Es begann 1994 in
Spanien. Jugendliche versammelten sich auf öffentlichen Plätzen mit dem erklärten
Ziel, sich zu betrinken. Botellon, wie die Veranstaltung heisst, hat nun auch die
Schweiz erreicht. Am 18. Juli fand in Genf das erste Massentrinken statt und in Zürich
haben sich mehr als 5.000 junge Menschen auf einen Internetaufruf hin erklärt, an
einer solchen Veranstaltung teilzunehmen. So richtig lustig findet außer den Teilnehmern
die Idee eigentlich niemand. Die Frage, ob solche Veranstaltungen mit den bekannten
Auswirkungen auf die Gesundheit der Beteiligten, auf Ruhe und Ordnung verboten werden
sollten oder nicht, bleibt unter den zuständigen Behörden sehr umstritten. Ein Soziologe
verstieg sich sogar zur Hypothese, dass kollektive Trinkgelage bedeutend harmloser
seien als individuelle Berauschung, da an solchen Anlässen doch etwas wie soziale
Kontrolle herrsche, dass in der Großgruppe mehr Gewähr geboten sei, dass Jugendlichen,
die in existentielle Notlage geraten, geholfen werde. Es gäbe einige Beispiele, die
diese Annahme widerlegen, dass Menschen umgeben von andern, die sich unbeteiligt geben,
allein gelassen in höchst kritische Situationen geraten können. Das Dilemma der
Behörden erklärt sich vielleicht auch aus den Widersprüchen, die in unserer Gesellschaft
bestehen. Jugendliche werden zum Beispiel angehalten, sich sportlich zu betätigen.
Die sportlichen Großanlässe aber, an denen Jugendliche aktiv teilnehmen oder als Zuschauer
sich einfinden, sind scheinbar ohne die sichtbare Werbung der Tabak- und Alkoholindustrie
nicht machbar. Die meisten Jugendlichen sind eher knapp bei Kasse. An Jugendliche
soll kein Alkohol verkauft werden, aber ein Teil der alkoholischen Getränke ist billiger
als nichtalkoholische Getränke. Eine Erhöhung der Alkohol- oder Tabaksteuern aber,
um Jugendliche wirksam vom Kauf dieser Produkte fernzuhalten, weckt vielfältige Widerstände.
Dabei ist erwiesen, dass Jugendliche sehr preissensibel reagieren. Jugendlichen
werden höhere Hürden gestellt, bis sie ein Motorfahrzeug lenken dürfen und einige
Staaten sind dazu übergegangen, Fahrzeuge, die von jugendlichen Neufahrern gelenkt
werden, speziell zu kennzeichnen. Gleichzeitig wirbt ein Teil der Autoindustrie mit
der Beschleunigungsfähigkeit und dem Spitzentempo ihrer Produkte. Jugendliche,
so meine ich, haben ein feines Sensorium für die Echtheit unserer Botschaften und
sie nehmen sich das Recht heraus, mindestens jene Grenzen zu überschreiten, deren
Verletzung bei Erwachsenen zumindest toleriert wird. Und gelegentlich rütteln sie
auch an den Geboten und Verboten, die sich in einer Gesellschaft verfestigt haben.
Dies gehört zur notwendigen Selbstfindung. Ebenso unbestritten ist, dass sich in
der Jugendzeit Präferenzen und Verhaltensweisen einstellen und verfestigen, die das
lebenslange Handeln bestimmen können. Die Art und Weise, wie Konflikte gelöst werden
zum Beispiel, mit oder ohne Gewalt. Die Lust oder Unlust an Bewegung und Sport auch
bis hin zur Bereitschaft, am gesellschaftlichen und politischen Geschehen aktiv zu
partizipieren. Einige Kantone der Schweizerischen Eidgenossenschaft revidieren
zurzeit ihre Verfassungen. Zwei Reformtendenzen sorgen für hitzige Debatten. Die Art
und Weise, wie die ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz, die rund einen Siebtel
der Bevölkerung ausmacht, in die politischen Rechte und Pflichten integriert werden
kann, und die Frage des Stimm- und Wahlrechtalters, das von 18 Jahren auf 16 Jahre
gesenkt werden soll. Ich meine, beide Ansätze sind höchst prüfenswert. In der Mitverantwortung
können Jugendliche im Land, auch solche mit Migrationshintergrund reifen und wachsen.
Bedingung ist allerdings, dass wir, die Etablierten und unbestritten Erwachsenen,
diese Verantwortung in unserm Handeln dokumentieren. Vielleicht hat der Soziologe,
der zu mehr Gelassenheit mit der Erscheinung Botellon mahnte, nicht ganz Unrecht.
Ein einmaliges Massentrinken, so unnötig und stupid es ist, verdirbt die Jugend nicht.
Ob sie aber bereit ist, die Werte zu übernehmen, die wir ihr gerne übertragen würden,
hängt davon ab, wie wir in Worten und Taten mit diesen Erwartungen umgehen. Und da
bleibt vor oder nach Botellon noch einiges zu korrigieren. (Dies ist ein Wochenkommentar
von Iwan Rickenbacher, Schweizer Kommunikationsberater und ehemaliger Generalsekretär
der Christdemokratischen Volkspartei.) (rv 21.08.2008 gs)