Das Recht auf Bildung - Beitrag von Botschafter Hans-Henning Horstmann
Über das Grundrecht
"Bildung" hat sich der Vatikanbotschafter Deutschlands Hans-Henning Horstmann in seiner
monatlichen Kolumne Gedanken macht. Lesen Sie hier seinen Beitrag für Radio Vatikan
im Juni 2008. (rv)
Sehr verehrte Hörerinnen, sehr verehrte
Hörer, „Wohlstand für alle heißt heute Bildung für alle“. So formulierte Bundeskanzlerin
Merkel am 12. Juni 2008 bei ihrer Festrede „60 Jahre soziale Marktwirtschaft“. Die
Zukunft unserer Gesellschaft hängt vom Standard unserer Bildung ab. Wenn in zahlreichen
europäischen Ländern junge Menschen – nicht nur aus Familien mit Migrationshintergrund
- keinen schulischen Abschluss erreichen, ist das ein Alarmsignal für die Gesellschaft.
Politik, Wirtschaft und Kirchen sehen sich aus unterschiedlichen Aspekten herausgefordert.
Eine demokratische, plurale und wirtschaftlich erfolgreiche Gesellschaft setzt ein
dynamisches Bildungsniveau voraus. Wohlstand und eine gute Zukunft für alle heißt
darum Bildung für alle.
Die Soziallehre der Kirche stützt diese Priorität.
Sie gibt der Bildung einen hohen Rang. Das II. Vatikanische Konzil stellte in seinem
Dokument Gaudium et spes fest: "Das Recht auf Zugang zur Bildung ist eng verknüpft
mit den Menschenrechten". Die Entfaltung der Gaben, die jeder Mensch in sich trägt,
gilt nach der Soziallehre zugleich als Chance und ethische Verpflichtung. Folglich
hängen sichtbare Erfolge im Kampf gegen Armut und Verelendung auch an der wirksamen
Überwindung des Analphabetismus und der Bereitstellung tauglicher Bildungs- und Informationssysteme.
Papst Paul VI. hat in seiner richtungweisenden Enzyklika „Populorum Progressio“ aus
diesem Zusammenhang einen Appell abgeleitet, der bis heute aktuell ist: „Bildung ist
das erste Ziel eines Entwicklungsplans“. Wenn Paul VI. im selben Text sagt, Entwicklung
sei ein anderer Name für Frieden, wird deutlich, in welchem Maß Bildung für die kirchliche
Soziallehre eine ethische Verpflichtung ist. In der Praxis ist dies überall dort abzulesen,
wo sich kirchliches Engagement entfalten konnte. Das kirchliche Bildungsangebot ist
gerade heute von besonderer, wachsender und weltweiter Bedeutung.
Wo dagegen
Bildungssysteme versagen oder das Ethos zu Bildung und Leistung schwindet, wächst
Armut. In der globalen Vernetzung der Volkswirtschaften nehmen solche Prozesse schnell
Fahrt auf und führen schließlich zu folgenschweren Verlusten an Chancengerechtigkeit.
Die Bundeskanzlerin fordert daher: „Jeder Mensch muss seine Chancen nutzen können,
unabhängig vom sozialen Status der Eltern“. Sie verknüpft diese Aussage mit dem Modell
der sozialen Marktwirtschaft. Marktwirtschaft kann nur überzeugen – so die Kanzlerin
- „wenn unsere Gesellschaft Einstieg und Aufstieg möglich macht. Geht das verloren,
wenden sich die Menschen von uns ab“. Elementare Voraussetzung für die Nutzung der
Chancengerechtigkeit sind Bildung und Erziehung. Somit rückt das Recht auf Bildung
und dessen Konkretion in den Mittelpunkt der Fähigkeit unserer Gesellschaft, die Zukunft
zu gewinnen.
Bildungsfähigkeit und Bildungswille setzen ein Ethos der Leistungsbereitschaft
voraus. Dieses wird jedoch umso größer, je mehr sich Teilhabe am Erfolg einstellt.
Ludwig Erhard setzte vor 60 Jahren auf die „Kraft der Freiheit“, die „Energie der
Eigeninitiative“ und „Verantwortungsfreude“. Diese Begriffe zeigen, dass Bildung nicht
vom Himmel fällt, sondern erarbeitet werden muss. Sie setzt auch ein bestimmtes Menschenbild
voraus, das aus der Balance von Freiheit und Verantwortung eine humane und zukunftsfähige
Gesellschaft entwickeln kann. Um diese Balance zu halten, bedarf es einer angemessenen
Teilhabe an den Erfolgen, mithin also der konkreten Verteilungsgerechtigkeit.
Dem
Recht auf Bildung entspricht die Pflicht des Staates und der Gesellschaft, gute Bildungsvoraussetzungen
zu schaffen. Aus guten Strukturen werden aber erst neue Chancen, wenn die Menschen
sie annehmen. Jeder muss deshalb aus seinen Talenten auch etwas machen wollen. In
beide Richtungen muss darum der Appell der Bundeskanzlerin gehört werden, wir müssten
eine „Bildungsrepublik“ werden. Erst dann wird aus einem Appell auch eine verbesserte,
den neuen Herausforderungen entsprechende Realität.