2007-03-15 11:36:19

D: "In Verantwortung vor Gott und den Menschen"


„Europa: In Verantwortung vor Gott und den Menschen“ - so heißt eine heute veröffentlichte Erklärung der deutschen Bischöfe zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge. Sie rufen dazu auf, „sich der Ursprünge dieses europäischen Integrationsprozesses zu erinnern, seine Grundbestimmungen wahrzunehmen und die Aufgaben Europas zu erkennen“.
Die Bischöfe erinnern daran, dass es der „ursprüngliche Beweggrund“ europäischer Einigung war, Frieden zu schaffen und zu sichern. Dass die europäische Politik weiter vom christlichen Menschenbild geprägt sei, halten die Oberhirten für "das eigentliche christliche Erbe Europas", weil es "in der Gegenwart Europas lebendig und für die Gestaltung der Zukunft Europas von bleibender Bedeutung ist“. Deshalb gehöre in einen europäischen Grundlagentext auch ein „Bezug auf das christlich-jüdische Erbe Europas und dessen bleibende Wirksamkeit“.
Aufgabe der EU bleibe eine ständige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen. Besonders viel ist aus Sicht der Bischöfe für die Familien zu tun. Nicht die Familien seien an die Arbeitswelt anzupassen, sondern die Wirtschaft und Arbeitswelt müsse familienfreundlicher gestaltet werden. Europa solle außerdem „den Mut zu einer gemeinsamen Außenpolitik aufbringen“ und „echte Entwicklungspartnerschaften mit den armen Regionen dieser Welt begründen“.
Ausdrücklich begrüßen die Bischöfe eine Neuaufnahme des europäischen Verfassungsprozesses. Der Gottesbezug einer Verfassung mache deutlich, „dass alles menschliche Handeln endlich, dass keine Politik absolut ist“. Deshalb brauche Europa ihn.
(rv/pm 15.03.07 sk)
Im Folgenden dokumentieren wir die Erklärung im Wortlaut:
Europa: In Verantwortung vor Gott und den Menschen
Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz
zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge
„Die Zeit scheint also reif dafür, dass die Idee Wirklichkeit werde. … Warum noch zaudern? Das Ziel ist klar, die Bedürfnisse der Völker liegen offen vor aller Augen. Dem, der im voraus eine absolute Garantie für den glücklichen Ausgang haben möchte, müsste man antworten, dass es sich wohl um ein Wagnis, aber um ein notwendiges Wagnis handle, um ein Wagnis jedoch, das den gegenwärtigen Möglichkeiten entspreche, um ein vernünftiges Wagnis. … Wer absolute Gewissheit verlangt, beweist keinen guten Willen gegenüber Europa.“ Mit diesen Worten hat Papst Pius XII. gut drei Jahre vor der Unterzeichnung der Römischen Verträge für Europa das „Zustandekommen einer kontinentalen Union seiner Völker, die sich zwar voneinander unterscheiden, aber geographisch und historisch miteinander verbunden sind“ eingefordert – gegen alle Bedenken. Wie es die Kirche immer wieder vor und nach ihm getan hat, so hat er in einer schwierigen Zeit all denen nachdrücklich Mut gemacht, die sich für ein geeintes Europa einsetzten. Deshalb auch hat die Kirche die Heiligen Benedikt, Cyrill und Methodius, Katharina von Siena, Birgitta von Schweden und Edith Stein zu Patronen Europas erhoben. Zu denken ist aber auch an Papst Johannes Paul II. und seinen Beitrag zur Überwindung der Zweiteilung unseres Kontinents.
Der europäische Einigungsprozess hat seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge über die Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und einer Europäischen Atomgemeinschaft immer wieder auch Verzögerungen und Krisen erfahren. Auch heute ist die europäische Einigung in einer Phase, die von vielen als Krise beschrieben wird. Und doch hat Europa in den letzten fünfzig Jahren eine beispiellose Zeit des Friedens und des Wohlstands erlebt. Es lohnt deshalb in dieser Situation, sich der Ursprünge dieses europäischen Integrationsprozesses zu erinnern, seine Grundbestimmungen wahrzunehmen und die Aufgaben Europas zu erkennen.
Erinnerung
Trümmer und Schuld waren die Ausgangspunkte des europäischen Einigungswerkes in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Millionen Menschen hatten durch Krieg und Gewaltherrschaft ihr Leben verloren, hatten unvorstellbares Leid erfahren, waren entwurzelt.
Die Erfahrung von Jahrhunderten, dass Europäer Europäer bekämpften, hatte sich in den Jahren des Zweiten Weltkrieges erschreckend verdichtet. Dem wollten die Männer und Frauen – viele von ihnen ausdrücklich durch ihren Glauben motiviert – begegnen, die bald nach dem Krieg mutig für Versöhnung zwischen den europäischen Völkern eintraten, angefangen bei der Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich. Nie wieder sollten Europäer mit Europäern Krieg führen. Um dies zu verhindern, sollte eine enge Verbundenheit zwischen den Völkern geschaffen werden, zunächst konkret durch eine Verzahnung der Volkswirtschaften. Dieser Weg, der auf besondere Weise mit der vor fünfzig Jahren gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beschritten wurde, war für Westeuropa ein außerordentlich großer Erfolg. Umso bedeutsamer war es, dass nach den Revolutionen der Jahre um 1989 für die mittel- und osteuropäischen Staaten der Weg frei wurde und Europa wiedervereinigt werden konnte. Heute vergessen wir den ursprünglichen Beweggrund europäischer Einigung angesichts vielfältiger praktischer Probleme nur allzu leicht, obwohl er doch so erfolgreich war und ist: Die europäische Integration, wie sie heute in der Europäischen Union ihre Gestalt gefunden hat, ist eine friedenschaffende und friedenssichernde Kraft, wie wir sie in der Geschichte kaum ein zweites Mal finden. Dass diese Kraft stark war und ist, gilt auch, wenn sie an einem Ort im Herzen Europas nicht ausgereicht hat: Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien bilden eine schmerzende Wunde.
Zugleich steht die Erfahrung der Schuld am Anfang, auch wenn diese Schuld nicht sofort, sondern erst nach und nach eingestanden wurde. Es ist dies die Schuld an Auschwitz, an dem ungeheuerlichen Völkermord und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitten in Europa, die von Deutschland ausgingen. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg galt und ebenso gilt heute: Nie wieder darf sich Auschwitz wiederholen. Die gemeinsame Erinnerung der europäischen Völker aber ist erst in einem jahrzehntelangen Prozess gewachsen, und sie hat Europa verändert. Die Erinnerung an Europas ermordete Juden ist Kriterium für die wiedergefundene Humanität unseres Kontinents.
Wenn wir am 25. März 2007 den fünfzigsten Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge begehen, dann müssen wir uns dieser Ursprungsmotive erinnern. Sie stellen bis heute die erste und nach wie vor wichtigste Legitimation der europäischen Einigung dar. Das hat konkrete Folgen. Das europäische Einigungswerk ist unvollendet, solange nicht alle europäischen Staaten, die dies wollen, an dem wichtigsten Instrument europäischen Zusammenhalts, der Europäischen Union, teilhaben. Es ist nicht eine beliebige Frage politischer Interessen, ob sie alle, besonders auch die Staaten des westlichen Balkans, Mitglied der Europäischen Union werden können, sondern eine Verpflichtung der heutigen Mitglieder, alles dafür zu tun, dass dies gelingt. Das Gleiche gilt für die Beitrittsaspiranten. Auch sie müssen sich vorbereiten: Dazu gehört neben politischen und wirtschaftlichen Reformen ebenso, das eigene Erbe anzunehmen, auch wenn dieses schmerzhaft und schuldbeladen ist, wie etwa auf dem Balkan.
Die europäischen Völker wollen einen anderen Umgang untereinander und mit den Anderen pflegen als zuvor: nicht mehr gegeneinander, sondern – bisherige Grenzen überwindend – miteinander. Europa ist nicht mehr Synonym für Erbfeindschaften und Krieg, sondern für Konfliktlösung und Konfliktvermeidung ohne Waffen. Das ist das neue Europa! Insofern kann die Europäische Union eine Antwort auf die tragische Geschichte dieses Kontinentes sein. Sie will es sein. Das ist die europäische Hoffnung!
Bekenntnis
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, mit diesen nicht relativierbaren Worten beginnt die Europäische Grundrechtecharta. Sie nimmt damit die übereinstimmende Grundlage des Verfassungsdenkens der europäischen Staaten auf, auch die unseres Grundgesetzes. Zum Ausdruck kommt darin der unbedingte Vorrang des Menschen. Der Mensch ist allem gesellschaftlichen und staatlichen Handeln vorgeordnet. Er ist Person, deren Würde angetastet wird, wenn ihre Freiheit ungerechtfertigt beschnitten oder das Leben – in welcher Phase auch immer – durch Menschen beendet wird. Die Würde des Menschen wird aber auch angetastet, wenn er nicht ein Mindestmaß an Gütern hat, um sich am Leben der Gesellschaft zu beteiligen, denn der Mensch ist nicht nur Individuum, sondern zugleich ein soziales Wesen. Er ist auf andere bezogen, er lebt mit anderen, nicht allein.
Diese doppelte Beschreibung des Menschen hat von Anfang an im europäischen Integrationsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Ausdruck gefunden: in der Hochschätzung der Menschenrechte, der Freiheitsrechte wie der sozialen Grundrechte, konkret in der praktischen Ermöglichung von Freizügigkeit bei gleichzeitigem Schutz der Lebens- und Arbeitsbedingungen oder beispielsweise in der Ausweitung des Wettbewerbs bei gleichzeitigem Schutz dieses Wettbewerbs vor Verfälschungen, also vor einer zu starken Stellung einzelner. So findet es sich schon in den Römischen Verträgen. Die europäische Integration hatte immer auch eine soziale Dimension. Dies bleibt Verpflichtung.
Die doppelte Beschreibung des Menschen spiegelt zugleich die christliche Vorstellung vom Menschen wider, den wir als von Gott nach seinem Bild geschaffen ansehen. Dies hat unseren Kontinent über Jahrhunderte geformt und in seiner Kultur einen Ausdruck gefunden. Dass die europäische Politik grundsätzlich von diesem Menschenbild geprägt ist, ist das eigentliche christliche Erbe Europas, das in der Gegenwart Europas lebendig und für die Gestaltung der Zukunft Europas von bleibender Bedeutung ist. Das schließt Anfragen und Kritik an konkreten politischen Maßnahmen nicht aus, sondern fordert sie gerade heraus, wie etwa hinsichtlich einer EU-Forschungsförderung, die den Schutz des Lebens nicht hinreichend ernst nimmt. Hier haben die Kirchen und jeder einzelne Christ einen bleibenden politisch-diakonischen Auftrag. Deshalb ist es gut und notwendig, dass es einen regelmäßigen Dialog zwischen den Kirchen und der Europäischen Union geben soll.
Wenn wir heute zu Recht die glückliche Erfolgsgeschichte der europäischen Integration in den vergangenen fünfzig Jahren feiern, dann bekennen wir uns zugleich zu dem Menschenbild, das Europa zutiefst prägt. Das sollten wir uns bewusst machen. Deshalb gehört in einen europäischen Grundlagentext, der die Verfassung der Europäischen Union umschreibt, sowohl eine rechtlich verbindliche Charta europäischer Grundrechte als auch ein der geschichtlichen Wahrheit verpflichteter Bezug auf das christlich-jüdische Erbe Europas und dessen bleibende Wirksamkeit.
Verantwortung
„Europa ist ein Beitrag für eine bessere Welt“, so hat Jean Monnet, einer der Begründer der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg, unseren geeinten Kontinent charakterisiert. Dies ist eine Chance, aber auch Verpflichtung.
Zunächst nach innen: Schon in den Römischen Verträgen wurde formuliert, dass die europäische Vergemeinschaftung die „stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker als wesentliches Ziel“ anstrebt, mithin die konkrete Lebenswelt der Menschen bessern soll. Der Gemeinsame Markt mit seinen vier Grundfreiheiten: der Freizügigkeit von Gütern und Dienstleistungen, Arbeit und Kapital, hat viel zum Wohlstand und Wohlergehen der Menschen beigetragen. Es stellte jedoch eine krasse Verkürzung des Begriffs der Freiheit dar, wenn diese allein auf den Wirtschaftsbereich bezogen und hier allein im Sinne einer Abschaffung von Regeln und Pflichten verstanden würde. Freiheit muss für alle lebbar sein; staatliche Ordnungen, auch die Europäische Union, müssen dazu beitragen, dass ein selbstbestimmtes Leben der Menschen möglich ist. Die ursprüngliche Hoffnung Europas, mittels institutionalisierter Zusammenarbeit liberale Wirtschaftsordnung und solidarische Gesellschaftsordnung in eine gute Balance zu bringen, muss deshalb wiedererweckt werden. Nur so werden auch die Menschen Europa wieder als ihr Anliegen begreifen. Noch so ambitionierte Programme zur Förderung der Wirtschaft und Vergleiche Europas mit anderen Wirtschaftsräumen auf der Welt dürfen sich nie gegen die Menschen wenden. Konkret bedeutet dies etwa, dass der Lissabon-Prozess einer klaren sozialen Dimension bedarf. So ist es notwendig, dass die Europäische Union in ihrer gesamten Politik stärker die Bedürfnisse der Familien in den Blick nimmt. Dies nicht, wie es leider auch in nationalen Kontexten immer wieder im Rahmen der Debatten um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geschieht, um die Familien an die Arbeitswelt anzupassen, sondern umgekehrt, um Wirtschaft und Arbeitswelt fa­mi­lien­freund­li­cher zu gestalten. Europa muss familienorientierter werden und den Menschen stärker ins Zentrum rücken. Schon vor fünfzig Jahren waren die europäischen Einrichtungen auch Instrumente, die den Menschen Sicherheit gaben in einer Zeit zunehmender grenzüberschreitender Wirtschaftsbeziehungen – man denke nur an die Probleme der sogenannten Wanderarbeitnehmer. Um wie viel mehr kann die Europäische Union heute eine Antwort auf die für viele beängstigenden Bedingungen einer globalisierten Welt sein.
Dies bedeutet dann aber auch eine Verantwortung Europas nach außen, für die übrige Welt: Europa hat in den letzten fünfzig Jahren eine Form der Kooperation entwickelt, die darauf verzichtet, das Recht des Stärkeren durchzusetzen, sondern gerade darauf baut, dass auch die kleinen Staaten in Europa mit ihren Anliegen Beachtung finden. Auch wenn das Vertrauensverhältnis zwischen den europäischen Staaten sicher noch immer nicht frei von Belastungen ist und weiter gestärkt werden muss, so kann Europa mit seiner Form der Kooperation doch Vorbild sein für Konfliktlösungen in vielen Teilen der Welt. Und es kann diese Form politischen Agierens, nämlich nicht allein die eigenen Interessen zu formulieren, sondern auch die der anderen in den Blick zu nehmen, selbst in die internationale Politik einbringen. Dazu muss es den Mut zu einer gemeinsamen Außenpolitik aufbringen. Darüber hinaus sollte Europa echte Entwicklungspartnerschaften mit den armen Regionen dieser Welt begründen, vor allem mit dem Nachbarkontinent Afrika, und tatkräftigen Einsatz im Kampf gegen die weltweite Massenarmut an den Tag legen. Dazu gehört auch, dass die Europäische Union ihre Märkte besonders für die ärmeren Nationen und deren Produkte öffnet. Zu einer Verantwortung Europas für die Welt gehört in einer Zeit vielfältiger Konflikte weltweit ebenfalls die Bereitschaft, Flüchtlinge und Verfolgte menschenwürdig aufzunehmen. Eine Herausforderung, die über Europa hinausgeht und wirklich globalen Charakter hat, ist der Klimawandel und damit der Schutz der Schöpfung insgesamt. Da sich in Europa wohl früher als in einigen anderen Teilen der Welt eine gewisse Sensibilität für die Notwendigkeit des Klimaschutzes entwickelt hat, wird es eine Aufgabe Europas sein, selbst alle Möglichkeiten zum Schutz des Klimas, etwa auch durch eine vorausschauende Energiepolitik, auszuschöpfen und gemeinsam in internationalen Zu­sam­men­hän­gen wie der G8 für den Schutz des Klimas einzutreten.
Die europäische Einigung der letzten fünfzig Jahre ist eine Erfolgsgeschichte. Wenn Europa um seine Herkunft und seine Grundlagen weiß, wird es auch das Vertrauen der Europäer haben. Damit Europa aber auch seiner Verantwortung in der Zukunft gerecht werden kann, braucht es eine gut funktionierende innere Ordnung, die die Europäische Union auch dann, wenn sie eines Tages wirklich alle europäischen Völker vereint, nach innen und außen handlungsfähig macht. Es ist deshalb gut, wenn zum fünfzigsten Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge der europäische Verfassungsprozess neu aufgenommen wird. Dabei muss uns bewusst sein, dass alles menschliche Handeln endlich, dass keine Politik absolut ist. Dies will der Gottesbezug einer Verfassung deutlich machen. Europa braucht ihn. Den Staats- und Regierungschefs, die sich in Berlin feierlich versammeln und eine gemeinsame Erklärung zu den Grundlagen der Europäischen Union abgeben werden, können wir auch heute mit den Worten Pius’ XII. zurufen: „Warum noch zaudern? Das Ziel ist klar, die Bedürfnisse der Völker liegen offen vor aller Augen.“
Bonn, 15. März 2007








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