Von Sr. Dr.
Aurelia Spendel OP Menschliches Versagen ist ein oft genannter Entschuldigungsgrund,
wenn ein Unglück geschehen ist, das nicht hätte geschehen dürfen. Wenn ein Schaden
entstanden ist, der vermeidbar gewesen wäre. Wenn Umstände eingetreten sind, an denen
Menschen Anteil haben, für deren unglückliches Tun oder Lassen es jedoch nachvollziehbare
Erklärungen gibt.
Menschliches Versagen kann bei jedem und bei jeder von uns
zu finden sein. Denn wer wäre perfekt, hundert Prozent zuverlässig, allwissend, immer
auf dem neuesten Stand, immer top in Form? Niemand, Sie nicht, ich nicht, Ihre Chefin
nicht, nicht Ihr Mann, nicht Ihre Frau, nicht Ihr Hausarzt und Ihre Nachbarin auch
nicht.
Wenn also etwas geschieht, das uns betrifft, etwas, an dem wir nicht
unschuldig sind, das uns aber auch nicht in seiner ganzen Schwere und Bedeutung anzulasten
ist – wie gehen Menschen damit um?
Die einen stecken den Kopf in den Sand:
Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Sich unsichtbar machen. Dann bin ich aus
dem Schneider. Die anderen zeigen mit dem Finger: Der da, die da, die waren es. Die
waren zumindest auch dabei. Nicht nur ich. Die Dritten zucken die Schultern: Da kann
man nichts machen. Schicksal. Ist eben so. Und gehen zur Tagesordnung über.
Ist
es menschliches Versagen, wenn die schöne, junge und dumme Salome auf ihre hasserfüllte
Mutter Herodias hört und von ihrem Stiefvater Herodes den Kopf Johannes, des Täufers,
fordert, als der König schwört, verzückt von diesem Mädchen, ihr alles, was sie will,
zu Füßen zu legen? Oder ist es das Schicksal, dem Johannes nicht ausweichen kann und
dessen todbringender Fortgang ihm klar ist, als er sich mit den Mächtigen im Namen
Gottes anlegt? Wie auch immer, Johannes geht seinen Weg und sein Cousin Jesu geht
ihn mit, aus der Ferne zwar, aber erschüttert und angerührt. Die Gefangennahme des
Johannes kann und will er nicht mit einem bedauernden Kommentar versehen und danach
so tun, als sei nichts gewesen. Sie geht auch ihn an – aber in welcher Weise? Was
folgt für seinen eigenen Weg daraus? Was bedeutet es für ihn, dass der Rufer in der
Wüste, der Herold des nahenden Gottesreiches nicht mehr predigen, nicht mehr taufen,
nicht mehr öffentlich Position beziehen kann?
Als Jesus vom Kerkeraufenthalt
des Johannes erfährt, zieht er sich zurück an den See nach Kafarnaum, wo er zu Hause
ist. Er muss allein sein, geborgen, in Sicherheit. Dabei war es nicht nur die Gefangennahme
des Täufers, die ihm zusetzte. Es war vielleicht auch noch Nachdenken notwendig über
seine dreimalige Versuchung während des vierzigtätigen Aufenthaltes in der Wüste,
deren Bedeutung ihm nun in einem neuen Licht aufging. Zeit der Stille, Zeit des Betens,
Zeit der Trauer und Zeit der Entscheidung. Jesus weiß: Nun muss er Stellung beziehen.
Jetzt ist seine Zeit gekommen.
Was hat seinen Entschluss zum Aufbruch in die
Welt beeinflusst? Matthäus erzählt in seinem Evangelium nichts darüber. Seine Antwort
auf diese Frage ist wie der Schatten eines Baumes, wie das Echo eines Rufes. Nicht
direkt, nur gespiegelt und mittelbar legt der Evangelist eine Spur, wenn er die Vision
des Propheten Jesaja zitiert: Das Volk, das im Dunklen lebte, hat ein helles
Licht gesehen. Denen, die im Schatten des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen.
Das
ist es! Das ist der ausschlagende Impuls. Von da an begann Jesus zu verkünden:
Kehrt um! – so Matthäus. Jesus kann nicht schweigen, wenn der Täufer nicht mehr
reden darf. Er kann sich nicht bewahren, kann diese Botschaft vom Reich Gottes nicht
aufgeben, wenn der andere dafür in den Tod geht. Von da an begann Jesus zu verkünden,
er, der Gottes Wort und Gottes Zeuge ist, redet und schweigt nicht mehr.
Die
Botschaft Jesu entfaltet sich in einem inneren und in einem äußeren Dialog. Seine
Worte sind auf die Menschen ausgerichtet, die sie hören und die ihnen folgen. Aber
diese Worte stehen auch in einer inneren Beziehung zueinander, sie kommunizieren in
sich. Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe – das ist der Ruf an alle. Kommt
her, folgt mir nach – das ist die Berufung der intimen Freunde, der Jünger, unmittelbar
nach dem Entschluss Jesu, öffentlich zu wirken. Umkehr und Berufung gehören zusammen.
Nachfolge ist Ausdruck der Hinwendung zum Himmelreich. Wenn dieses Reich nahe ist,
werden Menschen, Frauen und Männer, zu Menschenfischern werden. Damit Blinde sehen
werden und Tote aufstehen, gibt es Menschen, die wie Licht in der Dunkelheit und wie
Heilkraft in der Krankheit sind.
Es bleibt nicht bei den ersten vorsichtigen
Anfängen. Nicht nur Petrus und Andreas werden gerufen, zwei Männer, die sich verstehen,
zwei, die zusammenarbeiten können, Brüder mit einer gemeinsamen Geschichte, mit der
gleichen Herkunft, der gleichen Sprache, der gleichen Religion. Auch andere werden
angesprochen von diesem neuen Propheten aus Nazareth: zwei weitere Brüder, Jakobus
und Johannes, auch sie eingebunden in einen Generationen alten Kontext, in die gleiche
Verpflichtung, in die gleiche Arbeit. Donnersöhne, Heißsporne wie Petrus, die es den
Menschen nicht leicht machen und sich selber wohl auch nicht. Menschliches Versagen
wird es bei allen vieren geben, Verrat, Anspruchsdenken, Feigheit und Angst. Aber
sie werden – so die Geschichte der ersten Christen nach Tod und Auferstehung Jesu
– aufrecht als Blutzeugen sterben, so wie Johannes für seine Überzeugung starb und
wie ihr Meister sterben wird. Aus dem ersten Anruf wird eine Nachfolgegemeinschaft
geboren, die wie alle menschliche Gemeinschaft zwischen den einen und den anderen,
zwischen Erfolg und Desaster, Reichtum und Not hin und her gehen muss. Und vor allem:
Die immer wieder neu wird aufbrechen und die Netze und Boote, das Lebensnotwendige
eben, wird verlassen müssen.
Menschliches Versagen und die Ungerechtigkeit
des Schicksals werden nicht aus dieser Welt und nicht aus dem Lauf der Zeiten herauskatapultiert
durch die, die sich anrühren lassen von den Blinden und den Todgeweihten. Sie werden
nicht weggezaubert von denen, die berufen sind und die Menschen rufen ins Reich des
Vaters. Menschliches Versagen und die Ungerechtigkeit des Schicksals werden bleiben,
so lange es Tun und Lassen, geboren werden und sterben auf dieser Erde gibt. Aber
sie können getragen und dürfen nicht verschwiegen werden. Ihnen soll Gerechtigkeit
und aber auch Widerstand widerfahren. In allem Versagen und aller Ungerechtigkeit
des Schicksals holt Gottes Leben, unter uns erschienen, aus den gewohnten Kontexten
heraus und nimmt die einen wie die anderen in Dienst für das Evangelium.
Ich
wünsche Ihnen einen ruhigen Sonntag, ohne menschliches Versagen. Einen gesegneten
Sonntag, erfüllt vom Duft des Reiches Gottes. Einen heilenden Sonntag, getragen von
der Gewissheit Ihrer eigenen einmaligen Berufung.