Wieder einmal lenken
neue Berichte das Augenmerk auf Australiens Ureinwohner, die so genannten Aborigines.
Dabei geht es nicht um Land-Rückforderungen oder Spiritualität, sondern um immer neue
Fälle von Kindesmissbrauch und –misshandlung in Aborigine-Familien. Der jüngste Fall,
der für Schlagzeilen sorgte, ist ein kleines Mädchen, das von seiner Familie in die
Waschmaschine gesteckt und dadurch richtiggehend gefoltert wurde. Die australische
Regierung hat wegen der Fälle von Kindesmissbrauch im Zentrum und im Norden des Landes
jetzt ein Alkohol- und Pornografieverbot erlassen, das vor allem die indigene Bevölkerung
trifft. Alle dort lebenden Kinder unter 16 Jahren müssen sich medizinisch untersuchen
lassen. Sondereinheiten der Polizei sollen in die Gemeinden geschickt werden, um für
Ordnung zu sorgen. Ministerpräsident John Howard sprach im Parlament von „nationalem
Notstand“: "Hier geht es um Kinder im zartesten Alter, die praktisch von Geburt an
schrecklich misshandelt wurden." Pater Assali Rice ist Aborigine-Seelsorger und gehört
selbst zu den Ureinwohnern; er will die Probleme nicht wegleugnen. „Diese Probleme
gehen auf eine ganze Reihe von Faktoren zurück. Zum einen auf die immer noch spürbaren
Auswirkungen der Kolonialisierung. Ich halte es in dieser Hinsicht für einen großen
Fehler, dass die Regierung nicht die Ältesten der Aborigines anhört und aktiv mit
einbezieht. Die Leute ignorieren die kulturelle Weltsicht der Aborigines; sie machen
sich keine Vorstellung von der Vielfalt der Aborigine-Gruppen hier; und es gibt auch
zuwenig Unterstützung für die Ureinwohner-Verbände. Ein weiterer Faktor ist die Armut.
Fehlender Wohnraum, schlechte Gesundheitsversorgung in Alice Springs…“ „Wenn ich
in die Camps gehe und nach den Gründen frage, dann sagen mir alle: Was sollen wir
denn machen? Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeitsrate – die Leute haben nichts zu
tun, die kriegen Sozialhilfe vom Staat, die man hier „Setz-dich-hin-Geld“ nennt, und
dann trinken sie, weil sie nichts anderes zu tun haben. Die kommen doch nie in den
richtigen Arbeitsmarkt rein, weil es da zu hohe Anforderungen gibt; wir haben unter
Ureinwohnern eine steigende Selbstmord-Rate. Ich habe in letzter Zeit als Priester
immer mehr Selbstmörder begraben…“ Der Inspektorenbericht für die Regierung zeigt
von neuem eindringlich, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern in den Aborigine-Gemeinden
ein gravierendes Problem ist. Und dabei spielt Alkohol eine große Rolle. Alle 38 Stunden
stirbt in den Northern Territories ein Ureinwohner an den Folgen von Alkoholmissbrauch.
In Australien leben etwa 460.000 Aborigines, die damit rund zwei Prozent der Bevölkerung
stellen. Die Ureinwohner gehören seit Jahrzehnten zu der am stärksten benachteiligten
Bevölkerungsminderheit. „Die Lage ist im Moment ziemlich dramatisch“, sagt Pater
Rice; „den Aborigines ist außerdem gar nicht wohl, was die Art und Weise betrifft,
in der die Regierung mit ihnen umspringt. Wir stellen uns viele Fragen, was die Einzelheiten
der Regierungs-Vorschläge betrifft… Und ich muss sagen, die Ureinwohner machen sich
begründete Sorgen: zunächst einmal, weil sie die Berichterstattung in den Medien im
Moment wie eine Kampagne erleben. Das ist immer nur gegen sie; die Mehrheitsgesellschaft
will offenbar nichts von ihnen wissen, und darum ziehen sie sich in ein Schneckenhaus
zurück und verlieren den Mut, die Probleme anzugehen.“ Eine Sprecherin der Aborigines
kritisierte die Maßnahmen der Regierung als rassistisch. Kindesmissbrauch habe "kein
schwarzes Gesicht". Wenn man es ernst meine mit dem Kampf gegen sexuellen Missbrauch,
dann solle er "in der ganzen Gesellschaft" geführt werden. Die Regierung nehme den
Aborigines ihre Würde und ihre Bürgerrechte, so die Sprecherin. „Es gibt schon
so ein Element von Rassismus hier“, bestätigt der eingeborene Priester – „das erlebe
ich auch am eigenen Leib als Seelsorger; ein landesweites Gefühl des Unbehagens. Sozusagen
normale Australier haben nicht den mindesten Schimmer davon, was in Aborigine-Gemeinden
los ist; die Leute halten sich also auf Distanz.“ Dabei will Pfarrer Rice die „Weißen“
– in Anführungszeichen - aber nicht einfach nur anklagen. „Oh ja – man kann schon
sagen, dass sich die Regierung wirklich bemüht. Aber in Alice Springs herrschen noch
Lebensbedingungen wie in einem früheren Jahrhundert. Die Regierung tut schon sehr
viel, um die Infrastruktur zu verbessern, und man muss ihren Eifer anerkennen – aber
es wirkt einfach nicht, was sie versucht.“ Die Lebensbedingungen der Ureinwohner
seien einfach nicht menschenwürdig, so der Seelsorger eindringlich. „Ich komme gerade
von einem Besuch in einem dieser Camps zurück. Da gibt es keinen Strom; die Hauswände
sind dünn wie Papier; wir haben hier Winter, ein Grad minus, es gibt keine Heizungen…“ „Es
gibt fließend Wasser, aber die hygienischen Verhältnisse sind nicht gut. Viele der
Camps haben keine Straßenbeleuchtung, und es kommt zu vielen sozialen Problemen wegen
der Überfüllung der engen Wohnungen. In einem Raum schlafen oft mehr als zehn Personen;
auch schon mal zwanzig.“ Die Ausweglosigkeit, das Fehlen jeder Perspektive, die
Armut macht die Ureinwohner krank, sagt Pater Rice. „Schon die kleinen Kinder sind
krank vor Armut. Ich sehe bei meinen Reisen aber auch eine dramatisch schlechte Gesundheitsversorgung
in den entlegeneren Gebieten – da klafft eine große Lücke zwischen den Ureinwohnern
und der Mehrheits-Gesellschaft.“ Was tun also? Mit kleinen Retuschen hier und da,
selbst mit noch so gut gemeinten Hilfen aus Canberra wäre es nicht getan, sagt der
Aborigine-Seelsorger durchaus selbstkritisch. „Ich glaube persönlich, der Schlüssel
liegt bei ihnen selbst. Vor einigen Wochen hat unser Bischof vor der Untersuchungskommission
zu den vielen Fällen von Kindesmissbrauch in Ureinwohner-Familien eine Stellungnahme
abgegeben. Und da hat er sehr deutlich gesagt: Jede Lösung, auch so eine Art
Bulldozer-Lösung, wie die Regierung sie versucht, muss in Absprache mit den Ureinwohnern
ins Werk gesetzt werden.“ „Wir suchen nach Führung. Wir suchen nach jemandem, der
sich für uns wirklich interessiert und sich um uns kümmert. Als Papst Johannes Paul
II. hierher kam vor etwa zwanzig Jahren – was für eine große Hoffnung war das! Er
drängte die Ureinwohner, das ihre beizutragen zu ihrer Kirche, zur Wirtschaft – und
er hoffte, dass ihr Beitrag von der Mehrheitsgesellschaft auch angenommen würde…“
Priester,
die zu den Eingeborenen gehören, sind eine absolute Seltenheit in Australien. Und
auch die Zahl der katholischen Aborigine ist nicht besonders hoch: „Es gibt sechstausend
registrierte Katholiken hier, aber manche sagen, davon stimmt nur die Hälfte – also
gehen wir mal von dreitausend katholischen Aborigines aus.“ „Wir als Kirche haben
sehr viele Aktivitäten zugunsten der Ureinwohner. Zunächst einmal eine eigene karitative
Organisation für sie; wir unterstützen ihre Verbände; vor allem aber sind wir einfach
da, bei ihnen, arbeiten mit ihnen zusammen in diesen schwierigen Zeiten… und Schulen
haben wir natürlich auch und Gesundheitszentren, die ihnen beistehen.“ Nächstes
Jahr kommt Papst Benedikt XVI. nach Australien. Dann werden die Kameras des Westens
wieder mal auf Australien zoomen – hoffentlich nicht nur auf das fast totfotografierte
Opernhaus in Sidney. Vielleicht fällt ja auch für die Aborigine, fern aller Indio-Romantik,
etwas echte Aufmerksamkeit ab - und eine Botschaft, die ihnen hilft, ihre Probleme
in den Griff zu bekommen. (rv 08.08.2007 sk)