Der jüdisch-katholische Dialog hat einen seiner wichtigsten Förderer verloren: Vor
einer Woche verstarb der französische Kardinal Jean-Marie Lustiger. Er war Kind polnischer
Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Frankreich emigrierten. Während der Nazi-Besatzung
wurden seine Eltern deportiert, seine Mutter wurde 1943 im Konzentrationslager Auschwitz
umgebracht. Lustiger konvertierte zum Katholizismus, wurde Priester und 1983 zum Kardinal
kreiert. Der Schweizer Jude Johanne Gurfinkiel ist Generalsekretär der „Interkommunalen
Koordination gegen Antisemitismus und Diffamierung“ (CICAD) in Genf. Gurfinkiel hatte
den Kardinal oft getroffen. In unserem Interview der Woche erzählt er über seine Erinnerungen
an Lustiger.
„Abgesehen von den vielen Eindrücken, die jeder von uns durch
seine öffentlichen Äußerungen kennt, erinnere ich mich besonders gut an das Treffen
bei uns vor einem Jahr. Wir hatten einen Gedenktag in Genf organisiert, bei dem es
um das Konzilsdokument „Nostra Aetate“ und um den Dialog zwischen Katholiken und Juden
in der Schweiz ging. Kardinal Lustiger erläuterte, welche theologischen Prinzipien
heute noch bei einigen Katholiken vorherrschen, die den Antisemitismus rechtfertigen.
Es ging um die Bezeichnung ´perfide Juden´ oder das Vorurteil über Juden und das Geld.
Ihm lag viel daran, alle negativen Sinnbilder oder theologischen Argumente zu beseitigen,
die auch lächerlich sind.“
Jean-Marie Lustiger ist als Jude geboren und
als katholischer Kardinal gestorben. Was denken Sie über diese Lebensgeschichte?
„Es
handelt sich um eine Wahl, die jeder selber treffen darf. Er hat den Katholizismus
gewählt, andere haben andere Wege eingeschlagen. Ich glaube nicht, dass seine Biographie
das einzige ist, was von ihm als ´geistliches Vermächtnis´ bleiben wird. Bei Lustiger
sind viele Elemente wichtig. Er kam als Aaron Lustiger in einer polnisch-jüdischer
Familie zur Welt, und mit 14 Jahren ist er zum Katholizismus konvertiert. Doch er
war ein Mensch – und das haben mir seine engsten Mitarbeiter bestätigt –, der immer
seiner jüdischen Wurzel treu blieb. Er wurde zwar zu einer einflussreichen katholischen
Persönlichkeit, doch er hat nie mit seiner Herkunft gebrochen.“
Wer sind
Ihrer Meinung nach die Nachfolger Lustigers, sei es auf jüdischer als auch auf katholischer
Seite?
„Persönlichkeiten wie Kardinal Lustiger haben den Weg geebnet. Nun
ist es aber wichtig, dass eine neue Generation mit derselben Dynamik heranwächst.
Ich kenne in Frankreich beispielsweise Pater Dubois. Dieser Priester ist sehr engagiert,
und Dank der Ermunterung durch Kardinal Decourtray fühlt er sich dazu berufen, für
den jüdisch-katholischen Dialog in Frankreich zu arbeiten, was er seit 15 Jahren tut.
Ich denke aber, dass es zu wenige gibt, die heutzutage bereit sind, sich für den christlich-jüdischen
Dialog voll und ganz einzusetzen. Wir brauchen eindeutig mehr Leute. In der Schweiz
haben wir Kardinal Georges Cottier, der sehr offen ist. Doch es braucht eine jüngere
Generation. Es geht um die 40- und 50-Jährigen, die das nötige Bewusstsein und den
Mut haben sollten, den Dialog zu fördern.“