Die Münchnerin Inge
Bell arbeitet als Fernseh- und Radiojournalistin und hat sich auf die politische und
soziale Entwicklung in Südosteuropa spezialisiert. Für ihren Kampf gegen Menschenhandel
und Zwangsprostitution ist Inge Bell mit dem Preis 'Frauen Europas - Deutschland 2007'
ausgezeichnet worden. Aldo Parmeggiani hat für die Sendung "Aktenzeichen" mit der
Slawistin und Historikerin gesprochen, die sich für wehrlose Frauen und Mädchen auf
dem Balkan einsetzt. Es ist nicht leicht, Inge Bell in Deutschland anzutreffen,
meist ist sie auf Mission in den europäischen Oststaaten. Inge Bell selbst stammt
aus einer rumänischen Flüchtlingsfamilie, die Migration ist ihr sozusagen in die Wiege
gelegt worden. Sie betreut mehrere Hilfsprojekte gleichzeitig. Diese Projekte kamen
jeweils nach der Ausstrahlung ihrer Reportagen in der ARD zustande. Außerdem setzt
sich Inge Bell für Einzelfälle ein, zum Beispiel für Mädchen und junge Frauen in der
Zwangsprostitution. Sie hilft Menschen, die sie durch ihre in freier Mitarbeit entstandenen
journalistischen Recherchen aufgespürt hat. Das ist kein alltäglicher Journalismus,
das ist Journalismus im Auftrag der Menschenwürde, im Auftrag und in der Erfüllung
des ersten Gebotes unserer christlichen Tradition, der Nächstenliebe. Wie schafft
die junge Frau dies menschlich, wie beruflich und wie finanziell?
'Ich
komme immer wieder an meine Grenzen, ganz klar. Ich bin oft in Situationen, in denen
ich mich überfordert fühle. Gerade wenn man mit jungen Menschen arbeitet, mit jungen
Mädchen, die zum Beispiel Opfer geworden sind von Zwangsprostitution im Westen und
wieder zurück abgeschoben wurden in ihre Heimatländer, nach Bulgarien, Rumänien oder
nach Russland. Wenn man mit diesen jungen Menschen zusammenarbeitet und sieht: mein
Gott, wie kann man diesen Menschen helfen, diesen Mädchen, die so sehr traumatisiert
sind, und wenn die mir dann erzählen von ihren Erlebnissen mit deutschen Freiern oder
mit Menschenhändlern, die sie verkauft haben, dann ist mir oft richtig schlecht geworden.'
Und
wie schafft Inge Bell dies beruflich, war unsere Frage? Sie spricht fließend bulgarisch
und rumänisch, außer den anderen Sprachen. Sie ist ja selbst ein Kind des Balkans
- meint Inge Bell. Sie ist in Rumänien geboren, ihre Mutter ist geflüchtet, als sie
ein Jahr alt war. Später ist sie mit ihren Großeltern nach Deutschland gekommen. Da
war sie vier Jahre alt.
'Mir ist der Balkan nicht fremd, mir ist Osteuropa
nicht fremd. Ich habe in der eigenen Familie ja die Leiden des Kommunismus miterlebt
und ich weiß, wie es ist, wenn man von einer Diktatur verformt wurde, wenn Wertesysteme
in die Brüche gehen, wie das in Osteuropa ja der Fall war, nach dem Sturz des Kommunismus
und mit dem wilden Kapitalismus, der jetzt begonnen hat und in vollem Gang ist'.
Das
heißt: Inge Bell sind die Leute nicht fremd, ihr ist die Mentalität nicht fremd, und
sie hat keine Angst vor den Menschen dort. Sie sieht sich als Wanderer zwischen den
Welten, sie könnte wahrscheinlich nicht immer nur in Deutschland leben,
'Aber
ich könnte wahrscheinlich auch nicht immer nur in Osteuropa leben. Nicht desto trotz
sind die Menschen in Osteuropa oftmals wärmer, leidgeprüfter, menschlicher, vielmehr
aufeinander konzentriert, um sich gegenseitig durchs Leben zu helfen, durchs schwere
Leben zu helfen. Das ist eine Eigenschaft, die bei uns im verwöhnten Westen doch etwas
verloren gegangen ist. Das ist etwas, was ich als Mensch verstehe und auch als Journalist
verstehe und gerne vermitteln möchte.'
Sie möchte den Menschen gerne hier
vermitteln, wie es dort ist, wie die politischen, die sozialen, die wirtschaftlichen
Veränderungen sind, sie möchte andererseits aber auch den Menschen dort vermitteln,
dass es doch noch eine andere Welt gibt, eine Sicherheit gibt, eine Demokratie, einen
Rechtstaat und Menschenrechte gibt. Und wer hilft Inge Bell konkret auf dem finanziellen
Sektor? Nachdem eine bewegende Reportage Inge Bells über geistig behinderte Frauen
in einem Heim an der bulgarisch-türkischen Grenze von der ARD ausgestrahlt wurde,
hat sich sofort ein großer Hilfsverband bei ihr gemeldet: der Landschaftsverband Rheinland,
eine überregionale Trägerorganisation von infrakstrukturellen Projekten.
'Und
die haben gesagt, ganz unabhängig davon, ob sie zuständig sind für irgend ein Auslands-Engagement,
möchten sie doch diesen Frauen in dem Heim helfen. Das ist doch schließlich Europa.
Das ist ein EU-Anwärterstaat, damals war Bulgarien noch Anwärterstaat, mittlerweile
ist es ja schon EU-Mitglied, und hier müssen wir helfen. Und von einer anfänglichen
Hilfe von 10.000 DM damals, ist mittlerweile ein Projekt geworden, das über 500.000
Euro umfasst. Das sind nicht nur bauliche Veränderungen dieser schrecklichen Baracken,
in denen diese Frauen hausten oder auf dem Boden schliefen, es ist auch Fortbildung
des Personals, was ganz, ganz wichtig ist, den Menschen zu zeigen: wie geht man um
mit behinderten Menschen, wie integriert man sie auch in die Gesellschaft. Es ist
also auch wichtig, Visionen zu entwickeln'.
Inge Bell ist nicht nur eine
leidenschaftliche Informations-Journalistin, sondern sie betreibt ebenso einen investigativen,
sozialpolitisch orientierten Journalismus. Dabei setzt sie sich persönlich für das
Entstehen von immer neuen Hilfswerken ein. Das erfordert oft auch einen längeren Aufenthalt
in den betreffenden Balkanländern. Sie hat sich in den letzten Jahren sogar auf organisierte
Kriminalität spezialisiert, auf Drogen- und Waffenhandel, Menschenhandel, Prostitution.
Das ist nicht ohne Gefahren. Arbeit, die viel Mut abverlangt.
'Ich bin
jetzt bestimmt nicht der Mensch, der sagt, ich gehe für eine Reportage bis ins letzte
und nehme das größte Risiko auf mich, nein. Ich versuche, mich und auch meine Kameraleute
nicht zu gefährden. In der Regel glaube ich einschätzen zu können, zum Beispiel wenn
ich mit Menschenhändlern Kontakt habe, mit Zuhältern aus dem Balkan, ich versuche
in der Regel nicht mich zu gefährden, nach dem Motto: ich will die letzte Information
da rausholen, auch wenn es mir dann an den Kragen geht. - Sie fragen mich nach meinem
Bild von Männern generell. Also ich sehe natürlich Männer, die Verbrecher sind. Menschenhändler,
Zuhälter: Das sind Verbrecher. Und das bedrückt mich auch zutiefst. Ich sehe auf der
anderen Seite auch Nutznießer, Freier, die zu Prostituierten gehen, Freier, die auch
zu Zwangsprostituierten gehen, ob wissentlich oder nicht wissentlich. Gut, die große
Menge der Freier wird schon nicht ganz bewusst und pervers Zwangsprostituierte aufsuchen
und sie ausnutzen. Die meisten haben es nicht wirklich präsent, dass sie wirklich
eine Frau, einen Menschen vor sich haben, aber sie suchen die kurzfristige Entspannung,
das kurzfristige Amusement und sie sehen nicht den Menschen vor sich, sondern die
Funktion der Prostituierten. Schlimm ist es, wenn sie auf Zwangsprostituierte treffen
und diese Frauen wirklich ausbeuten und ausnutzen und misshandeln. - Freiertum zieht
sich durch alle Schichten der Gesellschaft: vom Studenten bis zum Professor, vom LKW-Fahrer
bis zum Fachmann, das sind ganz normale Männer der Gesellschaft. Schätzungen besagen,
dass angeblich jeder dritte Mann Prostituierten-Kontakte hat. Dass täglich in Deutschland
1 Million Männer Prostituierten-Kontakte haben. Das heißt: Das ist ein ganz breites
Phänomen in unserer Gesellschaft.'
Inge Bell ist aber auch der Meinung,
dass es eine ganz breite Masse von Männern gibt, die in Punkto Zwangsprostitution
sehr wohl sensibilisierbar sind. Das sind die Männer, die man ins Boot holen müsste,
mit denen man auch Hilfe aufbauen könnte. Das Männerbild Inge Bells ist bei weitem
nicht gestört durch die Beschäftigung mit diesem Thema. Sie ist selbst glücklich verheiratet
und bezeichnet Männer übrigens im Großen und Ganzen als eine wunderbare Spezies. Sie
ist der Meinung, dass man auf dem Gebiet der Prostitution, Sexualität, eheliche Treue,
noch viel aufklären müsse, gemeinsam mit Männern aufklären müsse. Denn Zwangsprostitution
sei kein Frauenthema, es sei genauso ein Thema für Männer. Deshalb plädiere sie immer
für eine Vermännlichung des Themas, für eine gemeinsame, partnerschaftliche Lösung
dieser Probleme. Inge Bell hat das Thema 'Migration' zu ihrem Lebensthema gemacht
und geht ihrer selbstauferlegten Pflicht und Aufgabe ganz konkret nach. Wir fragen
sie nach der Rolle der Kirche bei ihrem Engagement:
'Es ist bei allen meinen
Hilfsprojekten nicht geglückt, die orthodoxe Kirche in Rumänien, Russland oder Bulgarien
zu gewinnen, sich für die schwächsten der Gesellschaft dort einzusetzen. Das ist auch
eine Tradition, die diesen Kirchen verloren gegangen ist, über die Zeiten des Kommunismus.
Ich erlebe aber auf der anderen Seite, wenn ich mit den Kirchen in Deutschland zusammenarbeite,
sei es mit der evangelischen, sei es mit der katholischen Kirche, - und ich spreche
hier vor allem das Hilfswerk 'Renovabis' oder auch Solwodi, die Hilfsorganisation
der katholischen Ordensschwester Lea Ackermann an, dass das wirkliche, tatkräftige
Hilfe ist. Tatkräftige und unkomplizierte Hilfe.'
Inge Bell hat den angesehenen
Europäischen Frauenpreis erhalten. Dabei wurde sie für ihren Kampf gegen den Menschenhandel
und gegen die Zwangsprostitution und für ihren bedingungslosen, teils ehrenamtlichen
Einsatz für wehrlose Menschen geehrt. Eine hohe Auszeichnung.
'Ich war
total gerührt. Dieser Preis bedeutet mir sehr, sehr viel. Denn erstens ist es eine
Anerkennung meiner Tätigkeit und meiner Projekte, wo ich bis jetzt immer gedacht habe:
na ja, das müsste doch eigentlich ein jeder machen, ein jeder Journalist, der den
Notstand sieht, kann mit seinen Möglichkeiten etwas voranbringen, aber ich habe jetzt
erst gesehen, dass es gar nicht so ist! Dass viele, auch wenn sie helfen könnten,
es nicht tun. Ich würde aber auch von keinem Journalisten verlangen, dass er das tut.
Man braucht diese Anerkennung, oh ja, man braucht sie. Auf der anderen Seite war es
für mich auch eine sehr große Ehre, denn ich habe unglaublich vorbildliche Vorgängerinnen
auch für diesen Preis: zum Beispiel Schwester Lea Ackermann, die mich sehr geprägt
hat. In ihrem Einsatz mit Solwodi, also für den Verein, den sie für Zwangsprostituierte
gegründet hat, zunächst in Afrika, jetzt in Europa, die sich einsetzt für die, die
von Zwangsheirat bedroht sind, die sich einsetzt für Frauen in Not, und das tut Not,
und sie ist mir ein großes Vorbild immer gewesen: jemand, der immer unkompliziert,
tatkräftig und energisch anpackt, wo Hilfe Not tut. Eine weitere prominente Preisträgerin,
Prinzessin Irina zu Sayn-Wittgenstein, ist mir mit ihrer Behindertenhilfe in Polen
ein großen Vorbild, oder Gesine Schwan, die mit ihrer deutsch-polnischen universitären
Begegnung wirklich zur Völkerverständigung beiträgt. Was wünsche ich mir, wenn ich
in die Zukunft schaue? Ich sehe, dass Frauen eine ganz, ganz große Stärke haben. Frauen
in Ost und West. Ich wünschte mir so sehr, dass die Zukunft etwas weiblicher würde.
Sie ist noch sehr männlich geprägt. Ich wünschte mir, Frauen hätten mehr Chancen.
Sie kämpfen schon so hart. Sie hätten mehr Chancen im Beruf, sie hätten mehr Chancen,
ihr altes Dilemma 'Kinder und Beruf 'zu vereinbaren, dieses Dilemma zu überwinden.
Ich wünschte mir, auch Männer würden das fördern. Und letztendlich soll die Zukunft
nicht weiblich sein, sie soll etwas weiblicher sein, und ich wünschte mir einfach
eine partnerschaftliche Gestaltung unserer Welt. Eine partnerschaftliche Überwindung
unserer großen, sozialen und gesellschaftlichen Probleme. Ich sehe immer noch, dass
sehr viel getan werden muss, um den Frauen die Hälfte des Platzes in der Welt zukommen
zu lassen, der ihnen eigentlich zusteht. (rv 24.08.2008 Aldo Parmeggiani) 'Aktenzeichen' Inge
Bell - Frau Europas Sendung am 24. August 2008