Naher Osten: „Exodus der Christen ist eine Katastrophe“
Der Exodus der Christen
aus einzelnen Ländern des Nahen Ostens ist eine „unglaubliche Katastrophe“ für die
gesamte Region. Das sagt der Salzburger Kirchenhistoriker und Patristiker Dietmar
Winkler. Vor allem die Lage der Christen im Irak gebe weiter Anlass zu großer Sorge,
sagte Winkler am Dienstag in Wien. So spielten die Christen im Irak wie auch in anderen
Ländern des Nahen Ostens eine zentrale Vermittlerrolle selbst zwischen rivalisierenden
muslimischen Gruppierungen. Der interreligiöse Dialog der Region basiere zum großen
Teil auf dem Engagement der Christen, so Winkler im Gespräch mit der Nachrichtenagentur
„Kathpress“. Außerdem stelle auch der christliche „brain drain“ - die Abwanderung
gut ausgebildeter Christen aus dem Nahen Osten - ein Problem dar. Die Fluchtbewegungen
bedeuten einen „Aderlass an Intelligenz und Professionalität“, so Winkler, da die
Christen zum großen Teil besser ausgebildet sind als die Muslime. Greifbar würden
die damit zusammenhängenden Probleme etwa an der christlich-maronitischen Heilig-Geist-Universität
Kaslik in der libanesischen Hauptstadt Beirut - oder an der traditionsreichen Sankt-Joseph-Universität
der Jesuiten, ebenfalls in Beirut. Wenn diese Universitäten geschlossen werden müssten,
würde dies auch die vielen Muslime treffen, die dort studieren, so Winkler.
In
der Türkei, in der nur die griechisch-orthodoxe Kirche und die armenisch-apostolische
Kirche offiziell anerkannt sind, stelle der Umgang mit den christlichen Minderheiten
einen Testfall für die EU-Tauglichkeit dar. Es sei „völlig unverständlich“, so Winkler,
warum die Türkei den „Aspekt der Multireligiosität nicht positiver bewertet“ und etwa
das Ökumenische Patriarchat rechtlich anerkennt. Hier habe die Türkei „sicherlich
noch Hausaufgaben zu erfüllen, wenn sie näher an Europa heranrücken möchte“, so Winkler.
„Durchaus positiv“ beurteilt Winkler in diesem Zusammenhang den Besuch von US-Präsident
Barack Obama in der Türkei. Auch wenn die Türkei bislang weitere offizielle Zeichen
etwa in Richtung einer Wiedereröffnung des theologischen Seminars auf Chalki schuldig
bleibe, gebe es doch auf inoffizieller Ebene vielversprechende Kontakte etwa zwischen
Armenien und der Türkei.
Theologisch könne die westliche Theologie vom orientalischen
Christentum durchaus vieles lernen, ist sich der Professor sicher. „Bei uns hat sich
mit der Verbindung von biblischem Glauben und griechischer Philosophie und Hellenismus
eine ganz spezifische Form des theologischen Denkens durchgesetzt, die man in der
östlichen Theologie so nicht kennt“, so Winkler. Vor allem die theologische Adaption
des Neuplatonismus habe in der Christologie zu einer Symbiose von Glaube und Vernunftdenken
geführt, die von der östlichen Tradition her kritisch befragt werden könne. Die östliche
Theologie betreibe Christologie stärker „von unten, vom Menschen Jesus her“, während
die lateinische Tradition Christus „von oben, vom logos her“ denke.
Dietmar
Winkler ist seit 2004 als einziger Laientheologe Mitglied der offiziellen Dialogkommission
der katholischen Kirche und der altorientalischen Kirchen (die sich nach dem Konzil
von Chalcedon im Jahr 451 von der allgemeinen Kirche getrennt hatten). Darüber hinaus
ist er Konsultor (Berater) des vatikanischen Einheitsrates.