In Polen gibt es heftigen
Streit über ein Buch. Darin geht es um den Antisemitismus in Polen nach dem 2.Weltkrieg
und die Rolle der katholischen Kirche. Der bekannte polnisch-amerikanische Autor Jan
Tomasz Gross beschreibt den Antisemitismus im Nachkriegs-Polen als Normalzustand.
Und er gibt der Kirche Mitschuld an den Pogromen. An diesem Wochenende ist das Skandalbuch
mit dem Titel "Angst" in Polen erschienen. Die Staatsanwaltschaft in Krakau ermittelt
wegen „Verleumdung der polnischen Nation“. Daniel Kaiser berichtet. Es ist eines
der dunkelsten Kapitel der polnische Geschichte. Im Juli 1946 sterben in Kielce mindestens
40 Juden bei einem Pogrom – die Opfer: Überlebende des Holocaust. Auslöser war das
Gerücht von einem jüdischen Ritualmord. Der Naziterror habe in Polen jegliche moralische
Grundlage zerstört, gibt der Autor Jan Tomasz Gross an. "Die Juden, die nach
dem Krieg zurückkehren, sind die personifizierte Erinnerung an diesen moralischen
Abgrund aus der Zeit des Krieges. Und ihre Rückkehr bedrohte auch viele Polen materiell.
Das belegen Akten der polnischen Exilregierung in London aus dem Jahr 1945. Da heißt
es, die Rückkehr der verfolgten Juden in die polnischen Gebiete sei unvorstellbar.
Viele Polen hatten nämlich die sozialen Stellungen, aber auch die Häuser und den Besitz
der Juden übernommen." Antisemitismus - das war Alltag in Polen, sagt Gross.
Und die Kirche sei durchaus mit schuld daran. Die Bischöfe hätten nichts gegen den
antisemitischen Aberglauben unternommen. Auch Primas Wyszynski habe geglaubt, Juden
trinken Christenblut, behauptet Jan Tomasz Gross. Viele polnische Historiker und Kirchenvertreter
kritisieren das Buch und seine Thesen. Der Priester Adam Boniecki von der Wochenzeitschrift
"Tygodnik Powszechny" beklagt sich dabei vor allem über den Ton. "Das Buch
weckt negative Emotionen. Der Autor stellt sich als Ankläger vor die polnische Gesellschaft
und verallgemeinert sehr. Er beschreibt die polnische Gesellschaft als nur von einem
Gedanken besessen: Zerstörung und Mord an den Juden. Jeder, der damals lebte, weiß,
dass das nicht wahr ist. Jeder hatte Angst." Das polnische Institut für nationales
Gedenken IPN hat eine eigene Studie veröffentlicht. Nach Ansicht des Autors, Marek
Chodakiewicz, waren die Übergriffe gegen Juden vor allem politisch motiviert. In Polen
hätten nach dem Krieg Chaos und Anarchie geherrscht. "Die Juden wurden als
Befürworter des kommunistischen Systems angesehen, weil sie sich zu ihrer eigenen
Sicherheit in der Nähe der Macht aufgehalten haben – wie dem NKWD. Der eine suchte
vielleicht nur eine einfache Arbeit. Ein anderer hat dann wirklich denunziert. Aber
verallgemeinern kann man das natürlich nicht." Nach Angaben des Historikers
sind einige hundert Juden bei Übergriffen ums Leben gekommen. Gleichzeitig seien Tausende
Polen gestorben, nachdem sie von Juden denunziert wurden. Der Skandalautor Jan Tomasz
Gross hatte schon vor sieben Jahren mit einem Buch über das Pogrom in der kleinen
Stadt Jedwabne einen heftigen Streit über Polen als Täter ausgelöst. Piotr Kadlcik
von der Gemeinschaft Jüdischer Gemeinden in Polen hofft auf eine neue Diskussion.
"Es kommt darauf an, was wir jetzt mit diesem Buch machen. Entweder behandeln
wir es als Grund, um eine Diskussion über unsere Vergangenheit zu führen. Oder wir
fangen damit an - wie im Fall von Jedwabne - zu diskutieren, ob er Autor lügt oder
übertreibt. Ich bin skeptisch. Beim Fall „Jedwabne“ gab es eine Untersuchung. Am Ende
sollte es neue Gedenktafeln im Ort geben. Das ist bis heute nicht geschehen." Auch Konstantyn Gebert von der jüdischen Monatszeitschrift „Midrasch” hofft darauf,
dass die Polen sich einigen dunklen Flecken ihrer Vergangenheit stellen. "Das
negative Bild Polens in der Welt kommt von den 200.000 Juden, die dieses Land verlassen
mussten - auf der Flucht vor Mord und Zerstörung nach dem Krieg. Die polnische Öffentlichkeit
hat diese Tatsache nicht registriert. Und dieses Buch ermöglicht dem Leser, die Fakten
zu verstehen."