2008-09-11 11:15:27

Aktenzeichen Spezial: Alexander Issajewitsch Solschenizyn


RealAudioMP3 Vor einem Monat verstarb in Moskau der russische Schriftsteller und Dramatiker Alexander Issajewitsch Solschenizyn. Um ein präzises, genaues Bild dieses Mannes zeichnen zu können, müsste man ein guter Kenner der russischen Seele sein. Und man müsste als Europäer versuchen, die sprichwörtliche Weite seiner Heimat erfassen zu können. Aldo Parmeggiani hat sich daran gemacht.


Wie leicht ist mir, mit Dir zu leben, o Herr!
Wie leicht ist mir, an Dich zu glauben!
Wenn mein Verstand sich dem Zweifel öffnet oder kraftlos wird, wenn die Klügsten unter den Klugen nicht über den heutigen Abend hinaussehen und nicht wissen, was morgen getan werden muss gibst Du mir Klarheit und Zuversicht, dass es Dich gibt und dass Du Sorge tragen wirst, dass nicht alle Wege des Guten verschlossen sein werden.
Auf der Höhe meines irdischen Ruhmes
blicke ich mit Verwunderung zurück, auf jenen Weg durch die Hoffnungslosigkeit hierher, von wo aus auch ich der Menschheit einen Abglanz Deiner Strahlen schicken konnte.
Und wie viel Zeit auch nötig sein wird,
um Deine Strahlen widerzuspiegeln,
Du wirst sie mir geben.
Und was ich nicht mehr schaffen werde, heißt dass Du es Anderen vorbestimmt hast.

Vor einem Monat verstarb in Moskau der russische Schriftsteller und Dramatiker Alexander Issajewitsch Solschenizyn, dessen Gebet Sie eben vernommen haben. Um ein präzises, genaues Bild dieses Mannes zeichnen zu können, müßte man ein guter Kenner der russischen Seele sein. Und man müßte als Europäer versuchen, die sprichwörtliche Weite seiner Heimat erfassen zu können. Beide Begriffe, Seele und Weite, sind die Grundeigenschaften mit denen der russische Literat und Denker seine Worte, seine Philosophie, seinen tiefen Glauben nährte, aufbaute und weltweit weitergab. Er hat, allein schon durch sein berühmtestes Werk: 'Archipel Gulag' Millionen Menschen der russischen Gefangenenlager eine Stimme und eine Hoffnung gegeben. Er hat nicht nur den Stalinismus, sondern die Unmenschlichkeit des gesamten sowjetischen Systems öffentlich angeprangert. Er war aber auch ein Kind seiner Zeit und hat nach seiner Rückkehr aus dem fast 20-jährigem Exil im Westen vielleicht jenen Sinn und jene Kraft für die Wirklichkeit verloren, die ihn vorher so sehr auszeichnet hatten. Und so ist der Literatur-Nobelpreisträger von 1970 für die einen eine heroische Persönlichkeit geworden, die im Alleingnag den sowjetischen Totalitarismus besiegt hat, für die anderen hingegen ein konservativer, russischer Nationalist, der für den Krieg in Tschetschenien und die Todesstrafe plädiert hat. Immerhin: Solschenizyn blieb bis zu seinem Tod am 3. August
2008 seiner Maxime treu: 'Leben, ohne zu lügen'. Aber, was ist die Wahrheit?

Und, was ist die Wahrheit in der heutigen aus den Fugen geratenen globalisierten Welt?

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Geboren am 11. Dezember 1918 im südrussischen Kislowodsk, studierte Solschenizyn Mathematik in Rostov am Don, Geschichte, Philosophie und Literatur im Fernstudium in Moskau. Im 2. Weltkrieg diente er als Hauptmann einer Artillerieeinheit. 1945, kurz vor Kriegsende, wurde er verhaftet, als er in einem Brief Kritik an Stalin äußerte.Es folgten elf Jahre Gulag-Haft, in einem Sonderlager für hochbegabte Wissenschaftler, mit anschließender Verbannung auf Lebenszeit nach Kasachstan. 1957, vier Jahre nach Stalins Tod, wurde er rehabilitiert und durfte in den europäischen Teil des Landes zurückkehren. Alexander Solschenizyn ließ sich in Ryasan, 200 Kilometer von Moskau entfernt, nieder, wo er als Schullehrer arbeitete und heimlich schrieb.

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Im Roman 'Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch'' schildert er den Alltag im Gulag. Wir befinden uns in der Tauwetterperiode unter KpdSU-Chef Nikita Chruschtschow. Solschenizyn wird zum Star, zum Symbol der Entstalinisierung. Doch schon zwei Jahre später wurde Chruschtschow abgesetzt, entmachtet. Jetzt können die Werke Solschenizyns nur mehr im Untergrund oder im Ausland erscheinen. - 1970 erhielt der inzwischen weltbekannte Autor den Nobelpreis für Literatur.

Aber erst vier Jahre später - 1974 - konnte sich Alexander Solschenizyn für die hohe Auszeichnung in Stockholm beim Preisverleihungskomitee dafür bedanken. Der Schriftsteller befürchtete - wie man heute weiß - auch zu Recht - ihm würde die Rückkehr in die Sowjetunion bei der offiziellen Preisverleihung in Schweden untersagt werden. Wir hören jetzt einen Ausschnitt aus der Dankesrede Alexander Solschenizyns:

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'Was vermag die Literatur gegen den unerbittlichen Druck der offenen Gewalt?

Jeder, der die Gewalt zu seiner Methode gemacht hat, muss zwangsläufig die Lüge zu seinem Prinzip erwählen. Es ist der einfache Schritt eines einfachen, tapferen Mannes: sich nicht an der Lüge zu beteiligen, keine verlogenen Handlungen zu unterstützen! Doch dem Schriftsteller und Künstler ist mehr erreichbar: der Sieg über die Lüge! Schon immer hat die Kunst im Kampf mit der Lüge gesiegt, und sie wird immer siegen - sichtbar, überzeugend für alle'.

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Als 1973 in Frankreich Solschenizyns Star-Roman 'Archipel Gulag' erschien, nahm die sowjetische Führung das zum Anlass, um ihren prominentesten Dissidenten auszubürgern. Leonid Breschnew ist jetzt an der Macht. Nach geheimen Vorgesprächen mit der Regierung Brandt schob dieser ihn in die Bundesrepublik Deutschland ab. Dort fand er zunächst bei seinem Freund und Schriftstellerkollegen Heinrich Böll - ebenfalls Literatur-Nobelpreisträger - gastliche Aufnahme. Später übersiedelte Solschenizyn nach Zürich in die Schweiz und 1976 nach Cavendish im US-Bundesstaat Vermont. Nachdem es in den 80-Jahren um Alexander Solschenizyn ziemlich still geworden war, appellierten mit Beginn der Perestroika und Glasnost in der Siwjetunion viele namhafte Schriftsteller des Landes an den mittlerweile zum Staatschef avnacierten Michail Gorbatschow, Alexander Solschenizyn und sein Werk zu rehabilitieren.
Tatsächlich: im August 1990 erhielt er wieder die sowjetische Staatsbürgerschaft.

Im Mai 1994 kehrt Solschenizyn in die Heimat zurück. Er wird gefeiert wie ein Nationalheld. Seine einst verbotenen Bücher, einschließlich des 'Archipels Gulag' erscheinen in Russland in Millionenauflage. Der Nobelpreisträger und weltbekannte Schriftsteller wird im Kreml mit allen Ehren empfangen und darf vor dem Parlament gleich einem Staatsoberhaupt eine

Rede halten. Im Fernsehen bekommt er eine eigene Sendung, damit er direkt zum Volk sprechen kann. Viele Russen wollen ihn jetzt als ihren Präsidenten sehen. Doch Solschenizyns Triumph sollte nicht lange dauern.

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Alexander Solschenizyn macht sich bei allen politischen Parteien unbeliebt.

Die Demokraten waren beleidigt, weil er ihnen eine kriminelle Privatisierung und den Zerfall Russlands vorwarf. Für die Kommunisten war seine antikommunistische Haltung inakzeptabel. Selbst die Menschenrechtler distanzierten sich von ihm: weil der den Krieg in Tschetschenien befürwortete und für die Todesstarfe eintrat. Die politischen Ansichten Solschenizyns, dem jetzt als Ideal das verbesserte und modernisierte vorbolschewistische Russland vorschwebte, teilen uneinegschränkt jetzt eigentlich nur mehr die Nationalisten. Doch die haben bereits ihre eigenen Führer, welche mehr von der realen Situation in Russland verstehen als Solschenizyn, der 20 Jahre im Westen gelebt hatte.

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Frustriert zieht sich der alternde Solschenizyn aus dem öffentlichen Leben zurück. Schon längst ist er im Fernsehen nicht mehr zu sehen, er gibt längst keine Interviews mehr und meidet jeden öffentlichen Auftritt. Seine letzte literarische Arbeit 'Zweihundert Jahre zusammen' über die Juden in Russland, wird zwar in Russland zum Bestseller, bringt ihm aber im Ausland den Vorwurf des Antisemitismus ein. In der Schrift gibt er den russischen Juden - angeblich auf Grundlage dürftiger Quellen - eine Mitschuld an der kommunistischen Diktatur. Doch war es nicht Stalin selbst, der in den dreißiger Jahren viele Juden töten ließ ? Auch schon während seines Exils in den USA hatten Kritiker Solschenizyn eine antisemitische Haltung vorgeworfen. Nichts desto trotz: der frühere russische Präsident und heutige

Ministerpräsident Wladimir Putin ehrt im Juni vergangenen Jahres den Schriftsteller Solschenizyn mit dem russischen Staatspreis. Den mit umgerechnet 150.000 Euro dotierten Preis nahm seine Frau Natalya entgegen, weil der damals schon gebrechliche Autor nicht mehr an der Zeremonie teilnehmen konnte. Als gläubiger, orthodoxer Christ bereitete sich Solschenizyn gut auf seinen Tod vor und hatte schon vor fünf Jahren Patriarch Alexej II. in einem Brief darum gebeten, auf dem Donsjoy-Klostergelände begeisetzt werden zu können. Der Patriarch gab diesem letzten Wunsch Alexander Solschenizyns statt.. Zum Schluss eine letzte
Überlegung: Der weltbekannte Schriftsteller ist nicht einfach nur ein Klassiker, sein Ableben nicht einfach der Tod eines mutigen Intellektuellen.

Der Tod des 89-Jährigen ist das Ende einer ganzen Epoche, die er in seinen Werken eindrucksvoll - wie kein anderer - für die ganze Welt festgehalten hat, einer Epoche, die ihn selbst aber - noch zu Lebzeiten - politisch eingeholt hat. Politisch, aber nicht menschlich. Erstaunt werden jetzt nach seinem Tode auch diejenigen, die Solschenizyn unter dem Aspekt des Tagespolitischen gesehen haben, feststellen, dass er auch ein Philosoph war, kein Philosoph im stillen Gelehrtenstübchen, sondern einer, der seinem Denken Handeln folgen ließ und für seine Überzeugungen kämpfte, auch wenn er sich dabei auf allen Seiten Feinde machte.
Er kämpfte für Moral und Ethik, für Frieden und Gerechtigkeit, für eine bessere Welt und wie könnte es bei einem Russen anders sein........ für sein Russland.

Vater unser, der Du bist der Allergnädigste!
Wende Dich nicht von Deinem Russland ab, dem geliebten, Deinem leidgeprüften Land in seinem heutigen Erstarren, mit seinen vielen Wunden, in seiner Verarmung und in der Verwirrung seines Geistes.
Gott der Allmächtige!
Lasse nicht zu, dass es Russland nicht mehr geben sollte, dass es aufhören könnte zu sein.
Wie viele aufrichtige Herzen
und wie viele Talente
hast Du unter den russischen Menschen verteilt.
Lasse nicht zu, dass sie alle in der Finsternis verschwinden, ohne in Deinem Namen gewirkt haben zu können!
Aus den Tiefen des Unheils
erlöse Dein Volk, das unbeständige.


Aldo Parmeggiani








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