Der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, hat am Mittwoch auf der Frühjahrs-Vollversammlung
der Deutschen Bischofskonferenz ein Dokument über die kirchliche Haltung zur Finanz-
und Wirtschaftskrise vorgelegt. Wir dokumentieren es hier im vollen Wortlaut. Quelle
ist das Pressebüro der Deutschen Bischofskonferenz.
Erzbischof Dr. Reinhard
Marx, Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, anlässlich
des Studienhalbtags der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz
zur Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise Schlussfolgerungen: Eckpunkte
einer kirchlichen Positionierung
Der heutige Vormittag hat uns einen Einblick
in die Ursachen und die Komplexität der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise gegeben.
Grundlegende ordnungspolitische und sozialethische Aspekte wurden dargelegt und mögliche
Konsequenzen für die Zukunft entwickelt. Am Ende des Studienhalbtages stellt sich
Frage nach dem kirchlichen Sprechen und Handeln in der Krise: Muss sich die Kirche
nicht selbst bewusst werden, auf welchen Schatz sie mit der Katholischen Soziallehre
und ihrer einmaligen Tradition sozialethischer Verkündigung zurückgreifen kann? Das
Erbe der Katholischen Soziallehre ist insofern auch eine Herausforderung an uns selbst.
Die große Linie der Sozialenzykliken hat sich bewährt und besitzt gerade aus heutiger
Perspektive eine geradezu zeitlose Gültigkeit. Worauf kommt es jetzt also an?
Im Folgenden will ich versuchen, mit Blick auf die Ergebnisse des heutigen Tages erste
Eckpunkte einer kirchlichen Bewertung der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise zu formulieren.
1. Ausgang unserer Bewertung ist das christliche Verständnis vom Menschen:
Im Mittelpunkt steht immer der Mensch. Unser Blick richtet sich deshalb zunächst auf
all diejenigen, die national und international am meisten von der derzeitigen Krise
betroffen sind. Denn eine solche Krise ist nicht nur eine Frage der Stabilität und
Effizienz eines wirtschaftlichen Systems, etwa im Zuge von Wachstumseinbußen oder
einem gefährdeten Finanzmarkt, sondern sie ist insbesondere eine Frage der Gerechtigkeit.
Uns bewegt die Krise nicht aus wirtschaftstheoretischem Interesse, sondern weil es
uns um die Menschen geht – die Menschen, die in Deutschland besonders von der Krise
betroffen sind, und die Menschen, die anderswo wegen der Krise hungern! Deshalb müssen
wir uns fragen, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um zukünftige Krisen möglichst
zu vermeiden. Natürlich ist das Risiko von Finanz- und Wirtschaftskrisen nicht generell
auszuschließen, aber soziale Gerechtigkeit und Gemeinwohl verpflichten uns, alles
zu tun, um die Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit von Finanzkrisen zu reduzieren.
2.
Eine grundlegende Voraussetzung der Prävention ist allerdings, die Ursachen und den
Verlauf der Finanzmarktkrise zu verstehen. Die Ursachen sind vielfältig: die Verselbständigung
von Finanzmarktprodukten, eine fehlerhafte Geschäftspolitik und zu große Risikobereitschaft
von Banken, eine unzureichende staatliche Aufsicht, falsche politische Anreize und
staatliche Geldpolitik sowie nicht zuletzt auch individuelles Versagen, das sich unter
anderem in überhöhten Renditeerwartungen niedergeschlagen hat. Daneben hat aber auch
das Zusammentreffen an sich guter Ideen zu Fehlentwicklungen geführt, wie etwa die
Verbindung von Wohnungseigentumspolitik und laxer Kreditvergabe in den USA oder aber
die leistungsorientierte Entlohnung, die erst in Verbindung mit kurzfristigen Gewinnerwartungen
zu schlechten Ergebnissen geführt hat. Auch wenn wir das ganze Ausmaß noch nicht
absehen können, wissen wir: Es gibt eine Krise im System! Es handelt sich dabei auch
um eine moralische Krise: Freiheit, Verantwortung und Ordnung sind aus dem Gleichgewicht
geraten. Keiner von uns will deshalb ein neues System, aber wir brauchen eine Erneuerung
im Sinne einer Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft.
3. Auf den internationalen
Finanzmärkten bestehen strukturelle Schwächen und Defizite, die einer dringenden Reform
und Neuordnung bedürfen. Es ist nicht Aufgabe der Bischöfe, konkrete Reformvorschläge
zu machen, dennoch seien einige Felder kurz benannt, auf denen Handlungsbedarf besteht:
Die Weiterentwicklung der Bankenregulierung ist eine drängende Aufgabe.
Hierbei geht es vor allem um eine effiziente Bankenaufsicht, die Finanzmarktprodukte
und Finanzinstitute wirkungsvoll überwacht. Löcher in der Regulierung müssen erkannt,
analysiert und geschlossen werden; dazu gibt es geeignete Instrumente, die auch angewandt
werden müssen. Aufgabe der Bankenregulierung ist es, die Stabilität und Funktionsfähigkeit
des Finanzmarktes zu sichern; eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist die Solvenz
der Banken. Daher muss dafür Sorge getragen werden, dass die Risiken der Finanzinstitute
mit angemessenem Eigenkapital unterlegt sind. Dies zu umgehen, darf nicht mehr möglich
sein.
Sicher gehört zur Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes
die Erwartung, dass beim Zusammenbruch einer Bank letzten Endes der Staat einspringt
und die Einlagen zu einem gewissen Maß sichert. Doch darf diese Erwartungshaltung
nicht dazu führen, dass Risiken ungeniert eingegangen werden können und die Idee der
Haftung an Bedeutung verliert, weil im Zweifelsfall andere für den Schaden aufkommen.
Eine weitere Fehlentwicklung waren überhöhte und zum Teil unrealistische Renditeerwartungen,
die vor allem auf eine unzureichende Abwägung von Ertrag und Risiko zurückgehen. Wie
mehrfach angeklungen darf trotz aller Kritik nicht vergessen werden, dass ein gesundes
Gewinnstreben die Grundlage einer funktionierenden Wirtschaft ist. Doch ist auch der
Gewinn einer gewissen Ordnung verpflichtet. Gewinn um jeden Preis trägt nicht über
den Tag hinaus und vernachlässigt die Perspektive langfristigen, zukunftsfähigen Handelns.
• Auch die Gehaltstrukturen der Manager scheinen reformbedürftig. Bei Bonuszahlungen
werden leistungsorientierte Zulagen vereinbart, die wohl weniger am langfristigen
Erfolg orientiert, sondern primär auf Quartalsberichte und kurzfristige Gewinne fixiert
sind, die sich dann oftmals nur durch eine exzessive, aber verborgene Risikoübernahme
maximieren lassen. Für die Zukunft müssen Leistungsbewertungen und Vergütungssysteme
mit Blick auf ihre Anreizstrukturen neu überdacht werden.
• Außerdem scheint
ein kritischer Blick auf die Geld- und Zinspolitik der Notenbanken erforderlich. Lange
Zeit galt die Geldpolitik der US Notenbank als vorbildlich, mit billigem Geld den
Konsum und einen scheinbaren Wohlstand zu fördern, tatsächlich wurde jedoch über die
Verhältnisse gelebt, wie sich jetzt zeigt. Es wurde dabei außer Acht gelassen, dass
es Aufgabe der Notenbanken ist, für Geldstabilität zu sorgen. Gerade im europäischen
und internationalen Rahmen muss an dieser Position festgehalten werden.
4.
Neben diesen sehr konkreten Aspekten zur Neuordnung der Finanzmärkte ist aber auch
eine Rückbesinnung auf grundlegende ordnungspolitische und sozialethische Überlegungen
erforderlich. In Krisenzeiten wird der Ruf nach einem starken Staat immer lauter.
Dabei dürfen aber die Grenzen des Staates und der Wert einer freiheitlichen sozialen
Marktordnung nicht übersehen werden. Der Staat muss einen Ordnungsrahmen setzen, dieser
allein reicht aber nicht aus. Schon im gemeinsamen Text der Deutschen Bischofskonferenz
und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Demokratie braucht Tugenden“
haben wir festgestellt: „Die Vorstellung, in einer Ordnung der Freiheit könne jeder
ohne Rücksicht auf das Ganze seinen Interessen nachgehen, weil die Regeln aus eigener
Kraft im Stande seien, einen vernünftigen Ausgleich zu bewirken, ist zwar weit verbreitet
[...]. Aber sie ist illusionär. Freiheitliche Institutionen, so klug sie auch entworfen
sein mögen, können nicht aus sich heraus das notwendige Minimum an Gemeinwohlorientierung
[...] gewährleisten.“ (S. 16) Mit der Freiheit muss persönliche Verantwortung korrespondieren.
Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft verknüpft beides untrennbar miteinander und
verpflichtet so zur Ausbildung von Werten und Grundhaltungen. Gerade dies ist in letzter
Zeit zu kurz gekommen! Nicht nur Demokratie, auch Soziale Marktwirtschaft braucht
Tugenden!
5. Damit stehen wir aber auch in Zukunft fest auf dem Fundament
der Sozialen Marktwirtschaft, weil es ihr gelingt, wirtschaftlichen Erfolg mit sozialem
Ausgleich zu verbinden und der Freiheit eine Ordnung zu geben. Allerdings zeigen die
Erfahrungen der Krise, dass die international agierende Finanzwirtschaft der nationalen
Ordnungspolitik immer mehr entwächst und das globalisierte Wirtschaftssystem ebenfalls
einen ordnenden Rahmen braucht. Es besteht jetzt die Notwendigkeit, im Sinne der Sozialen
Marktwirtschaft Einfluss auf die Ausgestaltung der internationalen Ordnung zu nehmen.
Dabei müssen wir auch die außerökonomischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft
im Blick haben: Das christliche Verständnis vom Menschen und die Idee der Demokratie
sind der geistige Nährboden, auf dem sich die Soziale Marktwirtschaft entwickelt hat.
Gerade deshalb könnte die Katholische Soziallehre Maßstab für die Gestaltung einer
Weltwirtschaftsordnung sein. Europa, aber auch die transatlantische Wertegemeinschaft,
müssen auf diesem Weg eine Vorreiterrolle spielen.
6. Neben der Neuordnung
der Finanzmärkte kommt es in Zukunft aber auch darauf an, den Auswirkungen der Krise
entgegenzuwirken. Das rasche Eingreifen der Bundesregierung und der Staats- und Regierungschefs
der EU sowie die Einberufung des Finanzmarktgipfels der G20-Staaten im November 2008
haben gezeigt, dass in einer Situation, in der ein Kollaps der Finanzwirtschaft drohte,
schnelle und entschlossene Maßnahmen dringend notwendig waren. Doch stellt sich nach
einer ersten Stabilisierung des Systems die Frage: Wie soll es weitergehen? Wir müssen
jetzt Lösungen entwickeln, die langfristig tragfähig sind. Die Krise macht ja unsere
bisherigen wirtschafts- und sozialpolitischen Überlegungen nicht alle hinfällig. Bereits
eingeschlagene und bewährte Wege dürfen jetzt nicht vorschnell über Bord geworfen
werden. Ordnungspolitische Vernunft und sozialethische Ziele dürfen nicht unter die
Räder der Erwartungen kommen, denen die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft
derzeit gegenüber stehen. Gerade in der jetzigen Situation wird die Gefahr der Dominanz
partikularer Interessen erneut virulent, auf die wir bereits mit dem Impulstext „Das
Soziale neu denken“ hingewiesen haben. Dies gilt national mit Blick auf große Konzerne
im Gegensatz zu kleinen und mittelständischen Unternehmen, auf internationaler Ebene
vor allem im Hinblick auf einen zunehmenden Protektionismus, mit dem Schwellen- und
Transformationsländern zurückgedrängt und damit die positiven Effekte der Globalisierung
untergraben werden. Auch in Europa darf der Protektionismus die grundlegenden Errungenschaften
des Binnenmarktes nicht aufs Spiel setzen.
7. Bisher steht bei allen Maßnahmen
primär die Krisenbewältigung im Vordergrund. Angesichts der Schuldenberge, die im
Zuge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise immens erhöht wurden, stellt sich aber
auch die Frage, wie diese Verschuldung wieder abgebaut werden soll. Eine offene Diskussion
unter den Aspekten der Generationen- und Beteiligungsgerechtigkeit ist jedoch dringend
erforderlich, um geeignete Kriterien der Lastenverteilung zu entwickeln. Es ist zu
vermeiden, dass die Verschuldungsfrage über eine Inflation mit allen damit verbundenen
sozialen Verwerfungen gelöst wird. Darüber hinaus dürfen auch die großen Herausforderungen
des 21. Jahrhunderts – Ernährungssicherheit, Armutsbekämpfung und Klimawandel –, die
sich in besonderem Maße auf die Armen der Welt auswirken, nicht aus dem Blick geraten.
Wir müssen jetzt Konsequenzen ziehen, die Krise als Chance begreifen und als
Lernort nutzen: Es reicht nicht aus, die Krise zu überwintern und danach weiterzumachen
wie bisher. Wir müssen die Wirtschafts- und Finanzmärkte neu ordnen und Verantwortung
zur Leitwährung machen! In der aktuellen Situation sind wir gefordert, der Gesellschaft
Richtschnur zu geben! Wir müssen einerseits darauf drängen, dass die notwendigen Reformen
vorangetrieben werden, wir müssen aber auch die Verantwortung der Akteure einfordern!
Selten gab es in der Gesellschaft so fruchtbaren Boden für christliche Werte und Grundhaltungen!
Kommen wir als Kirche also unserer Verpflichtung nach, Partner im Dialog über den
Aufbau eines wertgebundenen Ordnungsrahmens zu sein!