2009-01-08 16:58:50

Italien: Senator Andreotti steht Rede und Antwort


"Menschen in der Zeit"
Giulio Andreotti  - 90 Jahre
Urgestein der italienischen Politik
(Sendung am 11. Januar 2009)

 

Giulio Andreotti - siebenfacher Ministerpräsident - hat den italienischen Staat nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt wie kein Zweiter. In allen Höhen und Tiefen hatte der gebürtige Römer die Hand im Spiel, er galt und gilt als Sphinx, als graue Eminenz, als politisches Urgestein dieses Landes. Im Laufe seines Lebens konnte der Senator auf Lebenszeit 28 Mal die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität abwehren. Dann kamen die schwersten Anklage auf ihn zu: Der Mafia Beihilfe geleistet zu haben und Auftrageber eines Mordes gewesen zu sein. Andreotti verzichtete auf seine parlamentarische Immunität und musste einen fast zehnjährigen Prozess über sich ergehen lassen. Der erste Prozess um die Ermordung des Journalisten Mino Pecorelli am 20. März 1979 endete nach drei Jahren mit einem Freispruch. In zweiter Instanz wurde Andreotti am 17. November 2002 in Perugia zu 24 Jahren Haft verurteilt. Dieses Urteil wurde in der Berufungsverhandlung am 2. Mai 2003 in Palermo aufgehoben. Im selben Jahr wurde Andreotti aufgrund zwischenzeitlich eingetretener Verjährung der Tat auch vom Vorwurf der Verbindung zur Mafia freigesprochen. Seine guten Beziehungen zum Vatikan und umgekehrt, die guten Beziehungen des Vatikans zum Christdemokraten und bekennenden Katholiken Andreotti sind sprichwörtlich.


Herr Senator, Sie feiern in diesen Tagen Ihren 90. Geburtstag! Sie sind einer der großen Protagonisten der italienischen Nachkriegszeit. 21 Mal bekleideten Sie ein Ministeramt, sieben Mal waren Sie Regierungschef. Sie sind zu einer Art Polit-Ikone des Jahrhunderts geworden, wie nur wenige Politiker auf der Welt. Sie werden verglichen etwa mit Konrad Adenauer, Nelson Mandela, Deng Xiao Ping, Helmut Schmidt - auch er ist in diesen Tagen 90 geworden - und mit vielen anderen. In politischer und vielleicht nicht nur politischer Hinsicht - war Alcide De Gasperi Ihr großes Vorbild, auf das Sie sich immer wieder berufen. Er war es, der Sie in das große Abenteuer der Politik hineingezogen hat. Die italienischen Christdemokraten haben fast ein halbes Jahrhundert lang innenpolitisch den Ton angegeben. Jetzt gibt es Ihre Partei nicht mehr. Wie lautet Ihr Urteil über die Politik von heute?

'Auf technischer Ebene gibt es heute mehr Kenntnisse, mehr Statistiken und Vergleiche. Allerdings hat sich - ich möchte sagen - der kulturelle, vielleicht auch der moralische Elan schrittweise abgeschwächt, der einst die Politik kennzeichnete. Ich wiederhole: wir sind vielleicht alle ein bisschen mehr zu Technikern geworden, aber insgesamt sehe ich darin absolut keinen Fortschritt.'

Die Aufnahme Italiens - das den Krieg verloren hat -  in das Atlantische Bündnis gilt heute als eine der bedeutendsten politischen Entscheidungen Ihres Landes. Ihrer Partei war es ebenso gelungen, den Vatikan und die katholische Welt dazu zu überzeugen, dass es auch eines militärischen Pakts, der Nato, bedurfte. Wichtig war natürlich auch die Entscheidung der UNO, später - als Gründungsstaat - der Europäischen Gemeinschaft  und schließlich der gemeinsamen Währung beizutreten. Welche weiteren Punkte möchten Sie auf Grund Ihrer langen politischen Präsenz noch hinzufügen?


'Ich würde hinzufügen: die Vorrangstellung auf dem Gebiet der Ideen, der Kultur. Immer mehr bedarf Politik einer guten Vorbereitung, einer Vertiefung, eines profunden Studiums. Dies ist jedoch ein Raum, der im Dunklen bleibt, wenn er nicht von einer großen Überzeugung, von einer großen Leidenschaft beseelt wird. Ich glaube, das ist das Vermächtnis, das uns De Gasperi hinterlassen hat.'

Das De Gasperi-Gruber Abkommen war lange Zeit ein wichtiges innen- und außenpolitisches Kapitel im Buch der Geschichte Italiens. Heute kann die autonome Provinz Bozen - Südtirol weltweit als Beispiel dafür vorgezeigt werden, wie Probleme ethnischer und sprachlicher Minderheiten einigermaßen vernünftig gelöst werden können. Das 'Paket' gilt allgemein als politisches Meisterwerk. Ihre Baumeister heißen Aldo Moro, Giulio Andreotti, Silvius Magnago, Bischof Gargitter, Rudolf Kirchschläger, Bruno Kreisky und viele andere. Manchmal wird das Abkommen sogar als potentieller erfolgreicher Exportartikel bezeichnet.

'Ich erinnere mich an die Geburt dieses Übereinkommens, dieses politischen Einvernehmens, das damals als unüberbrückbar galt. Ebenso gut erinnere ich mich an die einzelnen Persönlichkeiten, die Sie eben genannt haben. Ich glaube - je mehr Zeit vergeht - umso mehr nimmt man wahr, wie nützlich diese Wende gewesen ist. Wenn man Trennungen unterstützt - kann man zunächst einmal vielleicht Erfolg haben - aber man baut damit nichts auf. Im Gegenteil, man macht einen Schritt nach hinten. Ich glaube, das Gruber-De Gasperi Abkommen wird in der Geschichte Italiens für immer als ein essentieller Punkt positiver Entwicklung aufscheinen.'

Immer wieder wird - auch im Ausland - die Mafia als der Hauptfeind, als die Hauptgefahr Italiens bezeichnet. Die schlimmsten Verbrechen, die in diesem Land begangen wurden, tragen deren Unterschrift. Wie viel politischer Zündstoff  steckt heute noch effektiv hinter dieser Behauptung?

'Ohne Zweifel trägt die Mafia - vor allem in einigen bestimmten Regionen - im weitesten Sinn dieses Wortes alle Zeichen der Auflösung. Sie ist der Bazillenträger, eine Art Tuberkulose in Italien. Wenn es uns nicht gelingt, gegen die Mafia starke Gegenmittel zu finden, kann das ganze soziale System in gefährlichster Weise zugrunde gehen.'

Zehn Jahre lang stand Giulio Andreotti in Palermo und Perugia unter Prozess wegen Begünstigung der Mafia und des Verdachts auf einen Auftragsmord. Das sind furchtbare Anklagen, die das Bild eines bis dahin äußerst erfolgreichen Politikers dramatisch veränderten. Beide Prozesse endeten schließlich mit einem Freispruch. Andreotti hat auf seine parlamentarische Immunität verzichtet und war bei allen Gerichtsverhandlungen persönlich anwesend. Das ist bei vielen Staatsbürgern gut angekommen - er hat ihnen dadurch Vertrauen in das demokratische System wiedergegeben. Mit Sicherheit hat dieser lange Prozess nicht nur berufliche, sondern auch menschliche Rückschläge bewirkt: Andreotti spricht nicht oft und nicht gerne darüber. Hat sich da etwas Grundsätzliches in Ihnen verändert?

'Es war in der Tat eine lange Zeit großer Bitterkeit. Wenn jemand etwas Unrechtes getan hat, soll und muss er dafür die Verantwortung tragen. Wenn jemand aber auf Unverständnis oder gar auf Feindseligkeit stößt, weil er sich für gerechte und für die Allgemeinheit nützliche Dinge eingesetzt hat, reagiert dieser instinktiv und unweigerlich darauf. Aber ich habe es, Gott sei Dank, überlebt.'

Wenn man den Lauf der Geschichte Italiens von außen betrachtet, wird offensichtlich, dass Italien seine hervorragenden  Männer nicht gerade besonders ehrenvoll behandelt: man denke an Gramsci, Giolitti, Togliatti, Craxi, Moro, Leone und eben auch Andreotti. Wie ein roter Faden zieht sich dieser Tatbestand durch die italienische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Was denken Sie darüber?

'Ja, Sie haben vielleicht Recht. Ich möchte dennoch etwas hinzufügen: die Geschichte kann immer nur aus der Vergangenheit und nicht vom Augenblick her beurteilt werden. Der Augenblick wird von der Chronik erfasst, die Geschichte nicht'.

In der schwierigsten Zeit Ihres Lebens, Herr Senator, hat ein Großteil Ihrer Parteifreunde Sie im Stich gelassen. Nicht jedoch der Vatikan. So, wie Sie den Vatikan nie verlassen haben. Sie gelten als ein Vertrauensmann der Kirche und sind selbst praktizierender Katholik. Was ist echte Freundschaft, was ist echter Glauben für Sie?

'Freundschaft, das ist der Pakt, den Nächsten richtig zu verstehen, das heißt seine eigenen Pflichten  wahrzunehmen und nicht nur dem Kult seiner Rechte zu folgen, was leider oft der Fall ist. Was den Glauben betrifft: wichtig ist, im Dienste der Kirche zu leben, sich für ihre Ideale einzusetzen und nicht umgekehrt, sich der Kirche  für eigene politische Zwecke zu bedienen. Auch dies steht im Vermächtnis von Alcide De Gasperi, das er unserem Gewissen anvertraut hat'.

Haben Sie Ihren Feinden, Ihren Widersachern verzeihen können? Haben Sie nie an Rache gedacht?

'Ach Rache, wissen Sie, das macht nur nervös und fügt der Bitterkeit weiteren Verdruss hinzu. Ich ziehe - nicht aus Güte - das Vergessen vor. Ich glaube, der Herrgott wird denen verzeihen, die mir ungerechterweise so viele Fallen gestellt haben. Immerhin, ich bin noch am Leben, das ist das Wichtigste'.

Papst Benedikt XVI. spricht oft über das Verhältnis der Vernunft zur Religion und umgekehrt. Es ist geradezu zu einem Leitmotiv dieses Pontifikats geworden. Widersprechen sich Ihres Erachtens, Herr Andreotti, diese beiden Begriffe oder sind sie einfach zwei Grundbestandteile menschlichen Seins?

'Das sind zwei verschiedene Gebiete, die aber auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen. Das eine bezieht sich hauptsächlich auf das Übernatürliche, das andere betrifft das konkrete Leben, das irdische Leben. Die Lehre der Kirche und ihre Sozialdoktrin besteht darin, das Verhalten der Menschen auf dieser Welt zu lenken, in der Verpflichtung sie möglichst von den Lasten eigener begangener Fehler zu befreien und der Barmherzigkeit Gottes anzuvertrauen'.

Ihre lange politische Karriere erlaubt auch einen Blick in die Zukunft: Welche Signale sehen Sie am Horizont der Zukunft aufleuchten? Welche Probleme, welche Chancen auf dem politischen, sozialen, kulturellen Umfeld werden auf die nächsten Generationen zukommen? Welche Visionen lassen sich da erkennen?

'Intern wird es uns wahrscheinlich gelingen, wenn auch nur in kleinen Schritten, die Differenzen zu überwinden, die derzeit nicht nur zwischen den einzelnen Regionen, sondern manchmal sogar zwischen der einen Nachbarstadt und der anderen herrschen. Aber auch weltweit müssen die großen Unterschiede verringert werden. Man darf sich nicht einbilden, dass Länder mit Quote Null für immer als solche zu betrachten sind. Wenn hier kein Gleichgewicht gefunden wird, werden wir schreckliche Revolutionen größten Ausmaßes erleben, gegenüber denen jene, die wir erlebt haben, im Vergleich nur kleine Kriege darstellen.'

Wir haben Ihnen heute, Herr Senator Andreotti, ein bisschen den Spiegel vorhalten können. Und Sie haben uns in Ihrer sprichwörtlichen Reserviertheit darauf auch immer  bereitwillig geantwortet. Dennoch bleibt eine letzte Frage offen: Wer ist Giulio Andreotti wirklich? Wird er ein nie ganz aufgeschlüsseltes Rätsel bleiben? Welche Geheimnisse hält der manchmal als Sphinx bezeichnete große Politiker in seinem Innersten verborgenen, fragen sich viele Menschen. Sein Gesicht enthält gleichzeitig Züge der Undurchdringlichkeit, aber auch der Gelassenheit, der Offenheit, aber auch der Verschlossenheit, der Güte, aber auch harter Entschlossenheit, einer unbestritten hohen Intelligenz, vielleicht sogar der Spiritualität. Wer ist Giulio Andreotti in Wirklichkeit?

'Ich fühle mich mit Sicherheit nicht besser als der Durchschnitt meiner Mitmenschen. Aber auch nicht schlechter. Ich besitze einen gewissen Sinn für den Realismus und lebe deshalb zwischen den Polen der Eitelkeit und der Bescheidenheit. Ich weiß nicht, ob das eine das andere überwiegt. Manchmal erkenne ich in mir schon auch positive Eigenschaften. Ich habe in meinem Leben viel Glück gehabt, politisch gesehen. Das hat bei vielen Neid hervorgerufen. Verständlich, Aber es würde mir auch Leid tun, wenn das Gegenteil eingetroffen wäre und ich keinen so großen Erfolg gehabt hätte. Ich muss mich wiederholen: ich bin ein ganz durchschnittlicher Mensch, und ich erwarte keine besonderen Auszeichnungen. Natürlich möchte ich auch nicht verfolgt und geächtet werden. Denn in diesem Fall hätte ich ja - in aller Bescheidenheit - den Zustand der heroischen Tugend erreicht, die ich in Wahrheit nicht mein Eigen nenne.'


(Aldo Parmeggiani, 08.01.2009)








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