Liebe Brüder und Schwestern, bei
unserer großen Wallfahrt nach Mariazell feiern wir das Patrozinium dieses Heiligtums,
das Fest Mariä Geburt. Seit 850 Jahren kommen hierher Beter aus verschiedenen Völkern
und Nationen mit den Anliegen ihres Herzens und ihres Landes, mit den Sorgen und den
Hoffnungen ihrer Seele. So ist Mariazell für Österreich und weit über Österreich hinaus
ein Ort des Friedens und der versöhnten Einheit geworden. Hier erfahren sie die tröstende
Güte der Mutter; hier begegnen sie Jesus Christus, in dem Gott mit uns ist, wie heute
das Evangelium sagt - Jesus, von dem es in der Lesung aus dem Propheten Micha heißt:
Und er wird der Friede sein (5, 4). In diese große Pilgerschaft vieler Jahrhunderte
reihen wir uns heute ein. Wir halten Rast bei der Mutter des Herrn und bitten sie:
Zeige uns Jesus. Zeige uns Pilgern ihn, der der Weg und das Ziel zugleich ist: die
Wahrheit und das Leben.
Das Evangelium, das wir eben gehört haben, öffnet unseren
Blick noch weiter. Es stellt die Geschichte Israels von Abraham an als einen Pilgerweg
dar, der in Aufstiegen und Abstiegen, auf Wegen und Umwegen letztlich zu Jesus Christus
führt. Der Stammbaum mit seinen hellen und finsteren Gestalten, mit seinem Gelingen
und seinem Scheitern zeigt uns, daß Gott auch auf den krummen Linien unserer menschlichen
Geschichte gerade schreibt. Gott läßt uns unsere Freiheit und weiß doch, in unserem
Versagen neue Wege seiner Liebe zu finden. Gott scheitert nicht. So ist dieser Stammbaum
eine Gewähr für Gottes Treue; eine Gewähr dafür, daß Gott uns nicht fallen läßt und
eine Einladung, unser Leben immer neu nach ihm auszurichten, immer neu auf Jesus Christus
zuzugehen.
Pilgern heißt, eine Richtung haben, auf ein Ziel zugehen. Dies gibt
auch dem Weg und seiner Mühsal seine Schönheit. Unter den Pilgern des Stammbaums Jesu
waren manche, die das Ziel vergessen haben und sich selber zum Ziel machen wollten.
Aber immer wieder hat der Herr auch Menschen erweckt, die sich von der Sehnsucht nach
dem Ziel treiben ließen und danach ihr Leben ausrichteten. Der Aufbruch zum christlichen
Glauben, der Anfang der Kirche Jesu Christi, ist möglich geworden, weil es in Israel
Menschen des suchenden Herzens gab – Menschen, die sich nicht in der Gewohnheit einhausten,
sondern nach Größerem Ausschau hielten: Zacharias, Elisabeth, Simeon, Anna, Maria
und Josef, die Zwölf und viele andere. Weil ihr Herz wartete, konnten sie in Jesus
den erkennen, den Gott gesandt hatte, und so zum Anfang seiner weltweiten Familie
werden. Die Heidenkirche ist möglich geworden, weil es sowohl im Mittelmeerraum wie
im Vorderen und Mittleren Asien, wohin die Boten Jesu Christi kamen, wartende Menschen
gab, die sich nicht mit dem begnügten, was alle taten und dachten, sondern nach dem
Stern suchten, der sie den Weg zur Wahrheit selbst, zum lebendigen Gott weisen konnte.
Dieses
unruhige und offene Herz brauchen wir. Es ist der Kern der Pilgerschaft. Auch heute
reicht es nicht aus, irgendwie so zu sein und zu denken wie alle anderen. Unser Leben
ist weiter angelegt. Wir brauchen Gott, den Gott, der uns sein Gesicht gezeigt und
sein Herz geöffnet hat: Jesus Christus. Johannes sagt von ihm zu Recht, daß er der
einzige ist, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht (vgl. Joh 1,18); so
konnte auch nur er aus dem Innern Gottes selbst uns Kunde bringen von Gott – Kunde
auch, wer wir selber sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Sicher, es gibt viele
große Persönlichkeiten in der Geschichte, die schöne und bewegende Gotteserfahrungen
gemacht haben. Aber es bleiben menschliche Erfahrungen mit ihrer menschlichen Begrenztheit.
Nur ER ist Gott, und nur ER ist daher die Brücke, die Gott und Mensch zueinander
kommen läßt. Wenn wir ihn daher den einzigen für alle gültigen Heilsmittler nennen,
der alle angeht und dessen alle letztlich bedürfen, so ist dies keine Verachtung der
anderen Religionen und keine hochmütige Absolutsetzung unseres eigenen Denkens, sondern
es ist das Ergriffensein von dem, der uns angerührt und uns beschenkt hat, damit wir
auch andere beschenken können. In der Tat setzt sich unser Glaube entschieden der
Resignation entgegen, die den Menschen als der Wahrheit unfähig ansieht – sie sei
zu groß für ihn. Diese Resignation der Wahrheit gegenüber ist der Kern der Krise des
Westens, Europas. Wenn es Wahrheit für den Menschen nicht gibt, dann kann er auch
nicht letztlich Gut und Böse unterscheiden. Und dann werden die großen und großartigen
Erkenntnisse der Wissenschaft zweischneidig: Sie können bedeutende Möglichkeiten zum
Guten, zum Heil des Menschen sein, aber auch – wir sehen es – zu furchtbaren Bedrohungen,
zur Zerstörung des Menschen und der Welt werden. Wir brauchen Wahrheit. Aber freilich,
aufgrund unserer Geschichte haben wir Angst davor, daß der Glaube an die Wahrheit
Intoleranz mit sich bringe. Wenn uns diese Furcht überfällt, die ihre guten geschichtlichen
Gründe hat, dann wird es Zeit, auf Jesus hinzuschauen, wie wir ihn hier im Heiligtum
zu Mariazell sehen. Wir sehen ihn da in zwei Bildern: als Kind auf dem Arm der Mutter
und über dem Hochaltar der Basilika als Gekreuzigten. Diese beiden Bilder der Basilika
sagen uns: Wahrheit setzt sich nicht mit äußerer Macht durch, sondern sie ist demütig
und gibt sich dem Menschen allein durch die innere Macht ihres Wahrseins. Wahrheit
weist sich aus in der Liebe. Sie ist nie unser Eigentum, nie unser Produkt, sowie
man auch die Liebe nicht machen, sondern nur empfangen und weiterschenken kann. Diese
innere Macht der Wahrheit brauchen wir. Dieser Macht der Wahrheit trauen wir als Christen.
Für sie sind wir Zeugen. Sie müssen wir weiterschenken in der Weise, wie wir sie empfangen
haben.
„Auf Christus schauen“, heißt das Leitwort dieses Tages. Dieser Anruf
wird für den suchenden Menschen immer wieder von selbst zur Bitte, zur Bitte besonders
an Maria, die ihn uns als ihr Kind geschenkt: „Zeige uns Jesus!“ Beten wir heute so
von ganzem Herzen; beten wir so auch über diese Stunde hinaus, inwendig auf der Suche
nach dem Gesicht des Erlösers. „Zeige uns Jesus!“ Maria antwortet, indem sie uns ihn
zunächst als Kind zeigt. Gott hat sich klein gemacht für uns. Gott kommt nicht mit
äußerer Macht, sondern er kommt in der Ohnmacht seiner Liebe, die seine Macht ist.
Er gibt sich in unsere Hände. Er bittet um unsere Liebe. Er lädt uns ein, selbst klein
zu werden, von unseren hohen Thronen herunterzusteigen und das Kindsein vor Gott zu
erlernen. Er bietet uns das Du an. Er bittet, daß wir ihm vertrauen und so das Sein
in der Wahrheit und in der Liebe erlernen. Das Kind Jesus erinnert uns natürlich auch
an alle Kinder dieser Welt, in denen er auf uns zugehen will. An die Kinder, die in
der Armut leben; als Soldaten mißbraucht werden; die nie die Liebe der Eltern erfahren
durften; an die kranken und leidenden, aber auch an die fröhlichen und gesunden Kinder.
Europa ist arm an Kindern geworden: Wir brauchen alles für uns selber, und wir trauen
wohl der Zukunft nicht recht. Aber zukunftslos wird die Erde erst sein, wenn die Kräfte
des menschlichen Herzens und der vom Herzen erleuchteten Vernunft erlöschen – wenn
das Antlitz Gottes nicht mehr über der Erde leuchtet. Wo Gott ist, da ist Zukunft.
„Auf
Christus schauen“: Werfen wir noch einen kurzen Blick auf den Gekreuzigten über dem
Hochaltar. Gott hat die Welt nicht durch das Schwert, sondern durch das Kreuz erlöst.
Sterbend breitet Jesus die Arme aus. Dies ist zunächst die Gebärde der Passion, in
der er sich für uns annageln läßt, um uns sein Leben zu geben. Aber die ausgebreiteten
Arme sind zugleich die Haltung des Betenden, die der Priester mit seinen im Gebet
ausgebreiteten Armen aufnimmt: Jesus hat die Passion, sein Leiden und seinen Tod in
Gebet umgewandelt, in einen Akt der Liebe zu Gott und zu den Menschen. Darum sind
die ausgebreiteten Arme endlich auch ein Gestus der Umarmung, mit der er uns an sich
ziehen, in die Hände seiner Liebe hineinnehmen will. So ist er das Bild des lebendigen
Gottes, Gott selbst, ihm dürfen wir uns anvertrauen. „Auf Christus schauen!“ Wenn
wir das tun, dann sehen wir, daß Christentum mehr und etwas anderes ist als ein Moralsystem,
als eine Serie von Forderungen und von Gesetzen. Es ist das Geschenk einer Freundschaft,
die im Leben und im Sterben trägt: „Nicht mehr Knechte nenne ich euch, sondern Freunde“
(vgl. Joh 15,15), sagt der Herr zu den Seinen. Dieser Freundschaft vertrauen
wir uns an. Aber gerade weil das Christentum mehr ist als Moral, eben das Geschenk
einer Freundschaft, darum trägt es in sich auch eine große moralische Kraft, deren
wir angesichts der Herausforderungen unserer Zeit so sehr bedürfen. Wenn wir mit Jesus
Christus und mit seiner Kirche den Dekalog vom Sinai immer neu lesen und in seine
Tiefe eindringen, dann zeigt sich eine große Weisung. Er ist zunächst ein Ja zu Gott,
zu einem Gott, der uns liebt und der uns führt, der uns trägt und uns doch unsere
Freiheit läßt, ja, sie erst zur Freiheit macht (die ersten drei Gebote). Er ist ein
Ja zur Familie (4. Gebot), ein Ja zum Leben (5. Gebot), ein Ja zu verantwortungsbewußter
Liebe (6. Gebot), ein Ja zur Solidarität, sozialen Verantwortung und Gerechtigkeit
(7. Gebot), ein Ja zur Wahrheit (8. Gebot) und ein Ja zur Achtung anderer Menschen
und dessen, was ihnen gehört (9. – 10. Gebot). Aus der Kraft unserer Freundschaft
mit dem lebendigen Gott heraus leben wir dieses vielfältige Ja und tragen es zugleich
als Wegweisung in unsere Welt hinein. „Zeige uns Jesus!“ Mit dieser Bitte zur Mutter
des Herrn haben wir uns hierher auf den Weg gemacht. Diese Bitte begleitet uns in
unseren Alltag hinein. Und wir wissen, daß sie unsere Bitte erhört: Ja, wann immer
wir zu Maria hinschauen, zeigt sie uns Jesus. So können wir den rechten Weg finden,
ihn Stück um Stück gehen, der getrosten Freude voll, daß der Weg ins Licht führt –
in die Freude der ewigen Liebe hinein. Amen.