Kein guter Tag für
den Lebensschutz. Katholische Bischöfe und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken
sind enttäuscht über die Entscheidung des deutschen Bundestags zur Änderung des Stammzellgesetzes.
Künftig darf in Deutschland mit embryonalen Stammzellen geforscht werden, die vor
dem 1. Mai 2007 im Ausland gewonnen wurden. Bislang galt der Stichtag 1. Januar 2002.
Ein Hintergrundbericht:
Eine erste Reaktion von Prälat Karl Jüsten, Leiter
des katholischen Büros in Berlin: „Wir sagen, dass der Embryo nicht zu Forschungszwecken
missbraucht werden darf, und dass keine Anreize geschaffen werden dürfe, dass Embryonen
zu Forschungszwecken getötet werden. Immerhin haben wir auch weit über das katholische
Lager hinaus Zustimmung für unsere Position bekommen, gleichwohl ist es Niederlage
für den Lebensschutz.“
59 Prozent der Abgeordneten stimmten in namentlicher
Abstimmung am Freitag Vormittag in Berlin für eine „einmalige Stichtagsverschiebung“.
Ältere Zellen ließen nach Ansicht der Forscher qualitativ keine Spitzenforschung mehr
zu. Der Schutzmechanismus des Stammzellgesetzes bleibe bestehen, es werde jedoch an
neueste wissenschaftliche Erkenntnisse angepasst. Außerdem bleibe gewährleistet, dass
von Deutschland aus nicht die Gewinnung embryonaler Stammzellen oder die Erzeugung
von Embryonen zu diesem Zweck veranlasst wird, hieß es in der Begründung des fraktionsübergreifenden
Antrags.
ATMO Der Bundestag hatte am Freitag in zweiter Debatte insgesamt
vier Gesetzentwürfe beraten. Zur Abstimmung standen ein völliger Verzicht auf die
Stichtagsregelung, eine einmalige Aktualisierung, die Bewahrung der bisherigen Rechtslage
oder ein völliges Verbot der Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen. „Eine
Verschiebung des Stichtags kann, ja muss ethisches Misstrauen erzeugen“, betonte
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse von der SPD. „Nicht wenige reden von der
ethischen Wanderdüne. Ich bleibe dabei: Da es kein mich überzeugendes Argument für
eine Verschiebung oder Aufhebung des Stichtages gibt, plädiere ich für die Beibehaltung
des 2002 vereinbarten und vertretbaren Kompromisses, zumal es mit der Forschung an
adulten Stammzellen eine aussichtsreiche unterstützenswerte Möglichkeit gibt, die
ethisch unproblematisch ist.“ Thierse, Mitglied im Zentralkomitee der Katholiken,
ist in diesem Punkt ganz auf Linie der deutschen Bischofskonferenz. Der Vorsitzende
Robert Zollitsch hatte im Vorfeld gegen eine Aufweichung des Embryonenschutzgesetzes
votiert: „Schon als das letzte Mal ein Datum eingeführt wurde, war das ein Sündenfall.“
Leben sei nicht verfügbar und Forschungsfreiheit könne nicht gegen den fundamentalen
Lebensschutz abgewogen werden. Die wissenschaftliche Begründung überzeuge nicht,
erklärt auch der Mediziner und Bioethik-Experte der Christdemokraten im Europaparlament,
Peter Liese, direkt nach der Abstimmung im Bundestag: „Es ist eine falsche Entscheidung,
aber sie hat sich ja angedeutet. Das ist sehr bedauerlich, weil die Argumente überhaupt
nicht stichhaltig sind. Die so genannten alten embryonalen Stammzellen sind zur Grundlagenforschung
durchaus noch zu gebrauchen, und alles andere steht sowieso nicht an.“
ATMO Anders
argumentierte am Freitag Morgen in Berlin Bundesjustizministerin Brigitte Zypries: „Eine
Verschiebung des Stichtags im Stammzellgesetz ist verfassungsrechtlich zulässig. Für
den Schutz des Embryos in vitro sorgt bereits das Embryonenschutzgesetz. Beim Stammzellgesetz
geht es dagegen nicht um Embryonen, das dürfen wir nicht vergessen. Es geht um embryonale
Stammzellen, und die sind nicht in der Lage, sich zu einem kompletten Organismus zu
entwickeln, und sie sind auch keine Träger von Grundrechten.“ Menschenwürde
könne Stammzellen nicht zugeschrieben werden, so die deutsche Justizministerin. Unter
den Verfassungsjuristen sei diese Einschätzung eine „ganz singuläre Einzelmeinung“.
Alles
andere als „singulär“ betrachtet der Europapolitiker Liese die jetzt beschlossene
Lockerung des deutschen Stammzellengesetzes. Er befürchtet eine negative Signalwirkung
für andere europäische Staaten und hofft, dass es bei dieser „einmaligen Verschiebung“
des Stichtags bleibt: „Viele mittel- und osteuropäische Staaten sind d und war
Deutschland bisher ein Vorbild. Deswegen finde ich es sehr wichtig, dass wir jetzt
auf keinen Fall weitere Liberalisierungen zulassen. Es wird ohnehin schon schwierig,
den Menschen in anderen europäischen Ländern zu erklären, wie wir es verantworten
können, dass wir selbst sehr strenge Regel zum Umgang mit Embryonen haben, bei dem
Import embryonaler Stammzellen jetzt aber doch sehr liberal sind. Das ist eine gewisse
Doppelmoral.“ Jüsten, Vertreter der Bischofskonferenz in Berlin: „Natürlich
hätte es schlimmer kommen können. Wenn es gar keine Stichtagsregelung mehr gegeben
hätte, dann wäre die vollkommene Forschungsfreiheit gegeben und von Deutschland aus
der Anreiz zur Tötung von Embryonen gegeben worden. Dieser Antrag ist Gott sei Dank
mit Pauken und Trompeten durchgefallen.“ „Sehr gut, sehr interessant“, nannte
der Augsburger Weihbischof Anton Losinger die Bundestagsdebatte. Losinger ist Mitglied
im heute erstmals zusammengetretenen Ethikrat. „Allerdings ist damit das eigentliche
Problem, ob damit nicht weiteren Forderungen nach Änderungen des Stichtages und damit
weiteren Möglichkeiten embryonenverbrauchender Forschung nicht Tür und Tor geöffnet
sind - diese Frage ist nicht beantwortet.“ Auch wenn der Bundestag über das Stammzellgesetz
und nicht über das Embryonenschutzgesetz beraten hat, Losinger sieht hier einen Pferdefuß
und eine gefährliche Weichenstellung.
„Viele Menschen haben mit dem hehren
Schutz der Menschenwürde argumentiert, Argumente, die ja auch die unseren sind, haben
aber dann gesagt: Im letzten muss man es nicht ganz so ernst nehmen.“ Während
Karl Jüsten bei aller öffentlichen Diskussion hier klar von einer Niederlage spricht,
relativiert der Europapolitiker. Die ethischen Positionen der katholischen Kirche
blieben keineswegs ungehört, betont Liese, selbst Mitglied im Zentralkomitee der deutschen
Katholiken. „Was der Bundestag heute gemacht hat, ist eine Entscheidung gegen die
Mehrheit der Bevölkerung. Das kann man machen, wenn die einzelnen Abgeordneten zu
einem anderen Schluss kommen als ihre Wähler. Aber das muss man dann auch sehr gut
begründen können. Ich glaube aber, dass das viele Verantwortliche auch gespürt haben,
und zwar dass sie eigentlich keine Unterstützung für diese Entscheidung hatten. Deswegen
würde ich nicht sagen, dass katholische oder kirchliche Positionen keine Relevanz
mehr haben. Wir müssen sie vielmehr jeden Tag neu in die politische Debatte einbringen.“
Die
Kirche werde bei ihrer Position bleiben und sich weiterhin für die Forschung mit adulten
Stammzellen einsetzen, so der Mainzer Kardinal und langjährige Bischofskonferenz-Vorsitzende
Karl Lehmann schon vor der Abstimmung. Hier müsse der Schwerpunkt liegen, meint CDU-Europaabgeordnete
Peter Liese. „Was ich besonders wichtig finde, ist, dass wir nun nicht als Bremser
der Forschung auftreten, sondern dass wir ganz bewusst die Alternativen unterstützen.
Das ist zum Beispiel in kirchlichen Krankenhäusern möglich, die die Therapie der adulten
Stammzellen vorantreiben. Wir müssen uns alle gemeinsam – also katholische Laien und
die Amtskirche –für diese positiven Möglichkeiten einsetzen. Dies müssen wir nicht
nur mit Worten sondern auch mit praktischen Taten tun.“
War es von Schaden,
dass katholische und evangelische Kirchenvertreter in Deutschland nicht mit einer
Stimme sprachen? Der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Wolfgang Huber, hatte die einmalige
Stichtagsverschiebung für ethisch vertretbar gehalten. Ein gemeinsames Zeugnis wäre
überzeugender gewesen. „Ja, das haben ja auch unsere Bischöfe verschiedentlich
deutlich gemacht. Erzbischof Zollitsch hat auch noch einmal darauf hingewiesen, dass
es sicher schwierig und problematisch war, dass der Ratsvorsitzende der EKD als prominenter
evangelischer Christ sich dafür ausgesprochen hatte. Es gibt ja auch viele andere
evangelische Christen, die unsere Position teilen. Aber die Erfahrung mache ich hier
in Berlin mehr und mehr: Wenn wir als Kirchen in ethischen Fragen, in Lebensschutzfragen
nicht mit einer Stimme sprechen, dann schwächen wir unsere Position, und das kann
eigentlich keiner der beiden Kirchen recht sein.“