2008-11-06 16:50:52

Vatikan: Rundgang im Geheimarchiv


RealAudioMP3 Kilometerlange staubige Akten tief unter Tage, Spinnweben und flackerndes Kerzenlicht, Dokumente, die unerhörte Geheimnisse des Vatikans enthalten, aber vom Papst persönlich unter Verschluss gehalten werden – das ist der Stoff, aus dem Romane sind. In Wirklichkeit ist das vatikanische Geheimarchiv allerdings nicht besonders geheim, gut illuminiert, exzellent organisiert und steht Wissenschaftlern jeder Weltanschauung offen.

Es wird Licht im Dokumenten-Speicher. Dottor Giovanni Castaldo, wissenschaftlicher Angestellter des Vatikanischen Geheimarchivs, führt zielstrebig durch Stellwände voller Ordner. Der rechte Winkel feiert Triumph an diesem Ort, dem – soweit stimmt das Klischee mit der Wahrheit überein – das Tageslicht fehlt. Weniger aus Geheimhaltung als weil es den Dokumenten schaden würde.

Mit einem gezielten Griff holt Giovanni Castaldo einen alten, aber nicht im Mindesten verstaubten Band aus einem der Hunderten Regale. Ein Schriftstück extra für deutsch-reformiertes Publikum:

„Im Register des Papstes Leo X. finden wir die Abschrift der Bulle „Exsurge Domine“ mit der Androhung der Exkommunikation für Martin Luther. Das war 1520, in der Zeit, als Luther viele Reden publizierte. Darin verurteilt der Papst Luthers berühmte 41 Aussagen oder Irrtümer - etwa über Rechtfertigung, Gnade, Hierarchie der Kirche, Ablass und Erbsünde als skandalös und häretisch. Und ein Jahr später – hier – die Exkommunikation selbst. Luther verbrannte das Original der Bulle in Wittenberg als öffentliches Zeichen des Protests. Es gibt einige andere Abschriften in deutschen Diözesanarchiven, aber hier bei uns ist sozusagen das die offiziell gültige Abschrift der Luther-Exkommunikation.“

Hiermit ist einer der beiden Hauptinhalte des vatikanischen Geheimarchivs umrissen. Es sammelt alle vom Heiligen Stuhl promulgierten Gesetze sowie die diplomatische Korrespondenz des Vatikans – über die Jahrhunderte, und hinein in die Zukunft.

„In dieser Abteilung verwahren wir alles Material aus Nuntiaturen. In alphabetischer Reihenfolge, den Ländern nach. Überall dort, wo Sie freie Regalflächen sehen, heißt das, dass wir Material erwarten. Laut Gesetz der Römischen Kurie muss das Nuntiatur-Material alle 35 Jahre ans Archiv geleitet werden. Oder wenn Kriege oder Ähnliches droht.“

Das Vatikanische Geheimarchiv wurde etwa 1510 von Papst Paul V. als eigenständige Einheit gegründet – auch wenn seine Geschichte weit in die Vergangenheit zurückreicht. Der Zusatz „geheim“ bezieht sich keineswegs auf Geheimniskrämerei, sagt Castaldo:

„Das Vatikanarchiv ist das Privatarchiv des Papstes. „Geheim“ bedeutet, dass Leute darin beschäftigt waren, die im engen Kontakt mit dem Souverän standen. Rund um 1500 entstanden in ganz Europa die ersten Archive, und überall führten die Archivare und Vertrauten den Zusatz „Geheim“ im Titel.“

Vom „Segreto“, italienisch für „geheim“, leitet sich denn auch das Wort „Sekretär“ ab. Bis ins späte 19. Jahrhundert hielt der Vatikan die Bestände des Archivs unter Verschluss, und so entstanden Spekulationen über die dort eingelagerten Dokumente. Papst Leo XIII. öffnete 1881 das Archiv der Wissenschaft. Wer die Bestände sichten will, muss wissenschaftliche Erfahrung nachweisen. Die Religion oder Weltanschauung hingegen zählt nicht. Rund 80 Forscher pro Tag kommen heute ins Geheimarchiv.

„Unser ältestes Dokument stammt aus dem 8. Jahrhundert, das „Liber Diurnus Romanorum Pontificum“. Das ist eine Sammlung von Schriften der päpstlichen Verwaltung. Es geht um Formulare für die Papstwahl, die Inthronisation und die Beerdigung des Papstes, über das Verfahren bei der Einsetzung von Bischöfen, über die Gründung von Klöstern und anderes mehr. Allgemein haben wir verhältnismäßig wenig material aus dem ersten Jahrtausend – vieles ist im Lauf der Jahrhunderte verbrannt oder sonst verloren gegangen, es gab Plünderungen, etwa durch die Langobarden. Ab 1300 werden die Dokumente häufiger.“

Giovanni Castaldo hält das Vatikanarchiv deshalb für so spannend, weil das päpstliche Diplomatie-Wesen das älteste der Welt ist. Deshalb finden sich im Geheimarchiv des Papstes Dokumente, die über die christliche Welt weit hinausweisen. So wird beispielsweise wird im Vatikan das älteste bekannte Schriftstück in mongolischer Sprache aufbewahrt.

„Der Päpstliche Hof und die Kurie hatten Beziehungen mit allen Herrschern, in Europa und darüber hinaus. Ein Beispiel: Dort, wo der Kommunismus wichtige Dokumente verbrannte, kann der Vatikan heute aushelfen. Oder wenn wir an das alte Persien denken, so Khomeini in Teheran alles verbrannte – unsere Dokumente hier sind die ersten, die gegenseitige Beziehungen bezeugen.“

Das Vatikanische Geheimarchiv hat 55 Angestellte. Archiv-Präfekt Bischof Sergio Pagano hatte vor einigen Jahren neue Kräfte angefordert und erhalten. Warum? Weil der Heilige Stuhl weitere Teilabschnitte des Archivs möglichst schnell freigeben möchte. So etwa das Pontifikat von Pius XII. von 1939 bis 1957. Für den Pacelli-Papst, dessen Todestag sich eben zum 50. Mal jährte, läuft ein Verfahren zur Seligsprechung. Die Polemik rund um Pius kommt freilich nicht zur Ruhe – Vertreter des Judentums, aber auch immer mehr Katholiken sähen eine schnelle Öffnung der entsprechenden Bestände gerne, um endgültig abzuklären, was Pius für verfolgte Juden tat. Die US-jüdische „Pave the Way“-Stiftung fragte Bischof Pagano, wann mit einer Freigabe des Pontifikates zu rechnen ist:
 „Wir sind dabei, das Material über Pius XII. aufzubereiten. Das ist eine Knochenarbeit, das Pontifikat dauerte ja 19 Jahre, und es werden immer alle Akten auf einmal zugänglich. Wir sprechen da von Hunderttausenden Ordnern und Abermillionen Blättern. All das müssen wir sichten, ordnen, inventarisieren – sonst ist ein Archiv für einen Forscher wertlos. Wir brauchen noch mindestens sechs bis zehn Jahre. Wenn wir soweit sind, wird der Heilige Vater ohne Zweifel auch dieses Pontifikat für die Forschung freigeben.“
Das Archiv bewahrt aber auch Schätze auf, die das Herz des Kunsthistorikers höher schlagen lassen. Beispielsweise diesen Original-Brief Michelangelos in der sauberen, überraschend lesbaren Handschrift des Künstlers. Architekturhistoriker kommen im Geheimarchiv aber auch baulich auf ihre Kosten. Denn hier liegt der Aufstieg zum so genannten „Turm der Winde“, der Papst Gregor den XIII. zur abendländischen Kalenderreform veranlasste. Der 73 Meter hohe Turm, prächtig mit Fresken ausgemalt, wurde 1580 fertig gestellt.

„Hier sind wir im Meridian-Saal. Er war eine Art Observatorium. Zwei Dinge stechen hervor: Zum einen die schmale weiße Linie aus Marmor im Fußboden – der Meridian. Zum anderen das kleine runde Loch in der Südwand. Diese einfache Vorrichtung diente zur Messung des Sonnenstandes zu Mittag in der jeweiligen Jahreszeit: Der Sonnenstrahl dringt durch das Loch und fällt auf den Meridian. Dank dieser Beobachtungen zeigte sich, dass der Julianische Kalender dem Sonnenstand um zehn Tage hinterher hinkte. Und so unterdrückte Gregor XIII. per päpstlicher Bulle, die wir hier auch aufbewahren, zehn Tage im Oktober des Jahres 1582. Auf den 4. Oktober 1582 folgte der 15. Oktober.“
(rv 06.11.2008 gs)







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