Der Jesuitenpater Wendelin Köster begleitet im deutschsprachigen Programm von Radio
Vatikan durch die Fastenzeit 2009. Der 69-Jährige stammt aus dem Emsland, war zunächst
Jugendseelsorger, dann Leiter des Priesterseminars in Frankfurt/St. Georgen und anschließend
mehr als zehn Jahre lang deutschsprachiger Berater des Generaloberen der Jesuiten
in Rom. Zweimal pro Woche hören und lesen Sie hier seine Radioexerzitien. (rv)
Für
Mittwoch in der Karwoche (08.04.)
Liebe Hörerinnen und Hörer!
In
den Radio-Exerzitien stehen wir nun mitten in der Karwoche. Dabei stoßen wir auf einen
der zwölf Apostel, der den Beinamen der Verräter erhalten hat, Judas Iskariot.
In allen Evangelien kommt der Schock dieses Verrates zur Sprache. In unserer Betrachtung
folgen wir der Darstellung des Matthäus. Sie wird uns von der Liturgie vorgegeben
(Mt 26,14-25). Lassen Sie sich nicht davon abhalten, den Text selbst bedächtig zu
lesen. Stellen Sie sich vor, Sie seien Augen- und Ohrenzeuge des Geschehens, so dass
Sie die Atmosphäre der Verhandlung des Judas mit den Hohenpriestern und im Abendmahlssaal
ein wenig nachfühlen können.
Wir gehen direkt zum Saal, wo Jesus das Mahl mit
den Zwölf hält. Was hier geschieht, kommt plötzlich und doch nicht plötzlich. Dreimal
hatte Jesus seine Jünger schon darauf hingewiesen, dass er in Jerusalem den Tod erleiden
werde, und zwar durch die führenden Persönlichkeiten seines Volkes; er hatte auch
die Art seines Todes vorhergesagt. Doch sprach er auch von seiner Auferstehung drei
Tage nach dem Tot. Die Jünger hatten all dies gehört, aber nicht wirklich verstanden,
bis jetzt nicht. Daher sind sie nicht darauf vorbereitet, dass das Vorhergesagte eintritt.
Die Jünger sind fassungslos: Einer aus ihrem Kreis, einer von den zwölf Säulen,
von Jesus selbst ausgesucht, geschult und mit Aufträgen versehen, bringt ihn zu Fall.
Freilich, sie mussten zugeben, dass der Herr seine liebe Mühe mit ihnen hatte. Wie
schwer hatten sie sich getan, den Meister zu begreifen. Noch immer möchten sie oft
anders als er. Aber dass einer von ihnen mit den Feinden ihres Meisters und Herrn
gemeinsame Sache machen würde – nein!
„Warum hat Judas das getan?“ War es
simple Geldgier des Kassenwarts? War es Verachtung für einen Versager, so dass ihm
Jesus nur dreißig Silberlinge wert war – eine Summe, die man als Schadensersatz zahlen
musste, wenn man am Tod eines Sklaven Schuld war? Oder war ihm das Geld eigentlich
gleichgültig? Was er wirklich wollte, war eine Probe: Entweder zeigt Jesus jetzt,
dass er der unbesiegbare Messias Israels ist, oder nicht? Wenn nein, dann soll er
sterben? Hat es etwas zu bedeuten, dass dem Judas die Anrede Herr, Kyrie nicht
über die Lippen bekommt? Die anderen elf reden ihn mit diesem Titel an, er sagt Rabbi
zu ihm, Lehrer, und so reden ihn auch seine Feinde an. Was kann man daraus schließen?
All diese Fragen zeigen: über das Motiv des Judas herrscht Unklarheit.
Klar
ist nur, dass wir Menschen das Böse nicht bis auf seinen Grund hin durchschauen können.
Mit unserem Analysieren und Kombinieren kommen wir an kein Ende. So war es damals,
so ist es heute, so wird es auch in Zukunft sein. Wir lösen das Geheimnis des Bösen
nicht auf.
Und noch etwas anderes ist klar: Jesus selbst gibt keine Analyse
des Bösen; er scheint daran nicht interessiert zu sein. Zwar hat er die Hohenpriester,
Schriftgelehrten und Ältesten als schlechte Hirten gebrandmarkt, weil sie das Volk
nicht auf den Wegen Gottes führen; sie werden dafür den vollen Zorn Gottes zu spüren
bekommen. Zwar hat Jesus den schauerlichen Satz gesprochen: Wehe dem Menschen,
durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren
wäre - im Beisein des Judas und auf ihn gemünzt. Dieser Satz ist aber, wie ich
finde, kein Richterspruch, keine Verurteilung zur Hölle, sondern die Feststellung,
dass Judas den Sinn seines Lebens verfehlt hat. Sein Verrat ist eine Tat, die sozusagen
einen Rückstoß hat, der ihn selbst zu Fall bringt.
Nachdem Jesus das Wehe-Wort
über den Verräter gesprochen hat, stellt Judas die Frage: Bin ich es etwa, Rabbi?
Ich gestehe, ich möchte gern wissen, wie seine Stimme dabei geklungen hat. Klang sie
hart und entschlossen? Oder schwang eine Unsicherheit mit? Ich weiß es nicht. Keiner
weiß es. Es muss uns die Antwort Jesu genügen: Du sagst es. Jesus selbst
ist nicht an einer Aufklärung über die Ursachen des Bösen interessiert ist. Ihn interessiert
die Überwindung des Bösen durch das Gute. Er will den, der Böses tut, so anrühren,
dass er sich bekehrt. Deshalb geht er den Weg des Leidens, der ein Weg der direkten
Konfrontation mit dem Bösen ist. Aus einer solchen Konfrontation geht aber nur Gott
als Sieger hervor. Das bezeugt die heilige Schrift,so dass Jesus sagen kann: Der
Menschensohn muss .... seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt. Wer ihn
daran hindern will, denkt typisch menschlich, nicht wie Gott. Wir erinnern wir uns
daran, dass Petrus einige Zeit zuvor einen solchen Versuch unternommen hat. Dieser
Versuch hat ihm die Anrede Satan eingebracht.
Es gibt ein göttliches
Muß, eine Art Selbstverpflichtung Gottes, alles zu tun, um die Menschheit und jeden
einzelnen Menschen nicht in der Knechtschaft der Sünde und unter der Herrschaft des
Todes zu lassen. Gott hält Wort. Das ist der Grund, weshalb das handelnde Wort Gottes,
Jesus Christus, sich nicht aufhalten lässt, nicht durch Petrus, nicht durch Judas
und auch nicht durch die Hohenpriester. Gott weiß, was er will und wie er es zu tun
hat.
Wenn es möglich wäre, möchte ich ein Zwiegespräch mit Judas halten.
Ich hätte Fragen, die nur er mir beantworten könnte. Aber wie komme ich an ihn heran?
Ich versuche es über Jesus, seinen Meister und Herrn. Wenn einer noch Verbindung zu
Judas hat, dann er. Zunächst würde ich den Herrn fragen, ob er darüber verwundert
sei, dass so viele Menschen sich immer wieder mit Judas beschäftigen. Er antwortet:
„Nein, das wundert mich nicht. Dieser Mensch ist wie ein Stachel im Fleisch der Menschheit.
Er steht für die Frage: Warum gibt es das Böse, warum gibt es die Sünde, warum gibt
es den Tod? Aber auch ich, sein Meister und Herr, bin ein Stachel im Fleisch der Menschheit.
Denn ich stehe für Versöhnung in Gerechtigkeit. Ich trauere um ihn, weil ich ihn liebe;
und weil ich ihn liebe, kann ich ihn nicht hassen.“
Nun versuche ich, in
ein Kolloquium mit den elf anderen Aposteln einzutreten. Alle haben später
ihr Leben für Christus hingegeben. In ihre Erinnerung an das Letzte Abendmahl hat
sich der Moment tief eingeprägt, als Jesus das Essen unterbrach und sagte: Amen,
ich sage euch, einer von euch wird mich verraten und ausliefern. Das geschah,
als er Judas die Schüssel mit dem süßen Mus reichte und beide daraus etwas nahmen.
Dieser Satz schlug ein wie eine Bombe. Zuerst atemlose Stille, dann das bange Fragen:
Bin ich es etwa, Herr? Jeder fragte ihn, einer nach dem anderen. Aber der Herr
sagte nichts. „Er schaute uns nur an mit diesem besonderen Blick, der das Herz des
Menschen kennt und sich dennoch nicht erschrickt über das, was er darin sieht. Aber
dann gab er doch eine Antwort. Er sagte: Der, der die Hand mit mir in die Schüssel
getaucht hat, wird mich verraten. Sollte es wirklich Judas sein? Wir konnten es
kaum glauben. Judas selbst löste die Zweifel. Mag es dreist oder verlegen gewesen
sein, er fragte jedenfalls laut und deutlich: Bin ich es etwa, Rabbi? Und der
Herrn antwortete ihm: Du sagst es. Der Herr blieb ganz ruhig und gefasst. Uns
hatte es die Sprache verschlagen. Keiner versuchte, sich des Judas zu bemächtigen.
Jesus erwies sich als Herr des Geschehens. Er ging voran, und wir folgten ihm, nicht
umgekehrt. Aber das Wir der Zwölf war kleiner geworden. Einer war nicht mehr dabei.“
Ich habe schweigend zugehört, was die Elf berichteten. Wenn ich nun das Vaterunser
bete, bete ich es zusammen mit Jesus und den elf Aposteln. Ich werde dabei Judas nicht
zu vergessen. (P. Wendelin Köster SJ)