Er wollte eigentlich
Pilot werden. Durch einen schweren Autounfall, der ihn vor gut 40 Jahren in den Rollstuhl
zwang, zweigte sein Lebensweg in eine andere Richtung ab. Nach dem Abitur studierte
Udo Reiter Germanistik, Geschichte und politische Wissenschaften an den Universitäten
München und Berlin und promovierte zum Doktor der Philosophie. Seine journalistische
Karriere begann er als Volontär beim Bayerischen Rundfunk, zwei Jahre lang war er
Vorsitzender der ARD und seit 1991 ist der Medienspezialist und Katholik Intendant
des Mitteldeutschen Rundfunks und Fernsehens MDR, dem drei Bundesländer unterstehen:
Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Er wird es bis zum Jahre 2015 bleiben.
Aldo
Parmeggiani im Gespräch im Udo Reiter: Herr Reiter, Amtsmüdigkeit oder dergleichen
ist für Sie anscheinend ein Fremdwort. Sie nehmen seit Jahrzehnten Spitzenpositionen
in der deutschen Medienwelt ein, sodass eine erste Frage lauten darf: worin besteht
eigentlich das Geheimnis für Ihre eher ungewöhnlich lange und erfolgreiche Laufbahn?
*Möglicherweise
darin, dass ich gar nicht beabsichtigt habe, Journalist zu werden, sondern eher zufällig
in dieses Metier gekommen bin. Ich habe ursprünglich ja einmal eine Pilotenprüfung
bei der Lufthansa gemacht. Nur durch einen Unfall bin ich dann von dieser Laufbahn
abgehalten worden und kam von da an in den Journalismus. Vielleicht konnte man mich
deswegen unter all den Journalisten besonders gut gebrauchen.
Sie sind gelernter
Journalist. Da ist die zweite Frage fast zwingend: Was ist für den Intendanten Udo
Reiter ein guter Journalist?
*Ich denke, das Geheimnis des guten Journalisten
liegt in seiner Unabhängigkeit. Man muss versuchen, dass man sich nicht zum Diener
bestimmter politischer oder wirtschaftlicher Interessengruppen machen lässt, sondern
dass man sich ein unabhängiges, freies Urteil bewahrt: das ist das 'A' und 'O' des
guten Journalismus.
Der Mitteldeutsche Rundfunk, den Sie seit 18 Jahren leiten,
gehört zu den Vorzeigeprogrammen im gesamtdeutschen Medienangebot. Das ist statistisch
erwiesen. Ist Ihr Sender eher informationsorientiert oder unterhaltungsorientiert?
*Wir
versuchen ein Vollprogramm anzubieten. Wir sind ja der einzige wirkliche ostdeutsche
Sender in der ARD und von daher gibt es bei unserem Publikum eine besondere Interessenslage.
Diese versuchen wir nun wirklich auf allen Gebieten - in der Unterhaltung, Politik,
Information bis zur Kultur - einigermaßen abzudecken.
Es heißt, Herr Reiter,
dass Kompetenz, Kultur und Kinder, jene drei K's sind, auf die Sie in Ihren Programmen
besonderen Wert legen. Da gibt es noch ein viertes K: nämlich Kirche. Welchen Stellenwert
nimmt dieses vierte 'K' in Ihren Programmen ein?
*Nach der Wiedervereinigung
hatten wir ja - was den Mitteldeutschen Rundfunk angeht - eine ganz spezielle Situation.
In unserem Sendegebiet hatten die christlichen Kirchen nur noch eine kleine Rolle
am Rande gespielt. Wir hatten ungefähr noch 20 Prozent Christen unter der Bevölkerung.
Da ist mir aufgefallen, dass es vor allem ein riesiges Informationsdefizit gibt. Wenn
man mit den Leuten hier gesprochen hat: die Leute wissen nicht, was Pfingsten bedeutet.
Sie kennen die biblische Geschichte nicht. Und jenseits von religiösen Überzeugungen
ist dies auch ein Stück abendländischer Kultur. Wir haben uns deswegen vorgenommen,
zuallererst einmal in dieser Richtung missionarisch tätig zu werden, dass wir die
christlichen Glaubensinhalte wieder unter die Leute bringen. Und von daher hat die
Kirche von Anfang her eine große Rolle gespielt in unseren Programmen.
Internet,
Online-Dienste, Chat, Podcast waren noch vor wenigen Jahren unbekannte Begriffe. Wie
geht die Entwicklung weiter? Welche medienstrategische Indikatoren stehen auf dem
Zukunftsprogramm eines großen Senders? Wie wird unsere Rundfunk- und Fernsehwelt in
10 bis 15 Jahren aussehen? Haben Sie da Visionen?
*Also, wie sie wirklich
aussehen werden in 10 bis 15 Jahren, kann heute seriöserweise niemand sagen. Klar
ist, dass wir in einer Umbruchphase leben und dass es geradezu eine Medienrevolution
ist, was zur Zeit vor sich geht. Dabei geht es dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk
in erster Linie um Inhalte. Wir sind angetreten, um bestimmte Inhalte für die Meinungsbildung
dieser Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Verteilungswege sind dabei sekundär.
Als es nur den Hörfunk gab, haben wir dies über Hörfunkwellen gemacht, als das Fernsehen
kam, haben wir es über das Fernsehen gemacht, und wenn heute und in Zukunft ein immer
größerer Teil der Bevölkerung seine Informationen über das Internet bezieht, dann
müssen wir diese Inhalte, die uns am Herzen liegen, eben über das Internet anbieten.
Das ist sozusagen die philosophische Grundlage. Ganz konkret bedeutet das, dass wir
neben den normalen und linearen Hörfunk- und Fernsehprogrammen verstärkt unsere Inhalte
auch auf diese neue Weise zur Verfügung stellen. Das wird der neue Umbruch sein, der
uns jetzt bevorsteht.
Wir leben im Informationszeitalter und fragen einen ausgewiesenen
Fachmann: Wird der Einfluss der Medien auf Politik und Gesellschaft in Zukunft eher
wachsen oder sich verringern?
*Das ist eine ganz schwierige Frage, weil ja
nicht einmal ganz klar ist, welchen Einfluss die Medien denn haben. Ich habe den Eindruck,
dass das manchmal auch überschätzt wird. Nach meiner Einschätzung sind es vor allem
Trends, die ohnehin in der Gesellschaft vorhanden sind, die dann durch die Medien
aufgegriffen und verstärkt werden. Insofern sind die Medien jeweils auch ein Kind
ihrer Gesellschaft. Und wenn es in Zukunft noch mehr Medienangebote geben wird, als
bisher schon, dann bedeutet das nicht automatisch, dass deswegen die Leute auch besser
informiert sind. Das ist immer die Gefahr, wenn eine solche Flut von Informationen
über die Leute hinweggeht. Dass man zwar alles Mögliche hört, aber nicht mehr einschätzen
und beurteilen kann. Also, paradiesische Zeiten verspreche ich mir von diesem Blickwinkel
aus nicht von der Zukunft.
Es ist allgemeine Meinung, dass wir in einer Zeit
leben, in der viele Grundwerte in Frage gestellt werden: Moral, Familie, Ethik, Sitte.
Was können Sie als Intendant tun, um diesem vermeintlichen oder effektiven Verfall
entgegen zu wirken?
*Für den öffentlichen Rundfunk gehört dies zu den Grundaufgaben.
Wir sind ein Teil der christlich-abendländisch-demokratischen Gesellschaft und als
solche nicht wertneutral, sondern dieser Gesellschaft verpflichtet. Das steht ja auch
in den einfachen Rundfunkgesetzen, dass wir auf der Basis dieser Werte unsere Arbeit
tun. Deswegen ist es notwendig und richtig, dass wir das Programm auch daraufhin ausrichten.
Ich denke tatsächlich, dass wir natürlich nicht für eine bestimmte Weltanschauung
missionieren können, aber dass wir Grundwerten verpflichtet sind und dass man dies
unseren Programmen auch anmerkt. Und darauf lege ich Wert.
Herr Reiter, Sie
sind Katholik. Wir interessieren uns besonders für Ihre Einstellung zum christlichen
Glauben und zur Kirche. Können Sie uns dazu etwas sagen?
*Das will ich gerne
versuchen: es ist ja so, dass der christliche Glaube, die Religion überhaupt verschiedene
Ebenen haben. Das fängt an beim Glauben im Leben des Einzelnen, geht dann über die
Funktion der Religion über die angesprochene wertstiftende, sinnstiftende Funktion
innerhalb einer Gesellschaft und geht bis hin, im Fall des Christentums ganz deutlich,
zu ihrer kulturellen und historischen Dimension. Ohne das Christentum gäbe es das
Abendland und die weltliche Zivilisation ja nicht. Ich räume gerne ein, dass bei mir
persönlich diese dritte Funktion, diese kulturhistorische Dimension eine große Rolle
spielt. Ich bin gelernter Mittelalter-Historiker, und von daher hat man natürlich
einen besonderen Blick für die Rolle der Kirche. Ich muss sagen, dass sie mir lieb
und wert ist, speziell auch in dieser Funktion, und dass ich auch deswegen gerne Katholik
und gerne Christ bin, weil ich diese große Tradition spüre und weil ich gerne in ihr
lebe.
Durch einen schrecklichen Unfall sind Sie querschnittsgelähmt und an
den Rollstuhl gebunden. Für einen jungen Menschen - Sie waren damals 22 Jahre alt
- besonders schlimm. Von dem eingangs erwähnten Wunsch Pilot zu werden, konnte plötzlich
nicht mehr die Rede sein. Wie haben Sie diesen Einschnitt in Ihrem Leben seelisch
verkraftet?
*Es war damals - Sie sagen es zu Recht - sicher eine große Krise.
Gerade für einen 22-Jährigen, der voller Hoffnung in das Leben geht, schon ein starker
Einbruch. Es wäre auch völlig töricht, wenn man das nicht zugeben würde, dass einem
dies bis in die Grundlagen seiner Existenz erschüttert. Meine Lebensfreude und auch
meine Lust weiter zu leben, waren damals auf dem Nullpunkt angelangt. Ich hatte durchaus
auch die Überlegung, die wahrscheinlich jeder in dieser Situation hat, ob es nicht
besser wäre, dass die ganze Geschichte wäre vorbei. Wenn man dann über diese Krise
einmal wegkommt, dann merkt man plötzlich, dass das Leben eigentlich nicht an solchen
Einzelheiten wie Spazierengehen oder Fußballspielen hängt, sondern dass es daneben
auch noch andere Dinge gibt, die genau so schön sind und das Leben genauso wertvoll
machen können. Und ich habe vielleicht ein glückliches Naturell. Jedenfalls ist es
mir dann nach einiger Zeit geglückt, diese anderen Dinge stärker zu sehen und von
daher ein rundum erfülltes Leben inzwischen über 40 Jahre auch im Rollstuhl zu absolvieren.
Sie
haben einmal gesagt, Sie seien liberal und konservativ zugleich: Könnten Sie diesen
mir beneidenswert erscheinenden Sachverhalt näher erläutern?
*Ich glaube Goethe
hat einmal gesagt, jeder vernünftige Mensch ist ein konservativer Liberaler. Weil
diese beiden Dinge eine große Rolle gerade in unserer ganzen Tradition spielen. Auf
der einen Seite: Wie will man in einer christlichen Zivilisation, die 2000 Jahre alt
ist und glänzende Ergebnisse hervorgebracht hat, nicht konservativ sein, im Sinne,
dass man diese annimmt und zu bewahren versucht. Auf der anderer Seite: Wenn das allein
die Welthaltung ist, dann gerät das leicht in etwas Engherziges, Engstirniges, Fanatisches
- und deswegen, denke ich, gehört diese andere Seite, diese Aufgeschlossenheit und
auch Liberalität gegenüber neuen Dingen oder anderer Dingen, mit dazu. Beides zusammen,
finde ich, macht ein vernünftiges Konzept, das mir immer sehr sympathisch war und
das ich zumindest versucht habe, einigermaßen einzuhalten.
Vor 20 Jahren geschah
das politische Wunder der Wiedervereinigung Deutschlands. Wann glauben Sie wird der
Prozess der geistigen Wiedervereinigung abgeschlossen sein?
*Ich habe den
Eindruck, dass das länger dauert, als wir uns damals alle gedacht haben. Diese vierzig
Jahre völlig unterschiedlicher Sozialisation, unterschiedlicher Wertordnung und unterschiedlicher
Kultur haben sich doch tief in die Seelen der Menschen eingeprägt. Es ist ein schwieriger
Prozess, wieder zueinander zu kommen, selbst auf die nächste Generation färbt das
ab. Das wird noch länger dauern.
Zum Abschluss: Pioniergeist, politisches Gespür,
Kompetenz und Unabhängigkeit gehören - wie wir aus unserem heutigen Gespräch entnehmen
können - zu den Charaktereigenschaften Ihrer Persönlichkeit. Das ist eigentlich schon
eine ganze Menge. Dennoch die Frage: welche weiteren Merkmale würden Sie nennen, um
Ihr heutiges Porträt in wenigen Sekunden zu vollenden?
*Das ist - wenn man
dies für sich selber machen muss - immer eine schwierige Sache! Ich denke, abseits
von dem was Sie genannt haben und von handwerklichen Fähigkeiten, die man natürlich
auch braucht, gibt es vielleicht zwei Eigenschaften, die meine Laufbahn doch stark
beeinflusst haben: Auf die kommt man vielleicht gar nicht auf den ersten Blick, weil
sie so banal aussehen, aber ich habe den Eindruck, dass sie eine große Rolle spielen.
Das eine ist, dass man Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden kann. Man glaubt gar
nicht, wie viele Leute, die an sich sonst sehr begabt sind, dies nicht können und
sich dann verzetteln in irgendwelchen Dingen, um die es letztlich gar nicht geht.
Und das zweite ist, dass man das hat, was man auf bayerisch „Schneid“ nennt, also,
dass man sich manchmal was traut gegen den herrschenden Meinungswind zu sagen und
zu vertreten. Und wenn die beiden Sachen zusammenkommen, dann haben Sie wahrscheinlich
eine der Grundlagen meiner Laufbahn genannt.