"Wenn Gott nicht mehr in der Mitte steht" - unter diesem Titel nimmt der Kölner Erzbischof,
Kardinal Joachim Meisner, zum Streit um seine "entartet"-Äußerung Stellung. Wir dokumentieren
hier den Artikel, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung heute in der Rubrik "Fremde
Federn" veröffentlicht hat, in vollem Wortlaut. Quelle: faz.net. "In der Mitte
unserer Städte, unserer kulturellen Zentren stehen die Kirchen. Mitten im Wohnen,
im Arbeiten und Leben, das heißt mitten in der Kultur geben sie Zeugnis von der Ankunft
Gottes unter uns. Und doch könnte man als Christ mit guten Gründen sagen: Kirchen
sind letztlich zweitrangig, und schon gar Gott braucht sie nicht. Aber wir Menschen
brauchen sie, um sichtbar davon Zeugnis zu nehmen und zu geben, was und vor allem
wer unsere Mitte ist.
Denn Gott selbst ist in Jesus Christus Mensch geworden
und als Mittler in die Mitte unserer Welt und unserer Kulturen hineingestiegen - nicht
mit Glanz und Gloria, sondern bis in die dunkelsten Tiefen menschlicher Abgründe.
"Er entäußerte sich selbst", sagt der Apostel Paulus - Gott war außer sich vor Liebe
für die Menschen, seine Ebenbilder, die ihm so wenig glichen. Das Christentum denkt
hoch vom Menschen, weil es die Menschwerdung gibt. Ein Christ vertraut: Gott ist immer
schon da, mitten unter uns, und deshalb kann er unbefangen umgehen mit den weltlichen
Dingen, auch mit Bildern, Skulpturen und der Kultur im Sinne von Kunst. Deshalb auch
kann sich das Christentum überall inkulturieren, wo Menschen zusammenleben. Gesellschaften
und ganze Kulturen, die Gott aus ihrer Mitte verbannen und an seine Stelle den Menschen
als Maß von gut und böse setzen, von wahr und falsch, von gelungen und missraten,
kehren sich letztlich gegen sich selbst und entlarven sich als das, was sie sind -
unmenschlich. Das haben wir besonders an den beiden Diktaturen des letzten Jahrhunderts
erlebt. Gleich, welcher politischen Richtung solche inhumanen Regime, Gesellschaften
und Kulturen auch angehören - eines kennzeichnet sie alle: Sobald sie Gott abschaffen
und den Menschen als Maß in ihre Mitte stellen, ist der Mensch in seiner Würde gefährdet
und ein Menschenleben nicht mehr viel wert. Der heilige Augustinus hat dafür den
Begriff des "cor incurvatum in se" parat: das "in sich zusammengekurvte, verdrehte,
verkrümmte Menschenherz". Das Bild ist eindrücklich: Ein Mensch, der sich selbst zur
Mitte definiert, muss sich schon sehr verbiegen, um diese Mitte in den Blick nehmen
zu können. Wer allerdings auf einen anderen blickt, zumal auf einen Höheren, kann
aufrecht gehen. Es ist die Größe und die Versuchung des Menschen zugleich, dass er
erst durch die Orientierung an einem Punkt jenseits seines begrenzten Horizonts, über
seinem menschlich-endlichen Maß hinaus, Ziel und Weg erkennen kann. Das ist der
Zusammenhang, in dem ich in meiner Predigt zur Eröffnung unseres Diözesanmuseums Kolumba
das ideologisch besetzte Wort "entartet" verwandt habe. Ich habe zunächst dargelegt,
dass "durch die Menschwerdung Gottes jeder Mensch vom Glanz Gottes berührt und geprägt
ist". Deshalb ist es eine große "Pervertierung" des Menschen, "wenn er diese Identifikation
auf Gott hin vergisst und dadurch zum Ohne-Gott oder gar zum Antigott wird, wie wir
es in der Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa in grausamster Weise erleben mussten".
Anschließend habe ich Papst Benedikt XVI. zitiert, der bei seinem Besuch im KZ Birkenau
die darin manifestierte Menschenverachtung der Nationalsozialisten angesprochen hatte.
Den von der Nazi-Ideologie missbrauchten Begriff der Entartung habe ich in diesem
Zusammenhang gegen diese und alle Formen totalitärer Kulturen verwendet, um sie mit
ihrem eigenen Vokabular zu kennzeichnen und zu entlarven: Kultus und Kultur - im Sinne
von Gottesverehrung und Gesellschaft - nehmen Schaden, wenn Gott nicht mehr in der
Mitte steht. Ich wiederhole: Ich bedaure ausdrücklich, dass diese Vokabel in der verkürzten
Form des aus dem Zusammenhang gelösten Zitats Anlass zu Missverständnissen gegeben
hat. Das Wort ist ohne Substanzverlust für mein Anliegen und meine Aussage ersetzbar:
Dort, wo die Kultur - im Sinne von Zivilisation - vom Kultus - im Sinne der Gottesverehrung
- abgekoppelt wird, erstarrt der Kultus im Ritualismus, und die Kultur nimmt schweren
Schaden. Sie verliert ihre Mitte. In Bezug auf Kolumba habe ich deshalb in meiner
Predigt anschließend gesagt: "Gerade an diesem Platz in der Kölner Innenstadt, im
Schatten des Domes, dort, wo jahrhundertelang eine der bedeutendsten und größten Kölner
Pfarrkirchen existiert hat, haben wir nun fast 65 Jahre nach ihrer Zerstörung das
Diözesanmuseum errichtet. (. . .) Darum ist es gut, dass Kolumba nicht an der Peripherie
unserer Stadt steht, sondern im Zentrum, im Schatten des Domes und der Minoritenkirche,
auf dem Grund und Boden der ehrwürdigen Pfarrkirche St. Kolumba." Das Museum, das
mir sehr am Herzen liegt und dessen Vollendung ich mit Ungeduld erwartet habe, ist
Stein gewordener Zeuge des Dialogs zwischen Kunst und Kirche, mitten in unserer Gesellschaft,
unserer Kultur. Das Konzept von Kolumba sucht gerade die Auseinandersetzung, die Diskussion
und den Austausch zwischen Glaube und säkularer Gesellschaft auf dem Gebiet der Kunst,
mitten in der Stadt, als eine schon in ihrer Formsprache deutlich vernehmbare christliche
Stimme." Der Verfasser ist Erzbischof von Köln.