Aktenzeichen Spezial: Alexander Issajewitsch Solschenizyn
Vor einem Monat verstarb
in Moskau der russische Schriftsteller und Dramatiker Alexander Issajewitsch Solschenizyn.
Um ein präzises, genaues Bild dieses Mannes zeichnen zu können, müsste man ein guter
Kenner der russischen Seele sein. Und man müsste als Europäer versuchen, die sprichwörtliche
Weite seiner Heimat erfassen zu können. Aldo Parmeggiani hat sich daran gemacht.
Wie
leicht ist mir, mit Dir zu leben, o Herr! Wie leicht ist mir, an Dich zu
glauben! Wenn mein Verstand sich dem Zweifel öffnet oder kraftlos wird,
wenn die Klügsten unter den Klugen nicht über den heutigen Abend hinaussehen und nicht
wissen, was morgen getan werden muss gibst Du mir Klarheit und Zuversicht, dass es
Dich gibt und dass Du Sorge tragen wirst, dass nicht alle Wege des Guten verschlossen
sein werden. Auf der Höhe meines irdischen Ruhmes blicke ich mit
Verwunderung zurück, auf jenen Weg durch die Hoffnungslosigkeit hierher, von wo aus
auch ich der Menschheit einen Abglanz Deiner Strahlen schicken konnte. Und
wie viel Zeit auch nötig sein wird, um Deine Strahlen widerzuspiegeln, Du
wirst sie mir geben. Und was ich nicht mehr schaffen werde, heißt dass
Du es Anderen vorbestimmt hast.
Vor einem Monat verstarb in Moskau der
russische Schriftsteller und Dramatiker Alexander Issajewitsch Solschenizyn, dessen
Gebet Sie eben vernommen haben. Um ein präzises, genaues Bild dieses Mannes zeichnen
zu können, müßte man ein guter Kenner der russischen Seele sein. Und man müßte als
Europäer versuchen, die sprichwörtliche Weite seiner Heimat erfassen zu können. Beide
Begriffe, Seele und Weite, sind die Grundeigenschaften mit denen der russische Literat
und Denker seine Worte, seine Philosophie, seinen tiefen Glauben nährte, aufbaute
und weltweit weitergab. Er hat, allein schon durch sein berühmtestes Werk: 'Archipel
Gulag' Millionen Menschen der russischen Gefangenenlager eine Stimme und eine Hoffnung
gegeben. Er hat nicht nur den Stalinismus, sondern die Unmenschlichkeit des gesamten
sowjetischen Systems öffentlich angeprangert. Er war aber auch ein Kind seiner Zeit
und hat nach seiner Rückkehr aus dem fast 20-jährigem Exil im Westen vielleicht jenen
Sinn und jene Kraft für die Wirklichkeit verloren, die ihn vorher so sehr auszeichnet
hatten. Und so ist der Literatur-Nobelpreisträger von 1970 für die einen eine heroische
Persönlichkeit geworden, die im Alleingnag den sowjetischen Totalitarismus besiegt
hat, für die anderen hingegen ein konservativer, russischer Nationalist, der für den
Krieg in Tschetschenien und die Todesstrafe plädiert hat. Immerhin: Solschenizyn blieb
bis zu seinem Tod am 3. August 2008 seiner Maxime treu: 'Leben, ohne zu lügen'.
Aber, was ist die Wahrheit?
Und, was ist die Wahrheit in der heutigen aus den
Fugen geratenen globalisierten Welt?
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Geboren am 11. Dezember 1918
im südrussischen Kislowodsk, studierte Solschenizyn Mathematik in Rostov am Don, Geschichte,
Philosophie und Literatur im Fernstudium in Moskau. Im 2. Weltkrieg diente er als
Hauptmann einer Artillerieeinheit. 1945, kurz vor Kriegsende, wurde er verhaftet,
als er in einem Brief Kritik an Stalin äußerte.Es folgten elf Jahre Gulag-Haft, in
einem Sonderlager für hochbegabte Wissenschaftler, mit anschließender Verbannung auf
Lebenszeit nach Kasachstan. 1957, vier Jahre nach Stalins Tod, wurde er rehabilitiert
und durfte in den europäischen Teil des Landes zurückkehren. Alexander Solschenizyn
ließ sich in Ryasan, 200 Kilometer von Moskau entfernt, nieder, wo er als Schullehrer
arbeitete und heimlich schrieb.
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Im Roman 'Ein Tag im Leben des
Iwan Denissowitsch'' schildert er den Alltag im Gulag. Wir befinden uns in der Tauwetterperiode
unter KpdSU-Chef Nikita Chruschtschow. Solschenizyn wird zum Star, zum Symbol der
Entstalinisierung. Doch schon zwei Jahre später wurde Chruschtschow abgesetzt, entmachtet.
Jetzt können die Werke Solschenizyns nur mehr im Untergrund oder im Ausland erscheinen.
- 1970 erhielt der inzwischen weltbekannte Autor den Nobelpreis für Literatur.
Aber
erst vier Jahre später - 1974 - konnte sich Alexander Solschenizyn für die hohe Auszeichnung
in Stockholm beim Preisverleihungskomitee dafür bedanken. Der Schriftsteller befürchtete
- wie man heute weiß - auch zu Recht - ihm würde die Rückkehr in die Sowjetunion bei
der offiziellen Preisverleihung in Schweden untersagt werden. Wir hören jetzt einen
Ausschnitt aus der Dankesrede Alexander Solschenizyns:
--- 'Was vermag die
Literatur gegen den unerbittlichen Druck der offenen Gewalt?
Jeder, der die
Gewalt zu seiner Methode gemacht hat, muss zwangsläufig die Lüge zu seinem Prinzip
erwählen. Es ist der einfache Schritt eines einfachen, tapferen Mannes: sich nicht
an der Lüge zu beteiligen, keine verlogenen Handlungen zu unterstützen! Doch dem Schriftsteller
und Künstler ist mehr erreichbar: der Sieg über die Lüge! Schon immer hat die Kunst
im Kampf mit der Lüge gesiegt, und sie wird immer siegen - sichtbar, überzeugend für
alle'.
--- Als 1973 in Frankreich Solschenizyns Star-Roman 'Archipel Gulag'
erschien, nahm die sowjetische Führung das zum Anlass, um ihren prominentesten Dissidenten
auszubürgern. Leonid Breschnew ist jetzt an der Macht. Nach geheimen Vorgesprächen
mit der Regierung Brandt schob dieser ihn in die Bundesrepublik Deutschland ab. Dort
fand er zunächst bei seinem Freund und Schriftstellerkollegen Heinrich Böll - ebenfalls
Literatur-Nobelpreisträger - gastliche Aufnahme. Später übersiedelte Solschenizyn
nach Zürich in die Schweiz und 1976 nach Cavendish im US-Bundesstaat Vermont. Nachdem
es in den 80-Jahren um Alexander Solschenizyn ziemlich still geworden war, appellierten
mit Beginn der Perestroika und Glasnost in der Siwjetunion viele namhafte Schriftsteller
des Landes an den mittlerweile zum Staatschef avnacierten Michail Gorbatschow, Alexander
Solschenizyn und sein Werk zu rehabilitieren. Tatsächlich: im August 1990 erhielt
er wieder die sowjetische Staatsbürgerschaft.
Im Mai 1994 kehrt Solschenizyn
in die Heimat zurück. Er wird gefeiert wie ein Nationalheld. Seine einst verbotenen
Bücher, einschließlich des 'Archipels Gulag' erscheinen in Russland in Millionenauflage.
Der Nobelpreisträger und weltbekannte Schriftsteller wird im Kreml mit allen Ehren
empfangen und darf vor dem Parlament gleich einem Staatsoberhaupt eine
Rede
halten. Im Fernsehen bekommt er eine eigene Sendung, damit er direkt zum Volk sprechen
kann. Viele Russen wollen ihn jetzt als ihren Präsidenten sehen. Doch Solschenizyns
Triumph sollte nicht lange dauern.
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Alexander Solschenizyn macht
sich bei allen politischen Parteien unbeliebt.
Die Demokraten waren beleidigt,
weil er ihnen eine kriminelle Privatisierung und den Zerfall Russlands vorwarf. Für
die Kommunisten war seine antikommunistische Haltung inakzeptabel. Selbst die Menschenrechtler
distanzierten sich von ihm: weil der den Krieg in Tschetschenien befürwortete und
für die Todesstarfe eintrat. Die politischen Ansichten Solschenizyns, dem jetzt als
Ideal das verbesserte und modernisierte vorbolschewistische Russland vorschwebte,
teilen uneinegschränkt jetzt eigentlich nur mehr die Nationalisten. Doch die haben
bereits ihre eigenen Führer, welche mehr von der realen Situation in Russland verstehen
als Solschenizyn, der 20 Jahre im Westen gelebt hatte.
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Frustriert
zieht sich der alternde Solschenizyn aus dem öffentlichen Leben zurück. Schon längst
ist er im Fernsehen nicht mehr zu sehen, er gibt längst keine Interviews mehr und
meidet jeden öffentlichen Auftritt. Seine letzte literarische Arbeit 'Zweihundert
Jahre zusammen' über die Juden in Russland, wird zwar in Russland zum Bestseller,
bringt ihm aber im Ausland den Vorwurf des Antisemitismus ein. In der Schrift gibt
er den russischen Juden - angeblich auf Grundlage dürftiger Quellen - eine Mitschuld
an der kommunistischen Diktatur. Doch war es nicht Stalin selbst, der in den dreißiger
Jahren viele Juden töten ließ ? Auch schon während seines Exils in den USA hatten
Kritiker Solschenizyn eine antisemitische Haltung vorgeworfen. Nichts desto trotz:
der frühere russische Präsident und heutige
Ministerpräsident Wladimir Putin
ehrt im Juni vergangenen Jahres den Schriftsteller Solschenizyn mit dem russischen
Staatspreis. Den mit umgerechnet 150.000 Euro dotierten Preis nahm seine Frau Natalya
entgegen, weil der damals schon gebrechliche Autor nicht mehr an der Zeremonie teilnehmen
konnte. Als gläubiger, orthodoxer Christ bereitete sich Solschenizyn gut auf seinen
Tod vor und hatte schon vor fünf Jahren Patriarch Alexej II. in einem Brief darum
gebeten, auf dem Donsjoy-Klostergelände begeisetzt werden zu können. Der Patriarch
gab diesem letzten Wunsch Alexander Solschenizyns statt.. Zum Schluss eine letzte Überlegung:
Der weltbekannte Schriftsteller ist nicht einfach nur ein Klassiker, sein Ableben
nicht einfach der Tod eines mutigen Intellektuellen.
Der Tod des 89-Jährigen
ist das Ende einer ganzen Epoche, die er in seinen Werken eindrucksvoll - wie kein
anderer - für die ganze Welt festgehalten hat, einer Epoche, die ihn selbst aber -
noch zu Lebzeiten - politisch eingeholt hat. Politisch, aber nicht menschlich. Erstaunt
werden jetzt nach seinem Tode auch diejenigen, die Solschenizyn unter dem Aspekt des
Tagespolitischen gesehen haben, feststellen, dass er auch ein Philosoph war, kein
Philosoph im stillen Gelehrtenstübchen, sondern einer, der seinem Denken Handeln folgen
ließ und für seine Überzeugungen kämpfte, auch wenn er sich dabei auf allen Seiten
Feinde machte. Er kämpfte für Moral und Ethik, für Frieden und Gerechtigkeit, für
eine bessere Welt und wie könnte es bei einem Russen anders sein........ für sein
Russland.
Vater unser, der Du bist der Allergnädigste! Wende Dich nicht
von Deinem Russland ab, dem geliebten, Deinem leidgeprüften Land in seinem heutigen
Erstarren, mit seinen vielen Wunden, in seiner Verarmung und in der Verwirrung seines
Geistes. Gott der Allmächtige! Lasse nicht zu, dass es Russland nicht mehr geben
sollte, dass es aufhören könnte zu sein. Wie viele aufrichtige Herzen und wie
viele Talente hast Du unter den russischen Menschen verteilt. Lasse nicht zu,
dass sie alle in der Finsternis verschwinden, ohne in Deinem Namen gewirkt haben zu
können! Aus den Tiefen des Unheils erlöse Dein Volk, das unbeständige.