Papst: Grundsatzrede an Bischöfe Lateinamerikas. Die Kernsätze.
In Lateinamerika ...
sieht man ein Fortkommen in Richtung Demokratie; dennoch bleiben Motive, sich Sorgen
zu machen angesichts autoritärer Regierungen oder Ideologien, die sich überlegen dünken
und die mit der christlichen Vorstellung vom Menschen und der Gesellschaft, wie es
die Soziallehre der katholischen Kirche lehrt, nichts zu tun haben. Auf dem Weg zu
einer freien Wirtschaft in manchen Ländern Lateinamerikas muss die Gerechtigkeit im
Blick behalten werden...
Es stimmt schon, dass im Ganzen der Gesellschaft
eine Schwächung des christlichen Lebens und der Teilnahme am Leben der katholischen
Kirche festzustellen ist; das liegt am Säkularismus, am Hedonismus, an der Beliebigkeit
und auch am Proselytismus durch zahlreiche Sekten, durch Naturreligionen oder durch
neue pseudo-religiöse Bewegungen. All das stellt uns vor eine neue Situation, um die
es hier in Aparecida gehen wird. Angesichts der neuen und schwierigen Herausforderungen
hoffen die Gläubigen, dass diese fünfte Konferenz ihren Glauben an Christus erneuern
und wiederbeleben wird...
Wer Gott aus seinem Horizont ausschließt, der bekommt
ein schiefes Bild von der Wirklichkeit und kann nur auf dem falschen Weg landen, mit
den falschen Rezepten in der Hand. Unsere erste grundlegende Aussage ist darum die
folgende: Nur wer Gott anerkennt, kennt die Realität und kann auf sie adäquat und
wirklich menschlich antworten. Die Wahrheit dieser These scheint evident, wenn wir
auf das Versagen aller Systeme blicken, die Gott in Klammern setzen.
Die Begegnung
mit Gott ist in sich selbst und als solche eine Begegnung mit den Brüdern. ... In
diesem Sinn ist die „Option für die Armen“ impliziert schon drin im christologischen
Glauben an diesen Gott, der für uns arm geworden ist, um uns mit seiner Armut zu bereichern.
...
(Es ist) nötig, das Volk zur Lektüre und zur Meditation des Wortes Gottes
zu erziehen... Wie sollten sie denn sonst seine Botschaft verkünden, wenn sie deren
Inhalt und Geist gar nicht bis ins Tiefste kennen? ...
(Außerdem sehe ich)
die Notwendigkeit in unserem Pastoralprogramm, dem Wert der Sonntagsmesse Priorität
zu geben. Wir müssen die Christen motivieren, damit sie aktiv an ihr teilnehmen –
am besten, wenn möglich, gemeinsam mit der Familie. ...
Wie kann die Kirche
zur Lösung der dringenden sozialen und politischen Probleme beitragen und wie auf
die große Herausforderung der Armut und des Elends antworten? Die Probleme Lateinamerikas
und der Karibik sind, wie überhaupt in der Welt von heute, vielfältig und komplex,
und man kann sie nicht mit Patentrezepten angehen. Kein Zweifel: Die fundamentale
Frage, wie die Kirche im Licht des Glaubens an Christus auf diese Herausforderungen
antworten soll, geht uns alle an. In diesem Zusammenhang ist es unerlässlich,
vom Problem der Strukturen zu sprechen, vor allen Dingen den Strukturen, die Ungerechtigkeiten
hervorrufen. Gerechte Strukturen sind eine Bedingung, ohne die eine gerechte Ordnung
der Gesellschaft nicht möglich ist. Aber wie entstehen sie, und wie funktionieren
sie? Kapitalismus wie Marxismus gaben vor, die Straße für die Schaffung gerechter
Strukturen zu kennen, und beteuerten, dass diese, wenn sie denn erst mal geschaffen
wären, von selbst funktionieren würden. Sie beteuerten, dass man dazu eine dem allem
vorausgehende individuelle Moral nicht brauche... Doch dieses ideologische Versprechen
hat sich als falsch erwiesen, die Fakten haben das gezeigt. Das marxistische System
hat, wo immer es an der Regierung war, nur ein trauriges Erbe an wirtschaftlicher
und ökologischer Zerstörung hinterlassen und darüber hinaus eine schmerzhafte Zerstörung
des Geistes. Das Gleiche sehen wir auch im Westen, wo die Distanz zwischen Armen und
Reichen ständig wächst und die Menschenwürde auf beunruhigende Weise Schaden leidet:
durch Drogen, Alkohol und täuschende Glücksversprechen.
Wie gesagt: Gerechte
Strukturen sind eine unerlässliche Bedingung für eine gerechte Gesellschaft. Aber
sie entstehen und funktionieren nicht ohne einen moralischen Konsens der Gesellschaft,
über die grundlegenden Werte und über die Notwendigkeit, diese Werte auch mit dem
nötigen Verzicht, sogar gegen das persönliche Interesse zu leben. Wo Gott abwesend
ist, der Gott mit dem menschlichen Antlitz Jesu Christi, da zeigen sich diese Werte
nicht mit ihrer ganzen Kraft, und es entsteht auch kein Konsens über sie. Ich will
damit nicht sagen, dass die Nicht-Gläubigen nicht mit einer besonderen und exemplarischen
Moralität leben könnten; ich sage nur, dass eine Gesellschaft, in der Gott abwesend
ist, nicht den nötigen Konsens über moralische Werte findet und auch nicht die Kraft,
entsprechend dem Modell dieser Werte zu leben - und das auch gegen die eigenen Interessen.
...
Die politische Arbeit ist nicht unmittelbare Kompetenz der Kirche. Der
Respekt einer gesunden Laizität, was auch die Pluralität der politischen Positionen
einschließt, ist in einer echten christlichen Tradition grundlegend. Wenn die Kirche
anfangen würde, sich direkt in ein politisches Subjekt zu verwandeln, dann würde sie
damit nicht mehr tun für die Armen und für die Gerechtigkeit, sondern weniger.
Denn sie verlöre ihre Unabhängigkeit und ihre moralische Autorität, wenn sie sich
mit einem einzigen politischen Weg und mit Meinungen, über die man sich streiten kann,
identifiziert. Die Kirche ist Anwältin der Gerechtigkeit und der Armen, eben weil
sie sich nicht mit den Politikern identifiziert noch mit den Interessen der
Parteien. ...
Da es sich hier um einen Kontinent der Getauften handelt, wird
es nötig sein, im politischen Bereich, aber auch in Medien und Universitäten, etwas
gegen die bemerkenswerte Abwesenheit von Stimme und Initiative katholischer Führer
mit starker Persönlichkeit und großherzigem Einsatz zu tun, die konsequent sind, was
ihre ethischen und religiösen Überzeugungen betrifft. ...
Die Familie, ein
Weltkulturerbe, bildet einen der wichtigsten Schätze der lateinamerikanischen Länder.
Ohne Zweifel ist sie im Moment mit widrigen Situationen konfrontiert, die sich aus
Säkularismus und ethischem Relativismus ergeben. ... In einigen Familien Lateinamerikas
gibt es leider immer noch eine Macho-Mentalität, die die Neuheit des Christentums
ignoriert, bei der die gleiche Würde und Verantwortung der Frau im Vergleich zum Mann
anerkannt und proklamiert wird. (Übersetzung: rv)