Russland: Wie religiös sind russische Jugendliche?
Rund 145 Millionen
Menschen leben in der Russischen Föderation. Die Hälfte der Bevölkerung zwischen St.
Petersburg und Wladiwostok ist russisch-orthodox. Die russisch-orthodoxe Kirche hat
in letzter Zeit ihren Einfluss im postsowjetischen Riesenreich stark ausweiten können.
Die Beziehungen zwischen dem Kreml und der Kirche sind enger geworden, und Präsident
Putin zeigt sich gerne an Festtagen mit Würdenträgern im Fernsehen. Mancher kritischer
Beobachter spricht sogar davon, dass die Orthodoxie zu einer Art Staatsreligion geworden
sei. In einigen Regionen wurde jüngst „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ als Schulfach
wieder eingeführt. Spiegelt sich die erstarkte russisch-orthodoxe Kirche auch in Religiosität
und Weltanschauung junger Russen wider? Ein Beitrag von Michael C. Hermann.
Eugen
Urbach wurde als Evgenii Stojev und als Sohn einer russlanddeutschen Mutter in Magnitogorsk
geboren, kam als Kind nach Deutschland. Der Lehramtsstudent kehrte vor kurzem von
einem mehrmonatigen Studienaufenthalt in Russland wieder nach Deutschland zurück:
„Ich
würde sagen, dass die Religion zurückkehrt. Bei älteren viel stärker als bei jüngeren
Leuten. Bei jungen Leuten habe ich festgestellt, dann man darüber nicht viel redet,
aber sie doch an eine höhere Macht so wie Gott glauben. Bei vielen ist die Kirche
eine Institution, die auch Interesse weckt und auch zum Teil Neugier. Das gab es ja
früher nicht. Und die wollen vielleicht sich damit auseinandersetzen, was das für
eine Institution ist - die Kirche.“
Die orthodoxe Kirche hatte das Sowjetregime
durch Stillschweigen mitgetragen. Selbst für religiöse Regimekritiker hatte sie nicht
viel übrig. 1988 ist ein Meilenstein in der Renaissance der Orthodoxie in Russland:
Gorbatschow lud erstmals das Oberhaupt der Kirche in den Kreml ein, bald darauf verabschiedete
die Staatsduma ein Gesetz, das der orthodoxen Kirche neue Freiheiten brachte. Die
Moskauerin Svetlana Illarionova moderiert eine Jugendsendung im deutschen Programm
der Stimme Russlands. Sie erklärt:
„Im Gegensatz zur Sowjetzeit bestehen
solche aufgezwungenen Stereotype wie „Religion stört die Entwicklung“ oder „ist nur
für ältere Leute“ gar nicht mehr. Umgekehrt heute in der Zeit des Umbruchs kann man
ein steigendes Vertrauen in die Kirche verfolgen. Und ich glaube, es hängt mit der
Hoffnung der Jugendlichen zusammen, dass ihnen die Kirche zum moralischen Orientierungspunkt
wird und die gesellschaftlichen Probleme lösen hilft.“
Von Moskau nach
Nishnij Nowogorod. Die Millionenstadt liegt rund 400 Kilometer südöstlich der russischen
Hauptstadt an der Wolga. Nicht mehr weit ist es von hier bis nach Kazan in Tatarstan,
einem Zentrum des Islams in Russland. 15 Millionen Muslime leben in der Russischen
Föderation. In Nishnij Nowgorod studiert der 21-jährige Artem Uljanow:
„Ich
sehe das auch so, dass die russisch-orthodoxe Kirche immer wichtiger wird. Ich glaube,
die meisten jungen Russen glauben an einen Gott. 20 Prozent der Menschen in unserem
großen Land glauben an den Islam, vor allem im asiatischen Landesteil. Und ein paar
sind natürlich auch Atheisten. Insgesamt wird die Kirche in Russland immer populärer,
und junge Menschen verfolgen das mit Aufmerksamkeit. “ Andere Religionen und
Konfessionen neben der Orthodoxie sind ein ständiges Thema in Russland. Den Muslimen
wird eine aggressive Islamisierung vorgeworfen, Katholiken, Protestanten und Griechisch-orthodoxe
werden mit dem Vorwurf des Proselytismus konfrontiert. Deshalb dürfen Missionare aus
dem Ausland nur wenige Monate im Land bleiben. In Russland leben 800 000 Katholiken
und 1,3 Mio Protestanten, viele davon sind Russlanddeutsche. Evgenii Sawinkin vom
Deutsch-russischen Haus in Moskau über deren Glauben: „Ich glaube, dass die
Religiosität von Russlanddeutschen stärker ausgeprägt ist als von Russen. Sie gehen
oft in die Kirche. Und bei Jugendlichen ist das genauso. Sie wollen über ihre Kirche
erzählen. Das ist meistens ein Grund zum Plaudern. Sie sprechen oft darüber. Das ist
bei russlanddeutschen Jugendlichen nicht so.“
Svetlana Illarionowa von
der Stimme Russlands ist der Auffassung, dass die Differenzierung im katholisch, orthodox
oder protestantisch für den Glauben russischer Jugendlicher kaum eine Relevanz hat:
„Dabei
drückt sich die Religiosität der Jugend nicht mehr in der Annahme der religiösen Ideologie
aus. Viele Jugendliche geben zu, dass sie zwar an Gott glauben, aber sich nicht zu
einer bestimmten Konfession zählen wollen oder können. Für sie ist der Glaube eher
etwas, was sie unterstützen kann. Denn an den Staat glauben sie kaum. Und die Religion
sollte nicht die letzte Rolle in dieser positiven Umwandlungen spielen.“