Kilometerlange staubige
Akten tief unter Tage, Spinnweben und flackerndes Kerzenlicht, Dokumente, die unerhörte
Geheimnisse des Vatikans enthalten, aber vom Papst persönlich unter Verschluss gehalten
werden – das ist der Stoff, aus dem Romane sind. In Wirklichkeit ist das vatikanische
Geheimarchiv allerdings nicht besonders geheim, gut illuminiert, exzellent organisiert
und steht Wissenschaftlern jeder Weltanschauung offen.
Es wird Licht im Dokumenten-Speicher.
Dottor Giovanni Castaldo, wissenschaftlicher Angestellter des Vatikanischen Geheimarchivs,
führt zielstrebig durch Stellwände voller Ordner. Der rechte Winkel feiert Triumph
an diesem Ort, dem – soweit stimmt das Klischee mit der Wahrheit überein – das Tageslicht
fehlt. Weniger aus Geheimhaltung als weil es den Dokumenten schaden würde.
Mit
einem gezielten Griff holt Giovanni Castaldo einen alten, aber nicht im Mindesten
verstaubten Band aus einem der Hunderten Regale. Ein Schriftstück extra für deutsch-reformiertes
Publikum:
„Im Register des Papstes Leo X. finden wir die Abschrift der
Bulle „Exsurge Domine“mit der Androhung der Exkommunikation
für Martin Luther. Das war 1520, in der Zeit, als Luther viele Reden publizierte.
Darin verurteilt der Papst Luthers berühmte 41 Aussagen oder Irrtümer - etwa über
Rechtfertigung, Gnade, Hierarchie der Kirche, Ablass und Erbsünde als skandalös und
häretisch. Und ein Jahr später – hier – die Exkommunikation selbst. Luther verbrannte
das Original der Bulle in Wittenberg als öffentliches Zeichen des Protests. Es gibt
einige andere Abschriften in deutschen Diözesanarchiven, aber hier bei uns ist sozusagen
das die offiziell gültige Abschrift der Luther-Exkommunikation.“
Hiermit
ist einer der beiden Hauptinhalte des vatikanischen Geheimarchivs umrissen. Es sammelt
alle vom Heiligen Stuhl promulgierten Gesetze sowie die diplomatische Korrespondenz
des Vatikans – über die Jahrhunderte, und hinein in die Zukunft.
„In dieser
Abteilung verwahren wir alles Material aus Nuntiaturen. In alphabetischer Reihenfolge,
den Ländern nach. Überall dort, wo Sie freie Regalflächen sehen, heißt das, dass wir
Material erwarten. Laut Gesetz der Römischen Kurie muss das Nuntiatur-Material alle
35 Jahre ans Archiv geleitet werden. Oder wenn Kriege oder Ähnliches droht.“
Das
Vatikanische Geheimarchiv wurde etwa 1510 von Papst Paul V. als eigenständige Einheit
gegründet – auch wenn seine Geschichte weit in die Vergangenheit zurückreicht. Der
Zusatz „geheim“ bezieht sich keineswegs auf Geheimniskrämerei, sagt Castaldo:
„Das Vatikanarchiv ist das Privatarchiv des Papstes. „Geheim“ bedeutet, dass Leute
darin beschäftigt waren, die im engen Kontakt mit dem Souverän standen. Rund um 1500
entstanden in ganz Europa die ersten Archive, und überall führten die Archivare und
Vertrauten den Zusatz „Geheim“ im Titel.“
Vom „Segreto“, italienisch für
„geheim“, leitet sich denn auch das Wort „Sekretär“ ab. Bis ins späte 19. Jahrhundert
hielt der Vatikan die Bestände des Archivs unter Verschluss, und so entstanden Spekulationen
über die dort eingelagerten Dokumente. Papst Leo XIII. öffnete 1881 das Archiv der
Wissenschaft. Wer die Bestände sichten will, muss wissenschaftliche Erfahrung nachweisen.
Die Religion oder Weltanschauung hingegen zählt nicht. Rund 80 Forscher pro Tag kommen
heute ins Geheimarchiv.
„Unser ältestes Dokument stammt aus dem 8. Jahrhundert,
das „Liber Diurnus Romanorum Pontificum“. Das ist eine Sammlung von Schriften der
päpstlichen Verwaltung. Es geht um Formulare für die Papstwahl, die Inthronisation
und die Beerdigung des Papstes, über das Verfahren bei der Einsetzung von Bischöfen,
über die Gründung von Klöstern und anderes mehr. Allgemein haben wir verhältnismäßig
wenig material aus dem ersten Jahrtausend – vieles ist im Lauf der Jahrhunderte verbrannt
oder sonst verloren gegangen, es gab Plünderungen, etwa durch die Langobarden. Ab
1300 werden die Dokumente häufiger.“
Giovanni Castaldo hält das Vatikanarchiv
deshalb für so spannend, weil das päpstliche Diplomatie-Wesen das älteste der Welt
ist. Deshalb finden sich im Geheimarchiv des Papstes Dokumente, die über die christliche
Welt weit hinausweisen. So wird beispielsweise wird im Vatikan das älteste bekannte
Schriftstück in mongolischer Sprache aufbewahrt.
„Der Päpstliche Hof und
die Kurie hatten Beziehungen mit allen Herrschern, in Europa und darüber hinaus. Ein
Beispiel: Dort, wo der Kommunismus wichtige Dokumente verbrannte, kann der Vatikan
heute aushelfen. Oder wenn wir an das alte Persien denken, so Khomeini in Teheran
alles verbrannte – unsere Dokumente hier sind die ersten, die gegenseitige Beziehungen
bezeugen.“
Das Vatikanische Geheimarchiv hat 55 Angestellte. Archiv-Präfekt
Bischof Sergio Pagano hatte vor einigen Jahren neue Kräfte angefordert und erhalten.
Warum? Weil der Heilige Stuhl weitere Teilabschnitte des Archivs möglichst schnell
freigeben möchte. So etwa das Pontifikat von Pius XII. von 1939 bis 1957. Für den
Pacelli-Papst, dessen Todestag sich eben zum 50. Mal jährte, läuft ein Verfahren zur
Seligsprechung. Die Polemik rund um Pius kommt freilich nicht zur Ruhe – Vertreter
des Judentums, aber auch immer mehr Katholiken sähen eine schnelle Öffnung der entsprechenden
Bestände gerne, um endgültig abzuklären, was Pius für verfolgte Juden tat. Die US-jüdische
„Pave the Way“-Stiftung fragte Bischof Pagano, wann mit einer Freigabe des Pontifikates
zu rechnen ist: „Wir sind dabei, das Material über Pius XII. aufzubereiten.
Das ist eine Knochenarbeit, das Pontifikat dauerte ja 19 Jahre, und es werden immer
alle Akten auf einmal zugänglich. Wir sprechen da von Hunderttausenden Ordnern und
Abermillionen Blättern. All das müssen wir sichten, ordnen, inventarisieren – sonst
ist ein Archiv für einen Forscher wertlos. Wir brauchen noch mindestens sechs bis
zehn Jahre. Wenn wir soweit sind, wird der Heilige Vater ohne Zweifel auch dieses
Pontifikat für die Forschung freigeben.“ Das Archiv bewahrt aber auch Schätze
auf, die das Herz des Kunsthistorikers höher schlagen lassen. Beispielsweise diesen
Original-Brief Michelangelos in der sauberen, überraschend lesbaren Handschrift des
Künstlers. Architekturhistoriker kommen im Geheimarchiv aber auch baulich auf ihre
Kosten. Denn hier liegt der Aufstieg zum so genannten „Turm der Winde“, der Papst
Gregor den XIII. zur abendländischen Kalenderreform veranlasste. Der 73 Meter hohe
Turm, prächtig mit Fresken ausgemalt, wurde 1580 fertig gestellt.
„Hier
sind wir im Meridian-Saal. Er war eine Art Observatorium. Zwei Dinge stechen hervor:
Zum einen die schmale weiße Linie aus Marmor im Fußboden – der Meridian. Zum anderen
das kleine runde Loch in der Südwand. Diese einfache Vorrichtung diente zur Messung
des Sonnenstandes zu Mittag in der jeweiligen Jahreszeit: Der Sonnenstrahl dringt
durch das Loch und fällt auf den Meridian. Dank dieser Beobachtungen zeigte sich,
dass der Julianische Kalender dem Sonnenstand um zehn Tage hinterher hinkte. Und so
unterdrückte Gregor XIII. per päpstlicher Bulle, die wir hier auch aufbewahren, zehn
Tage im Oktober des Jahres 1582. Auf den 4. Oktober 1582 folgte der 15. Oktober.“
(rv 06.11.2008 gs)