Über die Quellen des Rechtsstaats Wochenkommentar von Paul Kirchhof vom
19.01.2008 für Radio Vatikan
Recht ist Grundlage
für inneren Frieden, sichert dem Menschen einen Raum der Freiheit, schützt den Einzelnen
in seiner Zugehörigkeit zum sozialen Staat. Doch gegenwärtig scheint eine Normenflut
uns niederzudrücken. Die Staaten und die Europäische Union publizieren eine solche
Fülle von Normen, dass wir kaum mitkommen, diese zu lesen, geschweige denn, zu verstehen
und zu befolgen. Deswegen müssen wir innehalten und fragen: Was erwarten wir vom Recht?
Wie entsteht Recht? Wie soll Recht inhaltlich beschaffen sein? Vor vielen hundert
Jahren haben wir einmal gesagt, Recht sei göttliches Recht. Wir haben die Autorität
Gottes für die Autorität des Gesetzes beansprucht.
Für das moderne Gesetz
heute sind wir da bescheidener. Wir haben erlebt, dass Recht Menschenwerk ist und
dass auch die gesetzte Regel einmal Unrecht sein kann. Dann haben wir gesagt:
Recht ergibt sich aus der Natur. Wir müssen nur die Gesetzmäßigkeiten der Natur genau
beobachten, um zu wissen, was geltendes Recht ist. In dieser These steckt eine Teilwahrheit.
Aber wir wissen auch, dass vieles Recht, etwa das Finanz- und Steuerrecht, das Recht
der internationalen Beziehungen, das Recht von Bildung, Wissenschaft und Kunst in
der Natur nicht abgelesen werden können.
Zu Beginn der Demokratie hat
man dann gesagt: Recht entsteht durch einen Staatsvertrag. Die Bürger sind zusammengekommen
und haben sich – jedenfalls im Elementaren der Verfassung – auf ein bestimmtes Recht
verständigt. Auch das ist eine Fiktion. Wir wissen, dass auch die Menschen, die sich
nicht ‚vertragen‘ wollen, an dieses Recht gebunden sind. Und deswegen sind wir
uns heute bewusst, dass Recht aus Wissen, aus Wollen und aus Wirklichkeit entsteht.
Dieser Dreiklang klingt in dem schönen deutschen Wort der „Rechtsquelle“
an. In der Quelle tritt das Wasser hervor, das sich vorher bereits im Berg gesammelt
hat. Es ist im übertragenen Sinne das Wasser, das als Wirklichkeit und gewachsenes
Wissen bereits vorhanden war, bevor es zum Gesetz wird. Der Mensch bemüht sich, dieses
rare und wertvolle Gut möglichst vollständig zu erfassen. Er ‚er-fasst‘ diese Quelle,
damit kein Wasser verloren geht oder verschmutzt wird. Doch auch diese ‚Ver-Fassung‘
bietet dem Menschen nur das lebensnotwendige Wasser, wenn sie die schon vorhandene
Wirklichkeit und das vorgefundene Wissen sichtbar ans Licht treten lässt, diese ersichtlichen
Güter sodann fair verteilt und bei ihrer Verteilung Maß und Frieden wahrt. Das gilt
zunächst für die Wirklichkeit. Jedes Recht muss berücksichtigen, dass der Hunger des
Menschen befriedigt werden will. Es muss beachten, dass der Mensch sich im Alter entwickelt.
Das Kind muss erzogen werden, ist noch nicht geschäftsfähig. Der Jugendliche muss
in die Rechts- und Kulturordnung hineingeführt werden. Der Erwachsene entfaltet sich
in der Blüte seiner Freiheit, der Altersgebrechliche ist auf besonderen Schutz angewiesen.
Und jeder Mensch strebt nach etwas. Er will eine Familie gründen, ein Haus bauen,
Einkommen erzielen, sich mit dem Religiösen auseinandersetzen. Und da gehört es zum
Recht, dass wir diese Wirklichkeit achten.
Als ich ein Bub war, hat uns
unser Großvater – er war Schreinermeister und Holzschnitzer – wenn wir den Christbaum
mit Tannen und Kugeln geschmückt haben, gesagt: Ihr dürft die Zweige nur so behängen,
dass sie nicht niedergedrückt werden. So, dass der Baum nach dem Schmuck noch das
tun kann, was seine Natur ist: Hinauf zum Licht zu streben. Wir haben diese Weisung
des Großvaters getreulich befolgt. Erst sehr viel später ist mir bewusst geworden,
dass dies ein wunderbares Bild für eine freiheitliche Rechtsordnung ist. Was immer
der Gesetzgeber tut, er darf das Aufstreben des Menschen zu Höherem nicht hemmen.
Und dann die zweite Entstehungsquelle für Recht: Das Kulturwissen. Unser
ganzes Recht gründet heute in der Ausgangsposition: Jeder Mensch hat eine Würde. Er
ist willkommen in dieser Rechtsgemeinschaft, allein weil er Mensch ist, ob Nobelpreisträger
oder Taugenichts, er ist willkommen. Da hat man nun in der Aufklärung gesagt, die
Würdegarantie ergäbe sich aus dem Gegenseitigkeitsgedanken: Achte Du meine Würde und
verletze mich nicht, dann achte ich Deine Würde und verletze Dich nicht. Doch dieser
Gedanke greift zu kurz. Warum soll der Reiche dem Hungerleider etwas geben, wenn er
ihn morgen nicht mehr sieht? Warum soll der Mächtige dem Asylbewerber Zuflucht gewähren,
wenn er ihn draußen halten kann? Warum soll der Arzt dem Sterbenden die Schmerzen
lindern, wenn dieser morgen gestorben ist und ihn nicht mehr bedrohen kann? Nein,
der Wert der Würde liegt tiefer. Er liegt im Christentum. Jeder Mensch ist Ebenbild
Gottes. Gott ist Mensch geworden. Wir haben also ein Menschenbild, in dem Gott beheimatet
sein kann. Dies ist der radikalste Freiheits- und Gleichheitssatz der Geschichte.
Und diese Frucht des Christentums – nicht den Baum! – diese Frucht des Christentums
macht sich der säkularisierte Staat zu eigen. Und nur wenn diese Frucht in den Köpfen
der Menschen noch lebendig ist, dann haben wir dieses Kulturwissen, dass unsere Rechtsordnung
trägt.
Und der dritte Grund ist selbstverständlich das Wollen. Denn in
einer Demokratie entscheidet das Parlament. Darüber etwa, ob der Mehrwertsteuersatz
16 Prozent oder 19 Prozent beträgt, ob die Läden am Samstag bis 14 oder bis 18 Uhr
geöffnet sind, ob die Studienplätze allein durch Steuern oder auch durch Gebühren
finanziert werden. Aber auch da ist der Wille nicht beliebig. Ein beliebiger Wille
des Parlaments wäre Willkür, und die würden wir zurückweisen. Die Mehrwertsteuersätze
dürfen nicht über 25 Prozent betragen, die Ladenöffnungszeiten dürfen nicht auf die
Mittagsstunden beschränkt werden, die Studiengebühren dürfen nicht den Begabten, aber
armen Bewerber fern halten. Und deswegen gilt auch bei dem willentlich gesetzten Recht
das, was am Beginn des deutschen Grundgesetzes steht: Das deutsche Staatsvolk handelt
in Verantwortung vor Gott und den Menschen. Man ist sich einer Verantwortlichkeit
gegenüber dem Wähler, aber auch gegenüber Gott bewusst, auch dann, wenn man sich unbeobachtet
fühlt.
Diese Verantwortlichkeit führt zurück zum Grundsätzlichen, zu Elementarwerten,
zu weltumspannender Humanität. Dies macht uns bewusst, dass die Erkenntnisquellen
für Recht in modernen Demokratien einerseits der Wortlaut der Gesetze ist, dass aber
letztlich die Entstehensquelle für Recht darüber hinaus greift: Nämlich auf die Kultur;
und für das europäische Recht darüber hinaus auf die Kultur des Christentums.