2008-08-22 11:35:28

Schweiz: Die neuen Grenzen junger Menschen


RealAudioMP3 Es begann 1994 in Spanien. Jugendliche versammelten sich auf öffentlichen Plätzen mit dem erklärten Ziel, sich zu betrinken. Botellon, wie die Veranstaltung heisst, hat nun auch die Schweiz erreicht. Am 18. Juli fand in Genf das erste Massentrinken statt und in Zürich haben sich mehr als 5.000 junge Menschen auf einen Internetaufruf hin erklärt, an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen.
So richtig lustig findet außer den Teilnehmern die Idee eigentlich niemand. Die Frage, ob solche Veranstaltungen mit den bekannten Auswirkungen auf die Gesundheit der Beteiligten, auf Ruhe und Ordnung verboten werden sollten oder nicht, bleibt unter den zuständigen Behörden sehr umstritten. Ein Soziologe verstieg sich sogar zur Hypothese, dass kollektive Trinkgelage bedeutend harmloser seien als individuelle Berauschung, da an solchen Anlässen doch etwas wie soziale Kontrolle herrsche, dass in der Großgruppe mehr Gewähr geboten sei, dass Jugendlichen, die in existentielle Notlage geraten, geholfen werde. Es gäbe einige Beispiele, die diese Annahme widerlegen, dass Menschen umgeben von andern, die sich unbeteiligt geben, allein gelassen in höchst kritische Situationen geraten können.
Das Dilemma der Behörden erklärt sich vielleicht auch aus den Widersprüchen, die in unserer Gesellschaft bestehen. Jugendliche werden zum Beispiel angehalten, sich sportlich zu betätigen. Die sportlichen Großanlässe aber, an denen Jugendliche aktiv teilnehmen oder als Zuschauer sich einfinden, sind scheinbar ohne die sichtbare Werbung der Tabak- und Alkoholindustrie nicht machbar.
Die meisten Jugendlichen sind eher knapp bei Kasse. An Jugendliche soll kein Alkohol verkauft werden, aber ein Teil der alkoholischen Getränke ist billiger als nichtalkoholische Getränke. Eine Erhöhung der Alkohol- oder Tabaksteuern aber, um Jugendliche wirksam vom Kauf dieser Produkte fernzuhalten, weckt vielfältige Widerstände. Dabei ist erwiesen, dass Jugendliche sehr preissensibel reagieren.
Jugendlichen werden höhere Hürden gestellt, bis sie ein Motorfahrzeug lenken dürfen und einige Staaten sind dazu übergegangen, Fahrzeuge, die von jugendlichen Neufahrern gelenkt werden, speziell zu kennzeichnen. Gleichzeitig wirbt ein Teil der Autoindustrie mit der Beschleunigungsfähigkeit und dem Spitzentempo ihrer Produkte.
Jugendliche, so meine ich, haben ein feines Sensorium für die Echtheit unserer Botschaften und sie nehmen sich das Recht heraus, mindestens jene Grenzen zu überschreiten, deren Verletzung bei Erwachsenen zumindest toleriert wird. Und gelegentlich rütteln sie auch an den Geboten und Verboten, die sich in einer Gesellschaft verfestigt haben. Dies gehört zur notwendigen Selbstfindung.
Ebenso unbestritten ist, dass sich in der Jugendzeit Präferenzen und Verhaltensweisen einstellen und verfestigen, die das lebenslange Handeln bestimmen können. Die Art und Weise, wie Konflikte gelöst werden zum Beispiel, mit oder ohne Gewalt. Die Lust oder Unlust an Bewegung und Sport auch bis hin zur Bereitschaft, am gesellschaftlichen und politischen Geschehen aktiv zu partizipieren.
Einige Kantone der Schweizerischen Eidgenossenschaft revidieren zurzeit ihre Verfassungen. Zwei Reformtendenzen sorgen für hitzige Debatten. Die Art und Weise, wie die ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz, die rund einen Siebtel der Bevölkerung ausmacht, in die politischen Rechte und Pflichten integriert werden kann, und die Frage des Stimm- und Wahlrechtalters, das von 18 Jahren auf 16 Jahre gesenkt werden soll.
Ich meine, beide Ansätze sind höchst prüfenswert. In der Mitverantwortung können Jugendliche im Land, auch solche mit Migrationshintergrund reifen und wachsen. Bedingung ist allerdings, dass wir, die Etablierten und unbestritten Erwachsenen, diese Verantwortung in unserm Handeln dokumentieren.
Vielleicht hat der Soziologe, der zu mehr Gelassenheit mit der Erscheinung Botellon mahnte, nicht ganz Unrecht. Ein einmaliges Massentrinken, so unnötig und stupid es ist, verdirbt die Jugend nicht. Ob sie aber bereit ist, die Werte zu übernehmen, die wir ihr gerne übertragen würden, hängt davon ab, wie wir in Worten und Taten mit diesen Erwartungen umgehen. Und da bleibt vor oder nach Botellon noch einiges zu korrigieren.
(Dies ist ein Wochenkommentar von Iwan Rickenbacher, Schweizer Kommunikationsberater und ehemaliger Generalsekretär der Christdemokratischen Volkspartei.)
(rv 21.08.2008 gs)








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