"Die vergessenen Millionen" - Wochenkommentar von Msgr. Joachim Schroedel
Die vergangene Woche
hat – wieder einmal mehr – Schreckensnachrichten über die Finanz- und Aktienwelt gebracht.
Die Indizes der Märkte rutschen in Tiefen, die selbst den so genannten „Kleinanlegern“
graue Haare wachsen lassen. Bankencrashes zeigen, wie sensibel es um die finanz-
und schließlich auch Weltmärkte bestellt ist. Ich höre Zahlen, deren Größe ich mir
gar nicht mehr vorzustellen vermag. Verluste und Geldvernichtung gehen einher mit
der Vernichtung zehntausender von Arbeitsplätzen. All das macht vielen Menschen, nicht
nur den Kapitalstarken, sondern eben auch dem so genannten Mittelstand, große Sorgen. Doch
dabei betreiben wir in den finanzstarken Ländern dieser Welt wieder einmal eine Nabelschau,
die der gesamten Welt nicht gerecht wird. Zu einer Pastoralreise bin ich seit über
einer Woche in Äthiopien; ich besuche die deutschsprachige Gemeinde hier in Addis
Abeba. Wenngleich es auch in der Metropole Addis Abeba selbst zu dieser Jahreszeit
noch regnet – sowohl der Süden als auch der Norden des Landes leiden unter Trockenheit,
die für die kommenden Monate Ernteausfälle unvorstellbaren Ausmaßes voraussehen lässt.
Und auch jetzt schon ist die Ernährung weiter Teile der Bevölkerung des gesamten „Horns
von Afrika“ nicht mehr sicher gestellt. Nach einem jüngst vorgelegten Bericht von
UNICEF sind über 14 Millionen Menschen, darunter 3 Millionen Kinder, so von der Hungerkatastrophe
betroffen, dass man davon ausgehen muss: die meisten von Ihnen werden sterben. Dies
ist aber nur die Spitze der schon laufenden Katastrophe. In Addis, so meint der Obere
des Jesuitenkonvents, Pater Grum, haben 50 %, also 2 Millionen Menschen nicht genügend
zu essen oder sind mangelhaft ernährt. Heute befindet sich der Ratsvorsitzende
der Evangelischen Kirche Deutschlands, Bischof Huber, mit einer Delegation der EKD
in Addis Abeba. Aus nächster Nähe wird er viele der „vergessenen Millionen“ sehen.
Wenn auch kirchliche und staatliche Hilfe aus dem Ausland geleistet wird – der Blick
der Menschen wird so häufig abgelenkt oder zurückgelenkt auf die eigene vermeintlich
so dringende Problematik.
Die „weltweite Finanzkrise“ wird registriert – die
immer größer werdende Menschheitskrise wird eher als „normal“ und „nicht zu ändern“
angesehen. Aber würde allein Äthiopien seine Truppen aus Somalia abziehen, würden
große und bedeutende Nationen ihr militärisches Engagement in für sie letztlich völlig
fern liegenden Staaten beenden – dann könnte hungernden und frierenden, kranken und
sterbenden Menschen ein menschenwürdiges Leben bereitet werden.
Die Bundesrepublik
Deutschland wird für den Zeitraum 2009 – 2011 96 Millionen Euro an für Äthiopien zur
Verfügung stellen; die Kirchen engagieren sich so sehr, dass etwa die evangelische
Hilfsaktion „Brot für die Welt“ 40% des Spendenaufkommens für Notleidende in Afrika
verwendet. Und wir dürfen dankbar sein, dass wir Deutsche bereit sind, zu spenden
und zu geben.
Dennoch scheint mir im Bewusstsein unserer Bevölkerung echte
Solidarität und Mitleid zu fehlen. Es ist fatal und zutiefst un-christlich, wenn man
hören muss, dass Afrika ja doch selber Schuld sei. Unsere historische Verantwortung,
die Verantwortung Europas allgemein an der Situation vieler Länder Afrikas ist weitgehend
ausgeblendet. Und von der aktuellen Situation einzelner Länder, etwa dem Krieg
zwischen Äthiopien und Somalia oder den Hungerkatastrophen nimmt die Presse kaum mehr
Notiz – es gibt ja so vieles, was aktueller und für den Moment erschreckender ...
und daher – ironisch gesagt – „unterhaltsamer“ ist.
Es sind in der Tat schweigende
Millionen, deren durchaus beredtes Schweigen wir wieder neu wahrnehmen müssen. Der
Besuch der hochrangigen Delegation der Evangelischen Kirche Deutschlands aber das
große Engagement katholischer Deutscher Hilfsorganisationen in Zusammenarbeit mit
der katholischen Ortskirche, die mit 700.000 Gläubigen nur 1% der Bevölkerung ausmacht
zeigt, dass diese Menschen eben nicht vergessen sind.
Es bleibt in mir das
Unbehagen, dass wir in Europa geneigt sind, irgendwann aufzugeben. es bleibt allerdings
auch die Gewissheit, dass wir Christen letztlich nachhaltig genug auch unser Bewusstsein
von der Not Afrikas schärfen müssen. JEDER CHRIST gefordert, seine Stimme gegen
Menschenverachtung zu erheben.
In Pressebeiträgen der letzten Woche zum
Thema „Globale Finanzkrise“ hörte man immer wieder, man müsse nun „Millionen abschreiben“.
Die
Millionen Menschen Afrikas, hungernd und nach Gerechtigkeit rufend, bekommen
von dieser „Globalen Krise“ nicht viel mit; aber sie sind selbst wie Millionen „Abgeschriebener“,
von deren Elend wir vielleicht zu Weihnachten oder Ostern erfahren, uns aber dann
schnell wieder unserer eigenen vermeintlich so wichtigen Problematik zuwenden. Dabei
müssen wir uns immer wieder klar machen: Wir stehen in einer Schicksalsgemeinschaft,
und jede Vernachlässigung eben dieser hungernden und sterbenden Menschen wird sich
dereinst – und diese Zeit wird von jemand anderem bestimmt – bitter rächen.
Es
geht also nicht nur darum, wieder einmal eine großzügige Spende zu machen – es geht
um ein definitiv überlebens-wichtiges Umdenken auch in unserer Gesellschaft.
Noch
stehen wir damit sehr am Anfang, mein Joachim Schroedel, derzeit auf Pastoralreise
in Addis Abeba