China: Führer und Verführte - Wochenkommentar von Iwan Rickenbacher, Schweiz
Die Diskrepanz zwischen
zwei Bildern dieser Woche hätte nicht grösser sein können. Panzergefechte zwischen
russischen und georgischen Soldaten rund um Abchasien und Südossetien einerseits und
gleichentags das Fernsehbild einer georgischen und einer russische Athletin, beide
Medaillengewinnerinnen in einem sportlichen Schiesswettkampf an den olympischen Spielen,
die sich fast ostentativ umarmen. Ohne Zweifel wäre es auch möglich gewesen, sogenannt
einfache Menschen im ossetischen Zchinwali zu zeigen und im georgischen Gori, welche
die gewaltsame Politik ihrer Führungen trotz persönlichen Einbussen befürworten. Was
bringt Menschen dazu Entscheide mitzutragen ja gar zu befürworten, die fundamentale
Bedürfnisse nach Sicherheit und Wohlergehen mindestens zeitweise dramatisch in Frage
stellen können? Was bringt andere dazu, selbst in Extremsituationen auf Gewalt und
ihre Risiken zu verzichten? Zufallsprodukte sind solche Entscheide selten. Sie
gründen meistens auf Erfahrungen, Idealen, Vorlieben und Vorurteilen, die sich über
lange Zeit hinweg aufgebaut und in Form von Präferenzen für das eine oder das andere
Verhaltensmuster festgelegt haben. Positive oder negative Ereignisse im persönlichen
Umfeld können diese Muster zusätzlich untermauern. Diese Prozesse beginnen im frühen
Kindesalter im Elternhaus und in der Erfahrung, wie zum Beispiel Konflikte ausgetragen
und Meinungsunterschiede geklärt werden. Einen wichtigen Beitrag leisten die Schulen
und ihre Art, wie sie mit unterschiedlichen Menschen und Völkern und ihrer spezifischen
Geschichte umgehen. Eine hohe Verantwortung tragen Politikerinnen und Politiker.
Sie haben einen bevorzugten Zugang zu jenen Medien, die viele Menschen auch mit emotional
aufgeladenen Botschaften erreichen. Sie können durch ihre Sprache und ihre Zeichen
die Hürden senken oder heben, bis Migrantensiedlungen an den Stadträndern abgefackelt
oder Minderheiten schikaniert werden. Aber allmächtig sind sie nicht, die Politikerinnen
und Politiker. Gegen die wirklichen Alltagserfahrungen der Menschen können sie sich
vielfach nicht durchsetzen. Die Geschichte zeigt, wie Menschen hohe Risiken auf sich
nahmen und immer wieder nehmen, um der Staatspropaganda zu trotzen. Wie die Erfahrung
guter Nachbarschaft für viele wegleitender war und ist als die Verhetzung von Volksgruppen. Die
beiden Medaillengewinnerinnen aus Georgien und aus Russland sind sich wahrscheinlich
schon in vielen Wettkämpfen begegnet. Sie haben möglicherweise gemeinsam Siege und
Niederlagen bewältigt und sich Lob und Trost gespendet. Sie wissen, was es braucht,
an Überwindung, an Konzentration und an Fleiss, um olympische Ehren zu erlangen. Sie
fühlen sich solidarisch. Solche Menschen sind weitgehend davor gefeit, den andern
zum Feindbild zu erklären, nur weil er einen andern Pass trägt und eine andere Fahne
schwenkt. Die lange Friedensperiode in Westeuropa gründet letztlich nicht auf einem
Willensakt der drei Politiker und Europäer Adenauer, Schumann und de Gasperi. Die
drei grossen Staatsmänner haben allerdings mit der Montanunion den Grundstein gelegt
für ein Europa, in dem sich die Menschen ohne Hürden begegnen und auch deshalb schätzen
lernen können. Dass alle drei in ihren Ländern in Grenzregionen geboren worden waren,
in denen man auch die Nachbarn drüben kennen und schätzen lernt, ist wahrlich kein
Zufall. Anstatt die Grenzen zwischen Ossetien, Abchasien und Georgien hermetisch
zu sichern, sollte Europa dafür sorgen, dass sich die Menschen hüben und drüben frei
bewegen können. Dann werden sich bald nicht nur die Schützinnen umarmen. (rv 16.08.2008
mc)