Ein österlicher Rundbrief von Bischof Clemens Pickel von Saratov.
Liebe Freunde,
einschließlich der mir unbekannten!
Eine seltsame Anrede, nicht wahr? Es tut
mir leid, und wahrscheinlich noch genauer gesagt: es beschämt mich, dass ich nicht
alle kenne, die meinem Bistum und mir so wohlgesonnen sind, wie ich es manchmal sehr
unerwartet erleben darf. Allen möchte ich danken. Alle möchte ich grüßen, gerade jetzt,
wo wir die Auferstehung unseres Herrn feiern und uns (hoffentlich) ein bißchen näher
an die Geheimnisse unseres Schöpfers herantasten durften.
Zum zehnten Mal weihte
ich die drei heiligen Öle - am Montag in der Karwoche mit den Priestern der Süddekanate
des Bistums - und am Dienstag mit denen aus dem nördlichen Teil. Hier und da waren
je 18 Priester zusammengekommen. Wir nutzten die Begegnungen dann auch zum aktuellen
Erfahrungsaustauch. „Thema und Sorge Nr. 1“ sind immer noch die für uns unerwarteten
Änderungen russischer Visabestimmungen, denen zu Folge Jahresvisa nur noch für 90
Tage pro Halbjahr benutzt werden dürfen. Im Klartext heißt das für die Pfarrer und
Kapläne, aber auch für die meisten unserer Ordensschwestern im Bistum: drei Monate
hier sein – drei Monate draußen. Es gibt die Möglichkeit, eine ständige Aufenthaltsgenehmigung
zu erwerben, aber das ist sehr schwer und mancherorts unmöglich. Unmöglich, weil Ausländer
in Krisengebieten nicht gern gesehen sind, andererorts weil die örtlichen Behörden
das neue Gesetz selbst nicht ganz verstehen, oder in Bezug auf Kirche eigenmächtig
zu eng auslegen usw. usf. Das fordert einen enormen Zeit- und Nervenaufwand, viel
Papier und manchmal einen nahezu bodenlosen Optimismus. Der heilige Franz von Sales
würde es einfach Demut nennen.
Es war schon eine ganze Zeit her, dass ich mich
mit den Seelsorgern getroffen hatte. Für mich selber war es eine wirkliche Freude,
sie wieder zu sehen, schon eine Art Einläuten der drei großen österlichen Tage. Der
Gesundheitszustand eines Priesters und die sichtbare Müdigkeit so mancher, hat mich
besorgt gemacht. Es ist hier aber nicht der Platz, auf alle Einzelheiten einzugehen.
Wie
immer, waren meine Seminaristen aus dem Priesterseminar in Sankt Petersburg gekommen,
um die Heilige Woche mit ihrem Bischof zu feiern. Parallel hatte ich junge Leute aus
dem Bistum eingeladen, um über Berufung zum priesterlichen Dienst nachzudenken. Zwei
waren gekommen. Für manchen vielleicht interessant zu hören, woher die beiden kamen:
der eine aus Alexejewka, dem weit, weit abgelegenen katholischen Dorf, das wir einst
„gefunden“ hatten, nachdem 63 Jahre lang kein Priester mehr dort gewesen war. Der
andere kam aus Vladikavkas, also aus der Pfarrei, zu der auch Beslan gehört, dessen
„Schule Nr. 1“ am 3. September 2004 durch den hundertfachen Kindermord so traurig
berühmt geworden war. Es war gut, dass die beiden dieser Tage hier waren. Sie haben
sich vor ihrer Heimreise mehrfach und sehr aufrichtig bedankt. Rodion aus Alexejewka
brauchte 18 Stunden mit dem Zug, bevor er vom Pfarrer die letzten 100 km mit dem Auto
in sein Dorf gebracht wurde. Zum Glück macht seine Schule gerade Frühjahrsferien.
Albert ist zwei Tage mit dem Zug unterwegs nach Hause. (Dreimal umsteigen.) Morgen
abend wird er in Vladikavkas ankommen. Übermorgen früh geht er wieder zur Uni. Abends
arbeitet er bis Mitternacht als Kellner, um sein Studium bezahlen zu können und seiner
alleinstenden Mutter und seinem Brüderchen ein wenig zu helfen.
Es war gut,
dass die beiden Jugendlichen unseren vier Seminaristen begegnet sind. Das war mehr
wert, als alles Erzählen und Erklären: Vier verschiedene junger Männer von hier, aus
Südrussland, die Priester werden möchten…!
Während wir die Heilige Woche mit
allen bis zur Feier der Osternacht in Saratow verbrachten, war für Sonntag früh ein
Ausflug in die naheliegende Pfarrgemeinde nach Marx geplant. Noch vor dem Aufstehen
kam am Sonntag Morgen der erste „Fröhliche Ostern!“-Anruf, und zwar von einer der
Omas aus den Marxer Nachbardörfern. Einst war ich der Pfarrer für ihr Dorf und habe
eine Gruppe älterer Leute auf den Empfang der Sakramente vorbereitet. Seitdem die
Enkelkinder ihre Omas mit Handys ausgestattet haben, rufen sie von Zeit zu Zeit an.
Sie haben und geben das Gefühl, dass man zu einer Familie gehört, erkundigen sich
nach dem Wohlbefinden und der Arbeit, grüßen fröhlich im Namen aller und legen wieder
auf. Als wir eines Tages vor einer sehr feierlichen Messe in der Kirche darauf hinwiesen,
dass doch alle Handys ausgeschaltet sein mögen, gingen jene Omas an ihre Handtaschen,
zogen Plastiktüten heraus, falteten das darinliegende Taschentuch nach allen vier
Seiten auf und fragten die Nachbarn, wie man so ein Telefon ausmacht…
Jetzt
möchte ich noch von zwei zufälligen Begegnungen am Tag zuvor erzählen. Als ich am
Karsamstag vormittags mit den Seminaristen zur Kirche kam, um die Osternachtslitugie
vor Ort zu besprechen, war die Kirche noch zugeschlossen, und eine junge Frau, Mitte
30, ging gerade weg. Sie hatte die Gottesdienstzeiten am Aushang gelesen. Nach 10
Metern drehte sie sich um, und als sie sah, dass wir beim Pfarrer klingelten, kehrte
sie um und fragte, wie lange die Osternacht denn dauere. Sie wohne 25 km vom Stadtrand
entfernt. (Bis zum Standrand sind es auch 20 km.) Da gibt es nachts keinen Bus mehr.
„Warten Sie mal! Wir fragen den Pfarrer. Vielleicht wohnt dort draussen jemand von
unseren Leuten, der sie mitnehmen kann“, schlug ich ihr vor. Das war der Anfang vom
Gespräch. Sie war gekommen, weil es Zeit wäre, nun endlich zu glauben und zur Kirche
zu gehen. „Wir sind hier die katholische Kirche“, erklärte ich vorsichtig,
um keine Mißverständnisse zu programmieren. „Ich weiß“, war die Anwort, „mein Vater
war deutsch, und meine Mutter stammt aus der Ukraine. Sie wohnt in Milliarator.“ Der
Ortsname weckte Erinnerungen in mir: „Anfang der 90-er sind wir zweimal im Monat dorthin
gefahren. Da waren viele Deutsche, … 35 km von Marx.“ Das wiederum ließ die junge
Frau aufhorchen. „Wie ist denn Ihr Name, Pater? ... Pater Clemens! Meine Mutter hat
manchmal von Ihnen erzählt! Ich möchte mit meinen beiden Töchtern kommen und uns taufen
lassen.“ – „Das geht nicht so schnell. Wir machen lange Vorbereitungskurse, damit
die Leute verstehen, worauf sie sich einlassen.“ – „Ich weiß. An etwas anderes habe
ich auch nicht gedacht.“ ... Ich könnte das weitere Gespräch noch in vielen Einzelheiten
wiedergeben. Schließlich machten wir aus, dass Schwester Irina die Katechese übernimmt
und den Zeitplan mit der jungen Frau abstimmen wird, die übrigens auch Irina heißt.
Ich habe später gehört, dass sich die beiden am Ostersonntag nach der Messe schon
das erste Mal getroffen haben.
Eine zweite, ebenso ungeplante Begegnung löste
im ersten Augenblick mehr Schmerz als Freude aus. Erst später verstand ich den möglichen
Hintergrund der Situation. Direkt nach der höchst feierlichen Osternacht in der gut
gefüllten Kathedrale, stand ich im Vorraum der Kirche und unterhielt mich mit den
Herauskommenden. Eins unserer sehr armen Ehepaare in Saratow kam mit seinem kleinen,
schwerkranken Sohn auf dem Arm der Mutter aus der Kirche und begrüßte mich. Ich glaube,
die beiden haben sich vor etwa drei Jahren taufen lassen. Selber also noch nicht lange
zur Kirche gehörend, hatten sie Gäste mitgebracht. Ein ungefähr elfjähriges Mädchen
stand neben ihnen. Ihr hatte es sehr in der Kirche gefallen. „Ich komme wieder“, war
das erste, was sie mir unbefangen sagte. Während die Vorbeigehenden, wie hier zu Ostern
üblich, mit „Christus ist auferstanden!“ grüßten, trat plötzlich die Mutter des Mädchens
heran, reicht mir die Hand über den Kopf der Tochter hinweg und sagte mit strenger
Stimme: „Guten Abend. Ich war heute das erstemal hier.“ Sie fühlte sich unwohl. Das
sah ich gut. Und als sie ihre Freunde aufforderten, ihre Eindrücke zu beschreiben,
sie sich aber innerlich zu wehren schien, wollte ich ihr vor dem ersten Wort helfen,
das Erlebte erst einmal in Ruhe zu verarbeiten. Aber das arme Ehepaar gab nicht nach:
„Sag schon!“ Und sie begann: „Für mich war das ganze ein Theater.“ Sie ließ dann alles
heraus, was sich in den letzten zwei Stunden in ihr angestaut hatte. Jeden Antwortversuch
brach sie nach zwei bis drei Worten mit neuen, trockenen Emozionen ab. „Theater. Und
den Leute gefällt’s! Das habe ich in ihren Augen gesehen. Ich wundere mich. Nein,
das ist nicht unsere Kirche. Sie sind nicht vor hier. Sie sprechen so anders. Warum
sind sie überhaupt hier? Die Leute waren wirklich froh, und entspannt. Das gibt es
bei uns natürlich nicht. Wie machen Sie das? Nein. Das ist nicht richtig....“ Ganz
zum Schluß ließ sie mir ein wenig Zeit zum Sprechen. Alle Leute um uns herum hatten
sich inzwischen entfernt oder waren schon ganz nach Hause gegangen. Es war doch (Oster-)Nacht!
Die junge Frau hatte mich, für die Situation ungewöhlich, kein einziges Mal beschimpft
und verabschiedete sich dann mit ihrer Tochter an der Hand, formell höflich auf nimmer
Wiedersehen. Mir hatte sich jeder Satz ungewollt tief eingeprägt. Ich war müde und,
ehrlich gesagt, traurig. Erst während des Abendbrots mit meinen Gästen, die schon
gewartet hatten, und später, vor dem Schlafengehen, begann ich zu verstehen, dass
die Frau mit sich selbst gekämpft hatte. Unser Pfarrer, der auch zum „österlichen
Nachtmahl“ kam, nachdem er die Kirche zugeschlossen hatte, erzählten von einer Frau
mit Tochter, die als letzte aus der Kirche ging und vor sich her murmelte „Unglaublich,
unglaublich!“ Er fragte zurück: „...daß Christus auferstaden ist?“ – „Nein“, sagte
sie sehr ruhig. „Wie hier mit Menschen umgegangen wird...“
Liebe Freunde, diesen
Brief habe ich geschrieben, weil ich, ähnlich jener Oma, die am Ostermorgen anrief,
das Gefühl habe, dass wir zu einer Familie gehören. Es war alles nichts besonderes
„für die Zeitung“, was ich geschrieben habe, sondern Alltägliches. Es möge Anteil
geben an unserer Freude, die nicht gemacht ist und die immer wieder durchscheint,
die uns hoffen läßt und die wir gern weiterschenken möchten.
Ich möchte
Sie alle ganz herzlich grüßen und es nie vergessen, dankbar zu sein für die vielen,
vielfältigen Zeichen der Verbundenheit mit den Menschen in meinem Bistum, auch wenn
ich sie heute nicht aufgezählt habe.
Der Herr ist wahrhaft auferstanden! Das
Geheimnis des Bösen hat nicht das letzte Wort. Frohe Ostern Ihnen allen!
Ihr
+ Clemens Pickel Saratow, in der Osteroktav 2008