinander, vor unseren
Organisationen, unserer Gesellschaft, unserer Welt hochhalten. Auf diese Weise bereichern
wir nicht nur die Kultur, sondern prägen sie: Ein Leben in Treue zur Religion ist
ein Widerhall von Gottes Gegenwart, die in unsere Welt hineinbricht, und läßt eine
Kultur entstehen, die sich nicht innerhalb zeitlicher oder räumlicher Grenzen definiert,
sondern vor allem von den Grundsätzen und durch das Handeln geprägt ist, die aus dem
Glauben kommen.
Religiöser Glaube setzt Wahrheit voraus. Wer glaubt, sucht
nach der Wahrheit und lebt aus ihr. Zwar ist das Mittel, durch das wir die Entdeckung
und Weitergabe der Wahrheit verstehen, teilweise von Religion zu Religion verschieden,
wir sollten uns aber nicht von unseren Bemühungen abhalten lassen, die Macht der Wahrheit
zu bezeugen. Gemeinsam können wir verkünden, daß Gott existiert und daß man ihn erkennen
kann, daß die Erde seine Schöpfung ist, daß wir seine Geschöpfe sind und daß er jeden
Menschen aufruft, so zu leben, daß er seinen Plan für die Welt achtet. Liebe Freunde,
wenn wir glauben, daß wir ein Urteils- und Unterscheidungskriterium besitzen, das
göttlichen Ursprungs ist und das für die ganze Menschheit gilt, dann dürfen wir nicht
müde werden, dafür zu sorgen, daß dieses Wissen im öffentlichen Leben zum Tragen kommt.
Die Wahrheit sollte allen angeboten werden; sie dient allen Gliedern der Gesellschaft.
Sie wirft Licht auf die Grundlage von Moral und Ethik und verleiht der Vernunft die
Kraft, ihre eigenen Grenzen zu übersteigen, um unsere tiefsten gemeinsamen Bestrebungen
zum Ausdruck zu bringen. Die Wahrheit ist weit davon entfernt, die Toleranz gegenüber
Unterschieden oder kultureller Pluralität zu gefährden. Vielmehr ermöglicht sie einen
Konsens und macht die öffentliche Diskussion rational, aufrichtig und verantwortungsbewußt;
sie öffnet dem Frieden das Tor. Wenn wir den Willen hegen, der Wahrheit gehorsam zu
sein, wird unser Vernunftbegriff und sein Anwendungsradius erweitert und ein echter
Dialog der Kulturen und Religionen ermöglicht, der heute so dringend notwendig ist.
Jeder
der hier Anwesenden weiß jedoch auch, daß man Gottes Stimme heute weniger deutlich
hört und daß die Vernunft in so vielen Fällen gegenüber dem Göttlichen taub geworden
ist. Dennoch herrscht in dieser „Leere“ keine Stille. Im Gegenteil, der Lärm egoistischer
Forderungen, leerer Versprechen und falscher Hoffnungen dringt so oft gerade dort
ein, wo Gott uns sucht. Gemeinsam können wir Räume schaffen – Oasen des Friedens und
der tiefen Reflexion –, wo man Gottes Stimme wieder hören kann, wo man seine Wahrheit
in der Allgemeingültigkeit der Vernunft entdecken kann, wo jeder einzelne ungeachtet
seiner Herkunft, ethnischen Zugehörigkeit, politischen Couleur oder seines religiösen
Glaubens als Person, als Mitmensch geachtet werden kann. In einer Zeit des unmittelbaren
Zugangs zur Information und sozialer Tendenzen, die eine Art Monokultur erzeugen,
stärkt eine tiefe Reflexion auf dem Hintergrund von Gottes Gegenwart die Vernunft.
Außerdem regt sie den schöpferischen Geist an, erleichtert die kritische Wertschätzung
kultureller Bräuche und schützt den universalen Wert der Religion.
Liebe Freunde,
die Einrichtungen und Gruppen, die Sie vertreten, widmen sich dem interreligiösen
Dialog und der Förderung kultureller Initiativen auf vielen verschiedenen Ebenen.
Von akademischen Einrichtungen – und hier möchte ich die hervorragenden Leistungen
der „Bethlehem University“ besonders erwähnen – bis hin zu Selbsthilfegruppen verwaister
Eltern, von Initiativen im Bereich von Musik und Kunst bis hin zum mutigen Vorbild
einfacher Mütter und Väter, von Gruppen, die sich dem offiziellen Dialog widmen, bis
hin zu karitativen Organisationen: Jeder von Ihnen zeigt täglich seinen Glauben, daß
unsere Pflicht vor Gott nicht nur im Gottesdienst Ausdruck findet, sondern auch in
unserer Liebe und Fürsorge gegenüber der Gesellschaft, der Kultur, unserer Welt und
gegenüber allen, die in diesem Land leben. Einige wollen uns glauben machen, daß unsere
Unterschiede zwangsläufig Anlaß zur Uneinigkeit geben und sie daher höchstens toleriert
werden können. Manche vertreten sogar die Ansicht, daß unsere Stimmen einfach zum
Schweigen gebracht werden sollten. Wir aber wissen, daß unsere Verschiedenheiten niemals
fälschlich als unvermeidlicher Grund für Reibereien oder Spannungen hingestellt werden
dürfen, weder unter uns selbst noch in der Gesellschaft im ganzen. Vielmehr geben
sie Menschen unterschiedlicher Religion eine wunderbare Gelegenheit, in tiefer gegenseitiger
Achtung, Wertschätzung und Anerkennung zusammenzuleben und einander auf Gottes Wegen
zu ermutigen. Mit Hilfe des Allmächtigen und von seiner Wahrheit erleuchtet mögen
Sie auch weiterhin mutig auf Ihrem Weg voranschreiten, indem sie all das achten, was
uns unterscheidet, und all das fördern, was uns vereint als Geschöpfe, die den Wunsch
haben, unseren Gemeinschaften und unserer Welt Hoffnung zu bringen. Möge Gott uns
auf diesem Weg leiten! (rv 12.05.2009 ad)