von Vera Krause Die
biblischen Erzählungen um Samuel beginnen mit der Wallfahrt der über lange Jahre kinderlosen
Hanna nach Schilo, dem zentralen Heiligtum der Stämme des Alten Israel. Untröstlich
weint und betet sie im Haus Jahwes ihren Kummer heraus. Der sitzt tief: Jahr für Jahr
voller vergeblicher Hoffnung und Jahr für Jahr aufs Neue gekränkt und gedemütigt von
Peninna, der zweiten Frau ihres Mannes Elkana, „schüttet“ Hanna „dem Herrn ihr Herz
aus“ (1 Sam 1,15). So sagt sie es selbst zum Tempelpriester Eli, der sie in all ihrer
Verzweiflung für eine Betrunkene hält. Beeindruckt von ihrer Innigkeit entlässt dieser
schließlich die von Kummer geplagte Frau in der Gewissheit, dass Gott ihren Herzenswunsch
nach einem männlichen Nachkommen erfüllen wird. Hanna empfängt in naher Zeit tatsächlich
einen Sohn, dem sie den Namen Samuel (schama el = Gott hat erhört) gibt. Da ihr der
Junge von Gott geschenkt worden war, schenkt sie ihn Gott zurück. Erneut zieht sie
hinauf nach Schilo, singt ihr bewegendes Danklied und gibt Samuel in die Aufsicht
Elis, damit er „bei Gott heranwachsen“ (1 Sam 2,21) und den Tempeldienst lernen kann.
Samuel wächst heran: vom Wohlwollen und der Liebe Gottes und der Anerkennung der Menschen
umgeben, die zum Tempel hinaufziehen. All das geschieht zu einer Zeit, in der „die
Worte des Herrn selten und die Visionen nicht häufig waren“ (1 Sam 3,1). Hier nun,
liebe Hörerinnen und Hörer, setzt die erste Lesung dieses Sonntags ein, die ganz leise
eine der eindrücklichsten Berufungsgeschichten der Bibel erzählt. Die zahlreichen
biblischen Berufungsgeschichten markieren meist Ausgangspunkte, Übergänge, Wendepunkte
und immer wieder auch Neuanfänge in der langen Glaubensgeschichte des Volkes Israel
und der ganz jungen Kirche mit Gott. Abraham, Mose, Judit, Elija, Jesaja, Hulda, Jeremia,
Ezechiel, die Jünger um Jesus oder Paulus: Sie alle werden von Gott in den Dienst
genommen und dafür früher oder später aus ihren bisherigen Lebensumständen herausgerissen.
Für eine kürzere Zeit oder ein ganzes Leben lang werden sie zu Boten Gottes erwählt.
Im Laufe der oft dramatischen, fast abenteuerlichen Geschichten wandelt sich Widerspruch
oder geäußerter Zweifel in Vertrauen und leidenschaftlichen Einsatz für Gott und dessen
guten Willen für diese Welt. Das Berufungsgeschehen um den jungen und noch weitgehend
unerfahrenen Samuel hat eine andere Mitte. Die Herausforderung liegt hier darin, den
ganz vertrauten Alltag als Ruf Gottes zu begreifen. Von seiner Mutter in
den Dienst des Heiligtums gegeben, wächst Samuel unter der behutsamen Anleitung Elis
wie selbstverständlich in den Dienst an Gott und den Menschen hinein. Doch weder die
„richtige Umgebung“ noch seine „religiöse Erziehung“ noch sein „Wohlverhalten“ lassen
Samuel die Stimme Gottes als die Stimme dessen hören, der ihn auch von innen her ganz
und gar in Anspruch nehmen will. Fast märchenhaft schildert uns die Bibel das Geschehen:
Viermal ruft Jahwe den jungen Samuel bei Nacht im Allerheiligsten, dort wo die Bundeslade
steht, mit Namen. Doch „Samuel kennt den Herrn noch nicht und das Wort des Herrn war
ihm noch nicht offenbart worden“ (1 Sam 3,7). So deutet er die Stimme, die ihn ruft,
dreimal als die Stimme Elis, den er auch jedes Mal aufsucht. Alt geworden und nur
noch mit schlechter Sehkraft ausgestattet erweist sich Eli schließlich als derjenige,
der begreift, was in dieser Nacht vor sich geht – und der weiß, was jetzt zu tun ist:
schweigen und hören. Schweigen im Dienst des Hörens. „Geh, leg dich schlafen! Wenn
Er dich wieder ruft, dann antworte: Rede, Herr, denn dein Diener hört.“ Samuel
nimmt sich diesen Rat Elis zu Herzen. Und so lernt er noch in derselben Nacht die
an sich so „einfache“ und doch so anspruchsvolle Haltung des Geöffnet-seins und des
Lauschens auf Gott. In der schwierigen Zeit des Übergangs vom Stämmebund zum Königtum
Israels wird Samuel zum Priester, Propheten, Richter und Königsmacher berufen. Er
gehört zu den ganz großen Gestalten des Alten Testaments. Und doch ist die Geschichte
seiner Berufung eine Geschichte vom Suchen und Fragen und der tastenden Schritte.
Es ist eine der Geschichten, in denen Gott leise spricht. Es braucht erst den Weg,
auf dem ein Mensch reifen kann auf seine Bestimmung hin. Und das, was hier geschieht,
braucht andere Menschen. Samuel und Eli gehen ein Stück des Suchens zusammen. So wird
Samuel wach für Gott, der nicht müde wird, nach ihm zu rufen. Wach werden für Gott.
Die Erzählungen um Samuel zeigen uns, dass Glaubenslernprozesse Zeit brauchen und
ihre Zeit getrost haben dürfen. Dass ich die Stimme Gottes zwischen all den anderen
Stimmen hören lerne; dass ich mich traue, Sein Wort als persönliche Anrede
an mich zu verstehen; dass ich zu glauben vermag, dass Gott so lange nach mir suchen
wird, bis er mich findet – all das sind keine Glaubensselbstverständlichkeiten. Ebenso
ist die behutsame Wegbeleitung, die Samuel durch den an Leben und Glauben reiferen
Eli erfährt, keine Selbstverständlichkeit. Gottes lebendige Anrede ist sowohl für
den erfahrenen Alten wie für den unerfahrenen Jungen eine Überraschung. Keiner von
beiden ist vorbereitet. Trotzdem behält das Geschehen seine Ruhe, seine Heiligkeit.
Eli verweist von sich weg auf Gott zu. Er macht nicht eigene Erfahrungen, nicht eigene
Wahrheiten oder Bedürfnisse zum Maßstab des Vorgehens. Ihm bleibt nur noch das eine:
Samuel vorzubereiten für die wichtigste Begegnung seines Lebens. Selbstlos. Und in
dem vielleicht schmerzlichen Bewusstsein, dass Gott längst begonnen hat, zur nächsten
Generation zu sprechen, hinter die er, der oberste Tempelpriester, wird zurücktreten
müssen. Begegnungen werden uns geschenkt, doch wir müssen uns auch in sie hineinwagen.
Samuel wagt sich in die Begegnung mit Gott hinein. Dafür hat er von Eli das vielleicht
kostbarste Gut „religiöser Erziehung“ mit auf den Weg bekommen: die Freiheit, ganz
und gar eigene Erfahrungen mit Gott zu machen. Ähnliche Gesten begegnen
uns auch im Evangelium dieses Sonntags. Da ist zuerst Johannes der Täufer, der weiß,
dass sein Wort nicht das letzte Wort sein wird. Er gibt seine Jünger frei auf einen
Größeren hin: „Seht, das Lamm Gottes“ (Joh 1,36). Und auch die Geschichte, die dann
zwischen Jesus und seinen ersten Jüngern losgeht, ist geprägt von Achtung, Unvoreingenommenheit
und Offenheit. Ein Dialog beginnt: „Was sucht ihr?“ – „Wo wohnst du?“ – „Kommt und
seht!“ So sprechen sich Einladungen an die Freiheit der anderen aus. So öffnen
sich Räume, einander kennen zu lernen. So bleibt Raum für eigene Erfahrungen und reife
Entscheidungen. „Kommt und seht!“ So klingt im Johannesevangelium der Ruf in die
Nachfolge Jesu. Wir hören ihn schon im ersten Kapitel. Keine Vorschriften, keine Moral.
Eine Einladung vielmehr. Und Ermutigung: Ausdrücken dürfen, was ich suche und wohin
meine Sehnsucht geht. Meinen Lebenshunger, meine Neugierde nicht verschweigen müssen.
Erkunden dürfen, was es mit dem Leben auf sich hat – und mit dem, der uns das Leben
in seiner Fülle verheißt. Jesus kennen lernen, mit ihm gehen – durch das ganze Evangelium
– und sehen, wo er zuhause ist und woraus er lebt: in und aus der Liebe des Vaters.
In eine solche Einladung wagt man sich gern hinein. Andreas und ein weiterer Jünger
teilen einen Tag mit Jesus. Die Glaubensfreude, die das bei ihnen auslöst, steckt
an. So kommt auch Simon Petrus zu Jesus. Angeschaut in der Tiefe ihres Herzens sprechen
die drei Männer ihr »Ja«. Und aus einem Tag wird ein ganzes Jüngerleben. – »Schweigen
und hören«, »suchen und finden«, »kommen und sehen« sind die zentralen Worte der heutigen
Schrifttexte. Liebe Hörerinnen und Hörer, diese Worte wollen auch uns wachrufen
für Gott.(rv 17.01.2009 gs)