Verwirrte Buchstaben. Betrachtung von Prof. Würmeling
Zum Schluss dieses Jahres 2008 lade ich Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer von Radio
Vatikan, nach Nürnberg ein, in den Johannisfriedhof, in den wir ausnahmsweise zu dieser
späten Stunde noch Einlass finden. Doch gilt heute unser Besuch nicht den hier begrabenen
Nürnberger Berühmtheiten wie Albrecht Dürer. Ich will Sie zu einem anderen Grab führen,
dem Grab eines Mannes, den heute kaum mehr jemand kennen dürfte. Er hörte auf den
schönen Namen Jakob Rosenwirth, und das ist auch schon so ziemlich alles, was wir
über ihn wissen. Wir brauchen auch nicht viel mehr über ihn zu wissen, denn was uns
interessiert, ist nicht, was von ihm unter der Erde liegt, sondern was über
der Erde von ihm Zeugnis gibt, nämlich sein Grabmal.
Darauf spielt ein
typisch barocker Dreizeiler auf den Namen „Rosenwirth“ des Begrabenen an: „Hier
ruht, wer wol den Lauff vollführt, bis dieser Erden Dornen Bürd zu milden Himmelsrosen
wird.“
Die dornige Bürd, die Bürde dieser Erde, verwandelt der Tod in milde
Himmelsrosen, das wird hier ganz schlicht und selbstverständlich gesagt und wortspielerisch
mit dem Namen des Verstorbenen verbunden. Aber mehr als dieser einfache Spruch soll
uns die große Bronzeplatte interessieren, die auf dem Grabmal angebracht ist. Auf
ihr finden wir plastisch einen wirren Haufen von Buchstaben in ein chaotisches Durcheinander
verhakt. Von Lesbarkeit keine Spur mehr. Und wenn wir nicht wüssten, dass da ein Jakob
Rosenwirth begraben liegt, es würde uns kaum gelingen, die Bronzebuchstaben sinnvoll
so zusammenzuordnen, dass der Name des Begrabenen lesbar wird. Aber was in aller Welt
soll diese Buchstabenverwirrung bedeuten?
Im Barockzeitalter haben die
Menschen den Tod und seine Schrecken vielfach und mit großer Lust dargestellt. Zahlreiche
Bilder und Figuren zeigen menschliche Skelette als Mahnung an die Endlichkeit unseres
Lebens. Der Tod ist überall dabei. Auf unserem Grabmal tritt er nun ganz besonders
originell auf, nämlich in den verwirrten Buchstaben. Wo sonst Knochen als die letzten
Überbleibsel des Menschen abgebildet werden, sind es hier die auseinander gefallenen
und durcheinander geworfenen Buchstaben seines Namens. Sie zeigen uns an, dass der
Mensch mit seinem Tod bis in seine letzten Bestandteile zerfällt und aufgelöst wird
und entsprechend auch sein Name bis in die einzelnen Buchstaben.
Damit
folgt der Mensch dem ehernen Gesetz der Natur, von dem die Physiker als dem zweiten
Hauptsatz der Wärmelehre sprechen. Der besagt, dass bei jedem Energieumsatz, also
auch bei jedem Lebensvorgang, ein gewisser Anteil von Energie unumkehrbar in Wärme
verwandelt wird. Und deswegen wird schließlich alles Weltgeschehen einmal strukturlos
in der Entropie, im Wärmetod enden. Wir Lebewesen stellen in diesem gewaltigen Strom
in den Wärmetod jeweils nur kleine Revolutionen oder Wirbel dar, die sich der unausweichlichen
Tendenz zum Zerfall für eine gewisse Zeit widersetzen können, um sich schließlich
doch im Tod der Entropie immer mehr zu nähern und sich in ihr aufzulösen.
Für
einen Sylvesterabend und den Beginn eines neuen Jahres sind das nun nicht gerade tröstliche
Gedanken. Aber vielleicht hilft uns der Bronzegießer weiter, der dem Jakob Rosenwirth
sein originelles Grabmal schuf? Vielleicht weiß er aus „dieser Erden Dornen Bürd
... milde Himmelsrosen“ zu zaubern?
Zu den verwirrten Buchstaben hat er
nämlich zwei kleine Engel gesetzt, die sich an dem anscheinend Unentwirrbaren zu schaffen
machen. Einen Buchstaben haben sie bereits herausgeklaubt und aufgerichtet. Es ist
ein I, der Anfangsbuchstabe von Rosenwirths Vornamen Jakob, der aber auch für Initium,
für Anfang stehen kann. Für jenen neuen Anfang, dem Rosenwirth nach seinem Tode, der,
wie man so dahersagt, das Tor zum Leben sei, entgegensieht. Kein Zweifel: die beiden
kleinen Engel arbeiten an des Rosenwirths Auferstehung, symbolisieren durch die Wiederherstellung
seines Namens, eine Wiederherstellung, die für die Auferstehung seines Fleisches steht.
An
Auferstehung glaubt, wer das Credo nicht nur nachbetet, sondern bekennt. Aus der Sicht
der Physiker könnte es so etwas nach dem Wärmetod, nach dem endgültigen Zerfall von
allem in der Entropie nicht mehr geben; Es erscheint völlig unglaublich und einfach
undenkbar.
Undenkbar?
Denkbar ist aber doch, dass irgendwann
und irgendwie allen Menschen einmal Gerechtigkeit widerfahren wird, den Gequälten
und Unterdrückten, den Ermordeten und den Vertriebenen - ebenso wie den Tätern. Wie
aber soll das geschehen? Wie soll das in der Vergangenheit unerreichbar Versunkene
erreicht werden, ohne dass - gegenläufig zur Zeit - allen noch einmal ein neuer Anfang
geschenkt würde, ein jüngstes Gericht, bei dem alles Verkrümmte und Zerschlagene neu
aufgerichtet würde, eben eine Auferstehung?
Der Verlust des Glaubens an
eine Auferstehung habe „eine spürbare Leere hinterlassen“, sinniert der Philosoph
Jürgen Habermas, der sich als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet. Nicht, dass er
etwa an Auferstehung glaubt; aber er hält so etwas gleichsam im Konjunktiv für denkbar,
sozusagen um der Gerechtigkeit willen.
Der Christ, der an die Auferstehung
glaubt, glaubt darum, auf Gerechtigkeit hoffend, das Unglaubliche, aber eben doch
nicht das Undenkbare.
Die beiden kleinen Engel auf dem Johannisfriedhof
in Nürnberg, die aus verwirrten Buchstaben, einem tödlichen Chaos, den Namen des Jakob
Rosenwirth wieder zusammenzufügen begonnen haben, sind Zeugen und Mitarbeiter seiner
Auferstehung und wollen uns Mut machen, an die Verheißung unserer Auferstehung von
den Toten, die Auferstehung des Fleisches zu glauben. Hinter dem, was der barocke
Dichter kindlich fromm und wortspielerisch dem Jakob Rosenwirth auf das Grab geschrieben
hat:
„Hier ruht, wer wol den Lauff vollführt, bis dieser Erden Dornen
Bürd zu milden Himmels Rosen wird.“
Hinter dem steht also Gewaltiges,
die Verheißung ewigen Lebens.
Wie abgegriffen hört sich demgegenüber die
gebräuchliche Formel an, die wir über unsere Toten sprechen: “Requiem aeternam dona
eis, Domine!“, „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe!“ Als ob es sich um die Totenruhe und
eine Art ewigen Schlafes im dunklen Grabe handle. Gemeint ist aber doch ein hellwaches
Leben im Licht; „et lux perpetua luceat eis!“, „und das ewige Licht leuchte ihnen!“
Von
außen, von einem ungläubigen Philosophen müssen wir uns sagen lassen, dass die Auferstehung
zu einem neuen Leben kein unsinniger Glaube sein muss, sondern eine immerhin denkbare
Antwort auf unsere Existenz als Leidwesen Mensch, eine immerhin denkbare Antwort auf
die Frage nach der Gerechtigkeit, die ohne Auferstehung undenkbar bleibt. „Requiescant
in pace!“ heißt es schließlich, „sie mögen in Frieden ruhen“, wobei der Friede in
einem künftigen aktiven Leben gemeint ist.
Den wollen wir unseren Toten
des vergangenen Jahres wünschen - und schließlich auch uns selbst für das kommende
Jahr hier auf Erden und dermaleinst für alle Zeiten.
In diesem Sinne seien
denn die verwirrten Buchstaben entwirrt und das Neue Jahr 2009 froh begonnen! (rv)