2008-01-14 13:23:17

Polen: Streit um Antisemitismus


RealAudioMP3 In Polen gibt es heftigen Streit über ein Buch. Darin geht es um den Antisemitismus in Polen nach dem 2.Weltkrieg und die Rolle der katholischen Kirche. Der bekannte polnisch-amerikanische Autor Jan Tomasz Gross beschreibt den Antisemitismus im Nachkriegs-Polen als Normalzustand. Und er gibt der Kirche Mitschuld an den Pogromen. An diesem Wochenende ist das Skandalbuch mit dem Titel "Angst" in Polen erschienen. Die Staatsanwaltschaft in Krakau ermittelt wegen „Verleumdung der polnischen Nation“. Daniel Kaiser berichtet.
Es ist eines der dunkelsten Kapitel der polnische Geschichte. Im Juli 1946 sterben in Kielce mindestens 40 Juden bei einem Pogrom – die Opfer: Überlebende des Holocaust. Auslöser war das Gerücht von einem jüdischen Ritualmord. Der Naziterror habe in Polen jegliche moralische Grundlage zerstört, gibt der Autor Jan Tomasz Gross an.
"Die Juden, die nach dem Krieg zurückkehren, sind die personifizierte Erinnerung an diesen moralischen Abgrund aus der Zeit des Krieges. Und ihre Rückkehr bedrohte auch viele Polen materiell. Das belegen Akten der polnischen Exilregierung in London aus dem Jahr 1945. Da heißt es, die Rückkehr der verfolgten Juden in die polnischen Gebiete sei unvorstellbar. Viele Polen hatten nämlich die sozialen Stellungen, aber auch die Häuser und den Besitz der Juden übernommen."
Antisemitismus - das war Alltag in Polen, sagt Gross. Und die Kirche sei durchaus mit schuld daran. Die Bischöfe hätten nichts gegen den antisemitischen Aberglauben unternommen. Auch Primas Wyszynski habe geglaubt, Juden trinken Christenblut, behauptet Jan Tomasz Gross. Viele polnische Historiker und Kirchenvertreter kritisieren das Buch und seine Thesen. Der Priester Adam Boniecki von der Wochenzeitschrift "Tygodnik Powszechny" beklagt sich dabei vor allem über den Ton.
"Das Buch weckt negative Emotionen. Der Autor stellt sich als Ankläger vor die polnische Gesellschaft und verallgemeinert sehr. Er beschreibt die polnische Gesellschaft als nur von einem Gedanken besessen: Zerstörung und Mord an den Juden. Jeder, der damals lebte, weiß, dass das nicht wahr ist. Jeder hatte Angst."
Das polnische Institut für nationales Gedenken IPN hat eine eigene Studie veröffentlicht. Nach Ansicht des Autors, Marek Chodakiewicz, waren die Übergriffe gegen Juden vor allem politisch motiviert. In Polen hätten nach dem Krieg Chaos und Anarchie geherrscht.
"Die Juden wurden als Befürworter des kommunistischen Systems angesehen, weil sie sich zu ihrer eigenen Sicherheit in der Nähe der Macht aufgehalten haben – wie dem NKWD. Der eine suchte vielleicht nur eine einfache Arbeit. Ein anderer hat dann wirklich denunziert. Aber verallgemeinern kann man das natürlich nicht."
Nach Angaben des Historikers sind einige hundert Juden bei Übergriffen ums Leben gekommen. Gleichzeitig seien Tausende Polen gestorben, nachdem sie von Juden denunziert wurden. Der Skandalautor Jan Tomasz Gross hatte schon vor sieben Jahren mit einem Buch über das Pogrom in der kleinen Stadt Jedwabne einen heftigen Streit über Polen als Täter ausgelöst. Piotr Kadlcik von der Gemeinschaft Jüdischer Gemeinden in Polen hofft auf eine neue Diskussion.
"Es kommt darauf an, was wir jetzt mit diesem Buch machen. Entweder behandeln wir es als Grund, um eine Diskussion über unsere Vergangenheit zu führen. Oder wir fangen damit an - wie im Fall von Jedwabne - zu diskutieren, ob er Autor lügt oder übertreibt. Ich bin skeptisch. Beim Fall „Jedwabne“ gab es eine Untersuchung. Am Ende sollte es neue Gedenktafeln im Ort geben. Das ist bis heute nicht geschehen."
Auch Konstantyn Gebert von der jüdischen Monatszeitschrift „Midrasch” hofft darauf, dass die Polen sich einigen dunklen Flecken ihrer Vergangenheit stellen.
"Das negative Bild Polens in der Welt kommt von den 200.000 Juden, die dieses Land verlassen mussten - auf der Flucht vor Mord und Zerstörung nach dem Krieg. Die polnische Öffentlichkeit hat diese Tatsache nicht registriert. Und dieses Buch ermöglicht dem Leser, die Fakten zu verstehen."


(rv 14.01.2008 mc)







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