Sonntagsbetrachtung
zur Taufe Jesu - von Vera Krause, Aachen Beschenkt zu werden, wo ich es überhaupt
nicht erwarte, das gehört für mich zu den glücklichsten Alltagsmomenten. Ein Päckchen
in der Post, ein überraschender Besuch oder eine Blume vor der Tür, ein unerwarteter
Anruf, eine Karte oder ein Päckchen Tee auf dem Schreibtisch im Büro mit einem Zettel
darauf: „Gute Besserung!“ Ganz plötzlich tauchen diese kleinen Glücksboten auf. Verschämt
denke ich: „Das wär’ doch nicht nötig gewesen!“ Und vielleicht löst gerade das die
tiefe innere Freude aus: dass mich da jemand beschenkt, sich noch einmal bedankt oder
einfach „nur“ an mich denkt, obwohl es doch gar nicht nötig gewesen wäre – ohne Not
also und nicht aus Verpflichtung. Einfach so. Warum, liebe Hörerinnen und Hörer, tun
Menschen so etwas? Aus Dankbarkeit, Anerkennung, Zuneigung, Anteilnahme, Sorge, Kollegialität,
Freundschaft, Liebe.Freilich ist das Nicht-Notwendige manchmal auch das, wodurch ich
mich von anderen oder anderem bewusst und ausdrücklich abgrenze: „Das hab’ ich nun
wirklich nicht nötig… mich dafür herzugeben… oder der ewig hinterherzurennen… oder
mir von dem das sagen lassen zu müssen!“ Lieber gehe ich – oder bleibe – auf Distanz.
Die Erzählung von der Taufe Jesu im Evangelium an diesem Sonntag sprengt die vertrauten
Verhaltensmuster, denn Jesus tut hier etwas, was er nun wirklich nicht nötig hat:
er reiht sich ein in die Reihe der Sünder! Er zeigt, dass nichts und niemand gepflegte
Distanz oder grundsätzliche Ablehnung verdient – sondern die heilende Nähe Gottes
und der Menschen. Im Bericht des Evangelisten Markus ist es das erste öffentliche
Auftreten Jesu, der dazu nicht einfach einen Ort aufsucht, an dem eine möglichst hohe
Anzahl Menschen anzutreffen ist. Jesus sucht kein Publikum und es kommt ihm nicht
auf Masse an. Vielmehr folgt er denen, die in jenen Tagen an den Jordan hinausziehen.
Er mischt sich unter die, die unter dem Eindruck der Umkehrpredigt Johannes des Täufers
erkennen, dass sie schuldig geworden waren und ihr Leben einen Neuanfang braucht –
in und mit Gott. Als äußeres Zeichen dieses Neuanfangs ruft Johannes die Menschen
zur Taufe. Dazu lässt er die Menschen zu sich hinab in den Jordan steigen und drückt
sie ganz unter Wasser. Das ist kein unbekanntes Ritual. Sklaven zum Beispiel wurden
getauft, wenn sie frei gelassen werden sollten. Unter Anteilnahme der gesamten Hausgemeinschaft
wurde das Sklave-sein abgewaschen. Aus dem Wasser heraus stieg ein freier Mensch.
In seiner Bereitschaft zur Taufe steigt auch Jesus tief hinab: Er, der Sündenlose,
will die Taufe zur Vergebung der Sünden empfangen. Er, der Sündenlose, gliedert sich
ein in eine „sündige“, in eine sich von Gott entfernte Menschheit. Als Teil von ihr
– man könnte auch sagen: als einer von uns – steigt er hinab in die Tiefe der Schuld,
gleichsam in sie hinein, denn nur so kann er sie in seine Hände nehmen und aufheben.
Nur so kann er Bruder unter Geschwistern werden, Gleicher unter Gleichen. Nur so können
die Gräben zugeschüttet und die Hürden abgebaut werden. Und genau so steht Jesus irgendwann
da vor Johannes, der die Irritation selbst in Worte fasst: „Es kommt einer, der ist
stärker als ich; ich bin es nicht wert, mich zu bücken, um ihm die Schuhe aufzuschnüren“
(Mk 1,7). Jesus lebt eine tiefe, eine radikale Solidarität mit den Menschen. Schon
hier, ganz zu Anfang seines öffentlichen Wirkens. Es ist das erste Mosaiksteinchen
seiner Geschichte. Gleichsam der Grundton. So gibt es für Jesus die Frage nicht, ob
es angemessen sei, dass der Höhere zum Niedrigeren, dass der Eigentliche zum Vorläufer,
zum „Boten“ (Mk 1,2) kommt; eine Frage, die für die junge Kirche durchaus bedeutsam
war. Jesus hört die Botschaft des Täufers und vollzieht das Zeichen der Taufe mit.
Er sucht die Gemeinschaft mit Johannes und mit den Menschen, die sich zum Täufer aufgemacht
haben. Er zeigt sich ihnen tief verbunden und voller Wohlwollen – obwohl er das ganz
und gar nicht nötig hatte. Es ist reines Geschenk. Sein Geschenk. Der Evangelist
Markus beginnt sein Evangelium mit einer Szene, die das Wirken Johannes des Täufers
als Wegbereitung für Jesus, den Christus, zeigt. Als der von Gott gesandte eschatologische
„Bote“ (Mk 1,2), als „Rufer in der Wüste“ (Mk 1,2) kündigt er Jesus als „den Herrn“
(Mk 1,3) an, als „den Stärkeren“ (Mk 1,7) – gemäß der Schrift, dem Willen Gottes
entsprechend. Die Ankunft Jesu, des Stärkeren, mit dem Johannes sich nicht vergleichen
kann, dem er den niedrigsten Sklavendienst – das Lösen der Schuhriemen – zu leisten
nicht würdig ist, geschieht schließlich in einer Reihe mit den Sündern, die auf Vergebung,
auf neue Lebensoptionen hoffen. Unter ihnen findet sich Jesus ein. Er hat noch kein
einziges öffentliches Wort gesprochen, noch keine Jünger ermutigt, ihm zu folgen,
noch kein Wunder gewirkt, noch nicht einen Menschen gesund gemacht. Jesus tritt einfach
vor Gott hin. Er sucht und braucht keine Exklusivität. Er kommt zu Johannes dem Täufer
wie die vielen anderen, die ihr Leben Gott hinhalten, um sich in ein neues Leben rufen
zu lassen. Gott gibt seine Antwort: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir
habe ich Gefallen gefunden“ (Mk 1,11). Rein äußerlich unterscheidet sich Jesus
durch nichts von den anderen, die angerührt von der Predigt des Johannes an den Jordan
hinausgekommen sind. Über diesem „unscheinbaren“ Jesus also – einem von vielen, wie
es scheint – öffnet sich der Himmel, auf ihn kommt Gottes Geist herab, ihm, dem Menschenbruder,
gilt der Anruf Gottes: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.
“ Die Kirche bekennt in diesem Geschehen seit jeher den öffentlichen Beginn des Heilshandelns
Gottes in Jesus Christus. In den wenigen Jahren seines öffentlichen Wirkens wird Jesus
zeigen, woran Gott Gefallen hat – und dass Gottes Liebe jedem einzelnen Menschen
gilt und jeden einzelnen Menschen ruft. Auch dich, mich, uns – liebe Hörerinnen und
Hörer. Gottes geliebter Sohn tritt auf, wie es die Gottesknechtslieder aus dem
Alten Testament beschreiben: ohne Aufsehen, still und unscheinbar. Geduldig wird er
den Gedrückten und Niedergeschlagenen aufhelfen und leise die Welt mit Gottes Wundern
überraschen: Geschenke des Himmels. Ungezwungen. Unerwartet. An uns ist es, diese
Geschenke anzunehmen, sie einander zugänglich und zur treibenden Kraft unseres Lebens
zu machen – wie etwa Dietrich Bonhoeffer, der folgendes Gebet im Juni 1944 in Gestapo-Haft
verfasste: Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen
und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss. Wer bin ich? Sie sagen
mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als
hätte ich zu gebieten. Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des
Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist. Bin
ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst
von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach
Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen,
nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd
vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große
Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten,
zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen? Wer
bin ich? Der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? Bin
ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler Und vor mir selbst ein verächtlich
wehleidiger Schwächling? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem beschlagenen Heer, das
in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg? Wer bin ich? Einsames Fragen treibt
mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!