Wortlaut der Presseerklärung der Frühjahrsvollversammlung
der Österreichischen Bischofskonferenz zum 70-Jahr-Gedenken an die Ereignisse des
März 1938 und deren Folgen
70 Jahre nach den dramatischen Ereignissen des März
1938 gedenken die österreichischen Bischöfe vor allem der vielen, die auf Grund dieser
Ereignisse verfolgt, eingekerkert, verschleppt und ermordet wurden. Unzählige wurden
in den folgenden Jahren in den Tod gerissen oder vertrieben. Die Bischöfe laden die
heute Lebenden ein, in dieses Gedenken an die Opfer einzustimmen. Glaubende tun
dies im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes.
„Denk an die Tage der Vergangenheit,
lerne aus den Jahren der Geschichte", heißt es im Lied des Mose im Alten Testament
(Deuteronomium 32,7). Der Blick auf die Vergangenheit ist notwendig, auch wenn die
Probleme von heute scheinbar ganz andere sind. Wie im Leben des Einzelnen ist auch
im Leben der Völker das Vergangene wirksam, im Guten wie im Bösen.
Im März
1938 wurde Österreich als Staat von der Landkarte gelöscht. Ein Teil des Volkes
jubelte, viele begrüßten den „Anschluss" an Deutschland, weil sie Österreich für nicht
lebensfähig hielten, ein Teil des Volkes weinte, viele waren orientierungslos. Die
Jahre davor hatten nicht dazu beigetragen, den Sinn für das Gemeinsame zu stärken.
Von
den Nachgeborenen wird heute oft die Frage gestellt, warum damals, im März 1938, und
in den sieben düsteren Jahren danach, die Christen - auch ihre Hirten - nicht stärker
der Macht des Hasses, der Unmenschlichkeit und der Diktatur entgegengetreten sind.
Der Versuch einer Antwort muss die kirchliche und die geistig-gesellschaftliche Situation
in den Blick nehmen. Die Historiker haben seither viel zum tieferen Verständnis dieser
Situation und ihrer vielfältigen Ursachen beigetragen.
Alle, die damals als
Bischöfe, Priester, Theologen in der Kirche Verantwortung trugen, standen - wie jeder
einzelne Gläubige - in der Spannung zwischen zwei Weisungen aus dem Neuen Testament.
Auf der einen Seite das Wort aus dem Römerbrief: „Jeder leiste den Trägern der staatlichen
Gewalt den schuldigen Gehorsam" (Röm 13,1), auf der anderen Seite das klare Petrus-Wort
aus der Apostelgeschichte: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg 5,29).
Immer
wieder wurde um die richtige Gewichtung dieser beiden Worte gerungen, wie auch das
Martyrium des Seligen Franz Jägerstätter bezeugt; sie bleibt eine Herausforderung
für jeden, der seinen Glauben ernst nimmt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die
Bedeutung jenes Gesetzes hervorgehoben, das von Gott dem Herzen des Menschen eingeschrieben
ist: „Im Inneren seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht
selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und
zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft" (Gaudium et Spes Nr. 16).
Diese
„Stimme des Gewissens" muss wohl in Österreich - wie in anderen Teilen Mitteleuropas
- durch die geistige Entwicklung seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
bei vielen übertönt worden sein. Die absurde Ideologie des Nationalsozialismus kam
nicht von ungefähr; sie baute auf einem verbreiteten Weltbild auf, das an die Stelle
der Überzeugung von der gleichen Würde aller Menschen auf Grund ihrer Gottebenbildlichkeit
rassistische, antisemitische, nationalistische und völkische Fantasien gesetzt hatte.
In prophetischer Weise formulierte der österreichische Dichter Franz Grillparzer schon
1849: „Von Humanität durch Nationalität zur Bestialität." In Österreich gab es aber
auch vor dem März 1938 viele warnende Stimmen - gerade aus dem Lager der Katholiken.
Zu erinnern ist beispielsweise an Irene Harand, Dietrich von Hildebrand oder den Franziskanerpater
Cyril Fischer. Sie entlarvten die NS-Ideologie als einen Kampf, der sich letztlich
gegen Gott und auch gegen den Menschen richtete. Nach dem „Anschluss" wurden diese
Stimmen gewaltsam zum Schweigen gebracht.
Heute - 70 Jahre danach - erinnern
die Bischöfe an das Wort von Papst Johannes Paul II. im Rahmen seiner großen Vergebungsbitte
im Heiligen Jahr 2000. In seinem Aufruf zur „Reinigung des Gedächtnisses" hatte Johannes
Paul II. die Kirche eingeladen, dass sie „vor Gott hinkniet und Verzeihung für die
vergangenen und gegenwärtigen Sünden ihrer Kinder erfleht". Johannes Paul II. sprach
damals von "der objektiven Verantwortung, die die Christen verbindet, da sie Glieder
des Mystischen Leibes Christi sind, und die die Gläubigen von heute dazu drängt -
im Licht einer genauen historischen und theologischen Kenntnis - zusammen mit der
eigenen Schuld auch die [Schuld] der Christen von gestern anzuerkennen. Auch wenn
wir keine persönliche Verantwortung haben ..., tragen wir doch die Last der Irrungen
und der Schuld derer, die uns vorangegangen sind. Die Verfehlungen der Vergangenheit
anzuerkennen, trägt auch dazu bei, unsere Gewissen angesichts der Herausforderungen
der Gegenwart wieder zu wecken."
Gleichzeitig gilt die Dankbarkeit jenen Söhnen
und Töchtern der Kirche, die bis in den Tod dem Evangelium treu geblieben sind, unter
ihnen die Selige Sr. Restituta Kafka, der Selige Pfarrer Otto Neururer, Provikar Carl
Lampert, Pater Franz Reinisch und Hans Karl Zessner-Spitzenberg. In Dankbarkeit ist
festzustellen, dass es in Österreich seit mehr als 60 Jahren Freiheit, Demokratie,
freie Meinungsäußerung und viel Wohlstand gibt. In dieser Situation sollte es leichter
sein als vor 70 Jahren, die richtigen Entscheidungen im Blick auf das Gemeinwohl zu
treffen.
Im Gedenken an jene, die damals den Mut hatten, gegen den Strom zu
schwimmen, ermutigen die Bischöfe dazu, auch heute Bedrohungen der Menschenwürde entgegenzutreten. (kap
07.03.2008 bp)