2008-08-16 08:31:53

China: Führer und Verführte - Wochenkommentar von Iwan Rickenbacher, Schweiz


RealAudioMP3 Die Diskrepanz zwischen zwei Bildern dieser Woche hätte nicht grösser sein können. Panzergefechte zwischen russischen und georgischen Soldaten rund um Abchasien und Südossetien einerseits und gleichentags das Fernsehbild einer georgischen und einer russische Athletin, beide Medaillengewinnerinnen in einem sportlichen Schiesswettkampf an den olympischen Spielen, die sich fast ostentativ umarmen.
Ohne Zweifel wäre es auch möglich gewesen, sogenannt einfache Menschen im ossetischen Zchinwali zu zeigen und im georgischen Gori, welche die gewaltsame Politik ihrer Führungen trotz persönlichen Einbussen befürworten.
Was bringt Menschen dazu Entscheide mitzutragen ja gar zu befürworten, die fundamentale Bedürfnisse nach Sicherheit und Wohlergehen mindestens zeitweise dramatisch in Frage stellen können? Was bringt andere dazu, selbst in Extremsituationen auf Gewalt und ihre Risiken zu verzichten?
Zufallsprodukte sind solche Entscheide selten. Sie gründen meistens auf Erfahrungen, Idealen, Vorlieben und Vorurteilen, die sich über lange Zeit hinweg aufgebaut und in Form von Präferenzen für das eine oder das andere Verhaltensmuster festgelegt haben. Positive oder negative Ereignisse im persönlichen Umfeld können diese Muster zusätzlich untermauern.
Diese Prozesse beginnen im frühen Kindesalter im Elternhaus und in der Erfahrung, wie zum Beispiel Konflikte ausgetragen und Meinungsunterschiede geklärt werden. Einen wichtigen Beitrag leisten die Schulen und ihre Art, wie sie mit unterschiedlichen Menschen und Völkern und ihrer spezifischen Geschichte umgehen.
Eine hohe Verantwortung tragen Politikerinnen und Politiker. Sie haben einen bevorzugten Zugang zu jenen Medien, die viele Menschen auch mit emotional aufgeladenen Botschaften erreichen. Sie können durch ihre Sprache und ihre Zeichen die Hürden senken oder heben, bis Migrantensiedlungen an den Stadträndern abgefackelt oder Minderheiten schikaniert werden.
Aber allmächtig sind sie nicht, die Politikerinnen und Politiker. Gegen die wirklichen Alltagserfahrungen der Menschen können sie sich vielfach nicht durchsetzen. Die Geschichte zeigt, wie Menschen hohe Risiken auf sich nahmen und immer wieder nehmen, um der Staatspropaganda zu trotzen. Wie die Erfahrung guter Nachbarschaft für viele wegleitender war und ist als die Verhetzung von Volksgruppen.
Die beiden Medaillengewinnerinnen aus Georgien und aus Russland sind sich wahrscheinlich schon in vielen Wettkämpfen begegnet. Sie haben möglicherweise gemeinsam Siege und Niederlagen bewältigt und sich Lob und Trost gespendet. Sie wissen, was es braucht, an Überwindung, an Konzentration und an Fleiss, um olympische Ehren zu erlangen. Sie fühlen sich solidarisch.
Solche Menschen sind weitgehend davor gefeit, den andern zum Feindbild zu erklären, nur weil er einen andern Pass trägt und eine andere Fahne schwenkt.
Die lange Friedensperiode in Westeuropa gründet letztlich nicht auf einem Willensakt der drei Politiker und Europäer Adenauer, Schumann und de Gasperi. Die drei grossen Staatsmänner haben allerdings mit der Montanunion den Grundstein gelegt für ein Europa, in dem sich die Menschen ohne Hürden begegnen und auch deshalb schätzen lernen können. Dass alle drei in ihren Ländern in Grenzregionen geboren worden waren, in denen man auch die Nachbarn drüben kennen und schätzen lernt, ist wahrlich kein Zufall.
Anstatt die Grenzen zwischen Ossetien, Abchasien und Georgien hermetisch zu sichern, sollte Europa dafür sorgen, dass sich die Menschen hüben und drüben frei bewegen können. Dann werden sich bald nicht nur die Schützinnen umarmen.
(rv 16.08.2008 mc)







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