Immer wieder hat Kardinal
Lustiger auch auf die politischen Probleme Frankreichs reagiert und sich dabei nie
ein Blatt vor den Mund genommen. In seinem letzten Interview für Radio Vatikan sprach
er über die Jugendkrawalle in den Banlieues, den Vorstädten der französischen Metropolen.
Kardinal Lustiger am 10. April 2006:
"Die Jugend ist zum ersten Opfer
geworden. Sie zeigt durch ihre Revolte, dass sie ein Erbe antreten muss, das sie nicht
verdient hat. Ich denke, dass die Krise dieser Tage nicht auf schnelle Art und Weise
gelöst werden kann. Die kurzfristigen Rezepte einer Politik, die nicht über den Tag
hinaus denkt, können ein derartiges Drama nicht bewältigen. Es braucht Jahrzehnte,
um die Moral des Volkes wieder herzustellen."
Die französische Gesellschaft
sei tief gespalten, so Lustiger:
"Meine persönliche Meinung: Wir müssen
in Frankreich den Preis bezahlen, den, so scheint es mir, alle entwickelten Länder
zahlen müssen. Schon als ich vor 25 Jahren zum Erzbischof von Paris ernannt worden
bin, habe ich gesagt: Das Drama unserer Zeit ist, dass die Jugend vor den Toren unserer
Gesellschaft kampiert.“
Wer sagt, dass die Unruhen jetzt
auf dem Nichts auftauchten, irre: „Im Grunde hat sich im Laufe der
vergangenen 30 oder 40 Jahre die Gesellschaft grundlegend verändert - mit dem Effekt,
dass die Jugend sich abspaltete. Die natürliche Weitergabe der Kultur, der Werte,
des Umgangs miteinander, des Verantwortungssinns funktioniert sehr schlecht. Erziehung
erfüllt in Frankreich nicht mehr die Aufgabe der Wertevermittlung und der Kunst, zu
leben."
Die Ursachen für die Probleme der französischen Innenpolitik oder
die Unruhen in der Gesellschaft lägen tiefer:
"Ich denke, dass Frankreich
diese Krise auf sehr extreme Weise lebt. Zum Beispiel: Die Zerstörung der familiären
Gemeinschaft. Die Familie hat nicht mehr den gleichen Stellenwert wie vor 40 Jahren.
Familie, Monogamie, Treue werden von der Mehrheit als rückständig empfunden."