Die EU und Deutschland
sollten nicht länger auf Zeit spielen, sondern Flüchtlinge aus dem Irak aufnehmen.
Das fordert der Menschenrechtsbeauftragte des Hilfswerks „missio“, Otmar Oehring.
Die Jagd auf Christen in Mossul zeige, dass Christen derzeit „eigentlich in keinem
Ort im Irak wirklich sicher“ seien. Wenn die Bagdader Regierung angebe, dass sie jetzt
an den Kirchen von Mossul für Sicherheit sorge, dann sei „vielleicht der Pfarrer beschützt“.
Oehring wörtlich: „Aber die Frage ist, wie die Christen dort beschützt werden sollen
– respektive: ob sie überhaupt beschützt werden können –, wo sie leben?“ Unter den
nicht-muslimischen Flüchtlingen aus dem Irak seien schon ca. 70.000 vom UNHCR als
„besonders verletzlich“ anerkannt, so der Experte; zumindest 30.000 von ihnen solle
Deutschland aufnehmen.
Hier lesen Sie das Interview mit Otmar Oehring vom
24. Oktober 2008 in vollem Wortlaut.
„Das Problem ist, dass die Christen
eigentlich in keinem Ort im Irak wirklich sicher sind. Am Anfang ging es los mit einer
Jagd auf die Christen in Basra und Bagdad; in Basra leben inzwischen kaum noch Christen,
während sich die Lage in Bagdad mittlerweile einigermaßen beruhigt hat, wie man durchaus
anerkennen muss. Aber nun hat sich das schon seit ungefähr einem Jahr in den Norden
des Irak verlagert – in den sunnitisch dominierten Teil des Iraks, und da insbesondere
in die Stadt Mossul. Am vorletzten Wochenende hat es da eine richtige Treibjagd gegeben
auf Christen, und im Zusammenhang mit diesem Ereignis sind ungefähr 3500 Familien
aus der Stadt geflohen, wie Regierungsstellen sagen. Die Kirche hat immer von kleineren
Zahlen gesprochen, aber die Regierungsstellen nennen diese hohen Zahlen.
Der
chaldäische Patriarch (Emmanuel III. Delly) hat gestern (am Rand der Weltbischofssynode
im Vatikan) erzählt, es seien inzwischen wieder Leute nach Mossul zurückgekehrt. Aber
das hört sich fast unglaublich an. Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, wie Leute
tatsächlich vor dem Hintergrund dessen, was im Irak passiert ist, und vor allem vor
dem Hintergrund dessen, was man im Zusammenhang mit dem angeblichen Schutz durch die
Sicherheitskräfte bislang gehört und erlebt hat, Vertrauen haben und wirklich in ihre
angestammten Wohnorte zurückkehren sollten.“
Die Regierung sagt, mittlerweile
sei in Mossul die Lage einigermaßen unter Kontrolle; die Sicherheit in der Stadt sei
erhöht worden, und Polizisten schützten die Kirchen. Glaubwürdig?
„Das kann
schon sein... Natürlich ist die Regierung auch gegenüber dem Ausland unter Druck;
sie haben ungefähr tausend Polizisten nach Mossul verlegt, die die Christen schützen
sollen. Das Problem ist nur: Wenn die Regierung selber sagt, sie beschütze die Kirchen,
dann muss man sich natürlich fragen, was passiert denn mit den einzelnen Christen?
Normalerweise wohnen die Christen ja nicht in den Kirchen! Da ist dann vielleicht
der Pfarrer beschützt, und die Christen sind beschützt, wenn es einen Gottesdienst
oder ähnliche Veranstaltungen gibt... Aber die Frage ist, wie die Christen dort beschützt
werden sollen – respektive: ob sie überhaupt beschützt werden können –, wo sie leben?“
Das
Vorgehen gegen Christen in Mossul trägt systematische Züge, die an frühere Jagden
auf Christen z.B. in einem Bagdader Stadtteil erinnern. Wer steckt denn dahinter?
Da gibt es ganz widersprüchliche Angaben: etwa Kurden, die die Machtbalance in der
Stadt neu justieren wollen? Oder sunnitische, extremistische Gruppen? Oder al-Quaida?
„Das
ist schwer zu sagen; die Informationen, die man momentan zu diesen Ereignissen bekommt,
sind sehr widersprüchlich und natürlich auch interessengeleitet. Ich denke, dass alle
diese drei Möglichkeiten denkbar und erwägenswert sind. Die Kirche selber hat sich
dahin gehend geäußert, dass es durchaus auch im Interesse der Kurden sein könnte,
hier zu einer Destabilisierung beizutragen – es ist ja bekannt, dass es Interesse
der kurdischen Regionalregierung und der Kurden insgesamt gibt, ihren Einflussbereich
über die Autonomie-Region Kurdistan auszuweiten, hin zu dem Gebiet, in dem sich die
großen Erdölfelder befinden. Das heißt also: der Großraum Kirkuk und Mossul. Vor diesem
Hintergrund wäre es natürlich durchaus denkbar, dass auch die Kurden da mitspielen
oder Radelsführer in dieser ganzen Angelegenheit sind.“
Hunderttausende
von christlichen Irakern sind in den letzten Jahren aus dem Irak geflüchtet; sie sitzen
zum Teil in den Nachbarländern Syrien oder Jordanien fest. Die EU spielt offenbar
auf Zeit, was eine mögliche Aufnahme zumindest eines Teils dieser Flüchtlinge betrifft.
Wohin also mit diesen Flüchtlingen?
„Das ist das große Rätsel. Hier wird
an allen Ecken und Enden gelogen und gebogen; es wird mit Zahlen gespielt; es wird
behauptet, dass es insgesamt nur um 10.000 christliche und sonstige nicht-muslimischeFlüchtlinge gehe, die man aufnehmen sollte. Das ist zumindest eine Aussage von
Innenminister Schäuble. Aber natürlich ist das vollkommen jenseits der Realität und
stimmt auch überhaupt nicht mit dem überein, was man vom UNHCR hört!
Es
ist richtig, dass es bislang bei den zur Vermittlung vorgeschlagenen Flüchtlingen
eine Gruppe von rund zehn- bis zwölftausend Personen gibt, für die man noch kein Aufnahmeland
gefunden hat – daher rührt diese Zahl. Und der UNHCR geht auch davon aus, dass man
von einer solchen Zahl für jeweils fünf aufeinander folgende Jahre ausgehen muß –
also von 50.000 Leuten! Wobei das natürlich Personen sind, die natürlich nur jenen
Ländern vorgeschlagen werden, die schon bisher Flüchtlinge aufgenommen haben! Also
– wenn Herr Minister Schäuble sagt, Deutschland bzw. die EU müsse insgesamt nur zehntausend
Menschen aufnehmen, dann ist das natürlich vollkommen jenseits jeder Realität und
stimmt mit den Fakten überhaupt nicht überein.
Richtig
ist, dass es eine sehr große Zahl von christlichen und nicht-muslimischen Flüchtlingen
gibt, die beim UNHCR registriert sind als Personen, die zur Gruppe der „most vulnerable
persons“, also der besonders Verletzlichen, gehören und die also mit allerhöchster
Priorität tatsächlich auch in ein sicheres Aufnahmeland überführt werden müssen. Die
Zahl dieser Menschen lag bereits im Sommer bei circa 60.- bis 70.000! Wir haben schon
vor mehr als einem Jahr gefordert, dass die Bundesrepublik Deutschland 30.000 dieser
Flüchtlinge aufnehmen sollte; die Comece, also der Verbund der europäischen Bischofskonferenzen,
hat gefordert, dass auf EU-Ebene 60.000 Personen aufgenommen werden sollten. Das sind
Zahlen, die eher dem entsprechen, was man diskutieren muss!“