Der Bischof von Banja
Luka ruft zum Gebet für Radovan Karadzic auf. Der frühere Führer der bosnischen Serben,
für den bald in Den Haag ein Prozess beginnt, sei eigentlich ein „armer Mann“ und
nur ein Rädchen in einer Tötungs- und Vertreibungs-Maschinerie gewesen, meinte Bischof
Franjo Komarica im Gespräch mit Radio Vatikan. Komaricas Bistum liegt in der heutigen
„Serbischen Republik Bosnien“; während des Bosnienkriegs war er in seiner Residenz
unter Hausarrest gestellt und immer wieder bedroht worden. Hören Sie hier ein Gespräch
mit Bischof Komarica – die Fragen stellt Stefan Kempis.
Radovan Karadzic
ist verhaftet und nach Den Haag überstellt worden; welche Gefühle rufen diese Bilder
von seiner ersten Anhörung, die man auch im Fernsehen sehen konnte, in Ihnen wach?
Ich
möchte betonen: Wir, die wir hier diese furchtbare Kriegszeit miterlebt haben, haben
hautnah zu spüren bekommen, wie gewaltig und tödlich die Macht des bösen Geistes ist.
Und dass der Mensch, der ein Opfer dieses bösen Geistes wird, wirklich arm ist. Die
jüngsten Ereignisse, also die Verhaftung eines Menschen, der damals mitgewirkt hat
– leider Gottes zerstörerisch –, machen uns wieder bewußt, dass der Kampf zwischen
dem Guten und dem Bösen auch bei uns hier weiterhin aktuell ist. Das Echo auf diese
Verhaftung war ja auch unterschiedlich: Viele haben sich gefreut, dass sich endlich
die so genannte internationale Gerechtigkeit entschlossener zeigt, das Verbrechen
auch wirklich als negativ zu bewerten. Es gab aber auch Stimmen, die dagegen protestiert
haben und die nach wie vor behaupten, da sei ein gerechter Mensch verhaftet worden.
Mit anderen Worten: Es gibt auch heute unterschiedliche Zugänge zu den Tatsachen.
Die einen sagen: Das Böse ist böse. Die anderen sagen: Nein, das Böse ist nicht das
Böse. Das ist für mich das Geheimnis von gestern, heute und sicher auch von morgen
– und dieses Geheimnis heißt: Der Mensch. Wenn der Mensch nicht dem guten Geist gegenüber
offen ist, dann ist er sehr leicht dem bösen Geist ausgeliefert. Und allzulange, viel
zu viele Jahre sind wir hier gezwungen, gerade das zu akzeptieren: dass das Verbrechen
von gestern jetzt Normalität geworden ist. Dass ganz konkret die ethnische Säuberung,
die Tötung, das Ausradieren der Volksgruppen hier bei uns – das erleben wir tagtäglich
– jetzt normal geworden ist. Auch für die Menschen, die mit Recht behaupten, sie seien
hochzivilisierte, sehr humane Menschen, Vertreter der internationalen Politik, Kultur
und Zivilisation. Das ist für mich besorgniserregend: dass noch immer viele Verbrecher
frei sind. Dass viele Mörder noch immer frei sind, und zwar nicht nur frei, sondern
auch in den einflußreichen, gesellschaftlichen und politischen Funktionen. Das ist
besorgniserregend für die Weiterentwicklung unserer Zivilisation. Deswegen ist jetzt
die Verhaftung dieses armen Mannes (Karadzic) doch ein Zeichen, dass das Verbrechen
sich nicht lohnt. Viele haben natürlich gleich so reagiert: Dass das Verhaften
dieses armen Mannes jetzt erfolgt ist, bedeutet nur, dass die Hauptdrahtzieher eben
beschlossen haben, das jetzt zu tun. Dass man schon längst gewußt habe, wo er sei
und was er tue... Er bewegte sich frei, er lebte unter den Menschen usw... So ähnlich
ist das auch mit den anderen hier. Ich möchte wiederholen: Diese furchtbare Kriegs-Tragödie
konnte und mußte noch vor ihrem Ausbruch gestoppt werden. Ich erinnere mich an viele
Leute, die mir sagten: Nein, wir wollen den Krieg nicht stoppen. Er muß jetzt kommen;
wir brauchen diesen lokalen Krieg...
Wenn es jetzt zu einem Prozess gegen
Karadzic kommt – ist das für Sie vor allem ein Signal der Gerechtigkeit, oder befürchten
Sie, dass das viele alte Bilder, Erinnerungen und Emotionen wiederaufrührt und dass
dieser Prozeß daher auch schlecht sein könnte für die Menschen in Ihrem Bistum?
Es
hängt auch sehr von den Medien und den hiesigen Politikern ab. Manche Ereignisse der
letzten Tage schüren leider Gottes wieder Zwietracht... Ich weiß nicht, wer bei uns
hier weiterhin die Öffentlichkeit manipuliert und von welcher Seite das gesteuert
wird. Viele Menschen haben leider Gottes immer noch schlimme Bilder aus den Kriegszeiten
in Erinnerung; deswegen schließe ich nicht aus, dass auch bei vielen jetzt diese schlimmen
Bilder wieder wach werden. Es hängt sehr davon ab, ob man jetzt im Fernsehen, im Radio
oder in den Zeitungen diese Erinnerungen wieder wachruft. Ich persönlich laufe davon
und will schon längst nicht mehr zurückdenken; ich will mich jetzt nicht mehr beschäftigen
mit den schlimmen Zeiten! Wir haben hier ja allzulange Ruinen vor uns, Ruinen nicht
nur der Kirchen – so viele zerstörte Häuser und Dörfer... Ganz wenige Katholiken
sind bis jetzt zurückgekehrt – nur ein Bruchteil der Vertriebenen. Über 95 Prozent
der Katholiken fehlen in der Diözese der Serbischen Republik Bosnien! Das ist furchtbar
– eine furchtbare Tragödie. Eine Ausrottung der katholischen Kirche und eines ganzen
Volkes, des kroatischen Volkes! Und diese Ruinen und die leeren Dörfer – das erinnert
ständig an etwas Furchtbares. Wir wollen kämpfen für eine bessere Zukunft – gerade,
weil wir erlebt haben, wie wenig einfach das menschliche Leben gilt, wollen wir uns
einsetzen für das Gedeihen des Lebens. Also – trotz dieser Erinnerungen und Bilder
spüre ich auch, dass unter den Menschen doch viel positive Energie vorhanden ist,
und diese Energie soll man unterstützen. Ich danke Gott dafür, dass ich sowohl Zeuge
des schrecklichen Vernichtungswahns von seiten des bösen Geistes war als auch Zeuge
einer großartigen Wirkung des guten Geistes – sowohl in Kriegszeiten als auch jetzt
in der Nachkriegszeit.
Wenn Sie jetzt auf einmal Karadzic, den Sie einen
„armen Menschen“ nennen, in seiner Zelle in Den Haag gegenüberstehen würden und ihm
einen Satz sagen könnten – was würden Sie ihm sagen?
„Gott möge Ihnen verzeihen
und Ihnen helfen, dass Sie wirklich Ihre Untaten bereuen.“ Aber er war leider Gottes
auch nur ein Mitarbeiter einer Lawine, die rücksichtslos gegen Menschen gerichtet
ist. Und er hat auch das Recht auf Christus, der für die Verbrecher, die Sünder gestorben
ist. Er hat auch das Recht, sich zu bekehren und zu retten! In meinen Predigten
und Auftritten habe ich immer wieder die Opfer angespornt, sie sollten den ersten
Schritt tun. Vor allem kraft des Glaubens, wenn sie gläubige Menschen sind – da nenne
ich nicht nur die Katholiken, sondern auch die orthodoxen Christen und auch die Moslime.
Wenn sie Gläubige sind, dann müssen sie kraft des Glaubens in der Lage sein, zu verzeihen.
Und die Verbrecher sollten bei sich einen Prozess der Reue erwecken. Sie können keine
Versöhnung anbieten – sie können um Verzeihung bitten, und wir müssen auch den Menschen
verzeihen, selbst wenn sie Gott weiß wie gesündigt haben. Wir müssen uns auch solidarisch
machen mit diesen armen Menschen, die so tief gefallen sind und wirklich so große
Schuld auf sich geladen haben. Ich hatte schon 1996 mit einem sehr hochrangigen
europäischen Politiker gesprochen, der mir damals im Gespräch von einer Stunde dreimal
wiederholte: „Ich bitte Sie, Herr Bischof, und alle Ihre Landsleute um Verzeihung.
Aufgrund meiner verhängnisvollen Unkenntnisse habe ich verhängnisvolle Fehler begangen.
Ich habe Herrn Milosevic grünes Licht gegeben, einen Krieg anzufangen. Aber ich schwöre:
Ich werde das nie wieder tun. Es tut mir leid, dass ich das getan habe.“ Dann habe
ich ihn gefragt: „Liebe Exzellenz – wie kommen Sie jetzt mit Ihrem Gewissen aus? Es
ist zu spät – so viele Ermordete, so viele Vertriebene, so viele Untaten und Verbrechen...
und Sie sind sich bewußt, dass Sie mit- oder sogar hauptschuldig sind, dass es so
gekommen ist?“ Das ist furchtbar... aber leider Gottes... Dieser Politiker stöhnte
buchstäblich vor mir; er war mit seinen Mitarbeitern da und hat das auch öffentlich
gesagt... Das ist auch ein Sieg dieses Menschen, auch wenn er nicht nach Den Haag
kommen wird, wahrscheinlich. Deswegen soll man auch hier das, was verbrecherisch
und unmenschlich war, verurteilen – das ist die Sünde -, aber den Sünder muss man
retten. Für die Sünder muß man beten... „Ich werde für Sie beten – beten Sie auch,
so wie können, dass Gott Ihnen barmherzig sein möge. Und diese Opfer, an denen Sie
mitschuldig sind, mögen die letzten Opfer der Ungerechtigkeit und des egoistischen
Wahnsinns sein!“