2008-01-23 12:59:08

Indien: Szenen einer Christenjagd


Es war kurz nach Weihnachten, als im indischen Bundesstaat Orissa die Gewalt eskalierte. Hunderte fundamentalistische Hindus überrannten christliche Dörfer. Mit Stöcken, Messern und Gewehren vertrieben sie die Christen in die Wälder. Fünf Menschen wurden dabei getötet. Anschließend zerstörten die Fundamentalisten, was sie an christlichem Besitz finden konnten: Hunderte Geschäfte von Christen wurden zerstört, aber auch 53 Kirchen, sechs Schwesternkonvente, sechs Schülerwohnheime und andere christliche Einrichtungen. Tagelang mussten die geflohenen Christen – unter ihnen Priester und Ordensschwestern – bei nur 5 Grad über Null in den Wäldern ausharren. Doch nach der Rückkehr in die Dörfer fanden sie nichts als Trümmer vor, denn die Gewalt war nicht das Werk einiger Banditen – sie war politisch gesteuert und hatte System.
Das ist auch der Grund, warum bis heute, mehrere Wochen nach den Angriffen, noch immer keine genauen Nachrichten aus der Region zu uns gelangen: Denn die Regierung Orissas lässt niemanden in die betroffene Region. Keine Hilfslieferungen, keine Geistlichen, keine Journalisten. Was man vor Ort über die aktuelle Lage in den überfallenen Gebieten weiß und warum der indische Staat den Überfällen tatenlos zusieht, darüber konnte André Stiefenhofer von Radio Horeb mit dem Erzbischof der Region sprechen: mit dem Steyler Missionar Raphael Cheenath.

Wir dokumentieren hier das Gespräch in der Übersetzung von Radio Horeb.

Herr Erzbischof, warum handelt der indische Staat nicht, um die Christen im Land zu schützen?

Die hinduistischen Fundamentalisten sagen, dass wir Hindus missionieren wollen, indem wir ihnen Hilfen geben. Und darum wollen sie keine Hilfslieferungen von Christen oder anderen Nicht-Regierungsorganisationen. Sie wollen nicht, dass wir Hilfslieferungen senden, weil dadurch der christliche Glaube in dieser Region ausgebreitet werden könnte. Und darum dürfen bis heute weder Regierungsorganisationen noch christliche Organisationen Hilfsgüter in die angegriffenen Gebiete liefern. Denn sie glauben, wenn sie uns davon abhalten, den Menschen zu helfen, werden sie auch weitere Bekehrungen von Hinduisten zum Christentum verhindern. Sie wollen auch nicht, dass die sogenannten „Unberührbaren“, die ausgestoßene Kaste der „Sedhukars“ von uns gefördert werden und Bildung bekommen. Und so indem sie die Kirche aus dem Gebiet vertreiben hoffen Sie, dass sie auch unsere Entwicklungsarbeit, also Erziehungseinrichtungen und Gesundheitsdienste damit vernichten – und die Bevölkerung vom Christentum abhalten können. Sie nennen das dann die Rückkehr zum alten Glauben und sie behaupten, dass das der Hinduismus ist. Aber diese „Sedhukars“, die ausgestoßenen Stämme, sind noch nicht mal Hindus! Sie waren ursprünglich Anhänger von Naturreligionen und haben nicht an die Hinduistischen Götter geglaubt. Aber unter der Androhung von Gewalt sagen sie natürlich, dass sie Hindus sind.
Und darum erlaubt die örtliche Regierung nicht, dass wir Hilfslieferungen schicken. Und als Konsequenz daraus leiden die Menschen dort wirklich sehr. Wir haben versucht, uns mit dem Premierminister von Indien und einigen Ministern zu treffen. Aber bisher gab es keine Antwort und auch keine Erlaubnis unseren Leuten zu helfen. Bis heute durften wir noch nicht einmal den Ort der Unruhen besuchen! Denn wahrscheinlich haben die Behörden Angst, dass die Geschehnisse dort auch weit außerhalb der Region um Orissa herum bekannt werden. Und so wurde es nicht einmal dem Vorsitzenden der indischen Bischofskonferenz, Kardinal Topo, erlaubt, diese Region zu besuchen.

Wer war denn konkret für die Unruhen um Weihnachten herum verantwortlich? Wissen Sie da genaueres als das, was man bisher hören konnte?

Es gibt in Orissa einen hinduistischen Priester. Er heißt Swami Leschbawanen. Er steckt hinter all diesen Unruhen. Er ist ein 82 Jahre alter Mann – aber er ist mächtig genug, um örtliche Unruhen in Orissa anzustiften. Und darum hat die Regierung vor ihm Angst. Denn er hat das Potential in seinem ganzen Bundesstaat Unruhen anzustiften und die Regierung fürchtet sich vor den Unannehmlichkeiten, die es ihr dann bereiten würde, die Unruhen einzudämmen. Dieser Swami stiftet nun schon seit fast drei Jahrzehnten Unruhen in seinem Bundesstaat an. Und alle Regierungen – auch die vorhergehenden – stehen unter seinem Einfluss. So lange dieser Mann seine Aktivitäten fortsetzen kann, wird es keinen Frieden oder ein gemeinschaftliches Zusammenleben in dieser Region geben.

In Indien ist der Minderheitenschutz doch eigentlich in der Verfassung festgeschrieben – wieso wird der nicht umgesetzt?

Bei uns in Asmadschas sind wir Minderheiten sehr benachteiligt. Wir werden von der Regierung des Bundesstaates nicht beschützt und sind der Gnade der Fundamentalisten, der Menge und des Mobs ausgeliefert. Immer wenn wir etwas tun, was denen nicht gefällt, kommt die Menge, greift die Christen an und stört den Frieden. Und so hat der Staat überhaupt keine Macht – der Mob tut, was immer er will und die Polizei beschützt uns nicht. Und darum werden die Religionsfreiheit und die Grundrechte, die von der indischen Verfassung garantiert werden, im ganzen Land nicht auf die christliche Minderheit bezogen. Und das besonders in dieser Gegend um Orissa. Ein Grund, warum uns die Hindu-Fundamentalisten zürnen ist, dass wir das „Liberation Movement“, die Befreiungsbewegung für rechtlose gegründet haben. Wir waren damit tätig unter den ausgestoßenen Stämmen der Region. Wir halfen ihnen, damit sie eine Ausbildung bekamen, damit sie ihre Kultur pflegen konnten. Wir haben sie vor den anderen Kasten beschützt und in die Mitte der indischen Gesellschaft gerückt. Und so sind heute viele von den ehemals Ausgestoßenen gut ausgebildet und arbeiten in hohen Positionen der Gesellschaft. Und das ist den Hindu-Fundamentalisten ein Dorn im Auge. Denn wenn es nach ihnen ginge, müssten diese Menschen ausgestoßene sein – und zwar zu jeder Zeit. Sie sollen nicht ausgebildet werden, sie sollen keine gute Arbeit bekommen. Und darum setzen sie alles daran, diesen Fortschritt zu verhindern, den die christlichen Missionen in das Land gebracht haben. Und so hoffen die Fundamentalisten, dass indem sie die christlichen Missionen zerstören auch die Eingliederung und der Wachstum der Ausgestoßenen endet.

Wie ist die Situation jetzt in der Region um Orissa? Haben sie da neue Informationen?

3-4 Tage nach den Unruhen kamen die Priester und die Nonnen, die in die Wälder geflohen waren, tagsüber wieder in die Dörfer. Aber nachts gingen sie immer noch wieder zurück in die Wälder. Und jetzt sind es vor allem auch viele Familienväter, die ihre Tage draußen in den Wäldern verbringen, weil sie Angst haben, dass man sie verhaftet. Sie kommen nur nachts zu ihren Familien, tagsüber verstecken sie sich in den Wäldern. Und wie gesagt: Die Regierung hat verboten, dass diesen Menschen von uns Hilfsgüter geliefert werden. Aber was die Regierung denen liefert – das ist absolut unzureichend zum überleben.

Das klingt nach einer Art Anarchie, die in dieser Region herrscht: Der Staat scheint dem Geschehen hilflos gegenüber zu stehen. Sehen Sie eine Chance, dass sich die Lage irgendwann wieder normalisiert?

Ich würde das nicht „Anarchie“ nennen. Ich sehe es eher so: In einem Jahr sind Wahlen, die alle zwei Jahre anstehen. Und die Machthaber wollen diese Wahlen gewinnen. Und um die Wahlen zu gewinnen, brauchen sie die Stimmen der Mehrheit der Bevölkerung – und das sind Hindus. In dieser Region gibt es zu 95 Prozent Hindus. Und darum haben sie kein Problem damit, unsere Stimmen, die der Minderheit zu verlieren. Sie würden die Wahl trotzdem gewinnen. Und darum erlauben sie es, die Minderheiten zu quälen und zu bestrafen: Um der Mehrheit zu gefallen und die Wahlen zu gewinnen. Das ist die Strategie dahinter. Wenn Sie die indische Politik verfolgt haben, werden sie gesehen haben, dass genau dasselbe vor zwei Jahren passiert ist. Damals wurden ungestraft 2000 Muslime umgebracht und etwa 50 Kirchen wurden zerstört – und der Mann, der das alles angezettelt hatte, gewann anschließend die Wahlen mit einer überragenden Mehrheit. Wenn man den hiesigen Zeitungen glauben darf, versuchen die Fundamentalisten das Experiment nun erneut in der Gegend um Orissa. Sie schlagen und verfolgen die Minderheiten, damit sie die Stimmen der Mehrheit bekommen.

Sie sind also eine verfolgte Minderheit in Indien – was kann die Kirche überhaupt tun, wenn Ihnen so die Hände gebunden sind?

Eines, was wir ständig versuchen ist der interreligiöse Dialog. Wir wollen eine gemeinschaftliche Harmonie fördern. Ich habe ja bisher nur von den Hindu-Fundamentalisten gesprochen. Das ist eigentlich nur eine sehr kleine Gruppe, aber sie sind sehr gut organisiert und lautstark. Aber die große Mehrheit der modernen Hindus, vor allem in den Großstädten oder in Bundesstaaten mit einem höheren durchschnittlichen Bildungsgrad, die Mehrheit dieser Menschen ist nicht für Angriffe auf christliche oder muslimische Minderheiten. Diese Hindus sind auch für friedliches Zusammen leben. Und darum hatten wir selbst während dieser Angriffe Hinduistische Gruppen bei uns zu Gast, die bei uns wohnten und versuchten, die Angreifer von ihrem Tun abzuhalten.

Was für Hilfe würden Sie sich von Deutschland wünschen?

Bundeskanzlerin Merkel oder der deutsche Bundespräsident sollten die indische Botschaft oder direkt die indische Regierung kontaktieren und sie bitten, den Schutz der Minderheiten zu garantieren – damit diese Minderheiten ihren Glauben leben können, was von der indischen Verfassung garantiert ist – und diese Freiheit sollte nicht eingeschränkt werden. Das ist ein Weg. Und zweitens ist die Situation sehr ernst – wir haben über 250 Millionen Rupien (etwa 4 Millionen Euro) durch die Angriffe verloren. Also denke ich, dass finanzielle Hilfe auch sehr hilfreich wäre, damit wir wieder alles aufbauen können. Denn was wir über die letzten 30 Jahre hinweg aufgebaut haben ist fast vollständig in Flammen aufgegangen. Und das sollte auch der Öffentlichkeit in Europa gesagt werden, denn die weiß das ja nicht und wenn sie es weiß, kann sie auch auf unsere Regierung einwirken und sie fragen: Warum beschützt ihr eure Minderheiten nicht? Nur um die Mehrheit der Stimmen zu bekommen?

(Quelle: radio horeb 23.01.2008 sk)







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