Die vier Evangelien sind nach Worten des Kapuzinerpaters Raniero Cantalamessa zwar
„keine historischen Bücher im modernen Sinn einer weitestgehend distanzierten und
neutralen Schilderung von Geschehnissen“. Sie überliefern uns aber dennoch den substantiellen
Inhalt des Lebens und der Lehre Jesu. Das bekräftigt der Päpstliche Hausprediger in
einem Text, den die katholische Nachrichtenagentur Zenit verbreitet. Wörtlich schreibt
Cantalamessa: "Das überzeugendste Argument zugunsten der fundamentalen historischen
Wahrheit der Evangelien besteht darin, dass wir immer wieder in uns selbst erfahren,
wie uns ein Wort Christi in der Tiefe unseres Herzens anspricht." (zenit 21.01.07
sk) Wir dokumentieren hier den Text Cantalamessas in der Übersetzung von "Zenit".
Sind die Evangelien historische Berichte?
Bevor er die
Erzählung über das Leben Jesu beginnt, erklärt der Evangelist Lukas die Kriterien,
von denen er sich leiten lässt. Er versichert, dass er von Tatsachen berichtet, die
Augenzeugen bestätigt hätten und die von ihm selbst „sorgfältig“ recherchiert worden
seien, damit sich der Leser von der Zuverlässigkeit der im Evangelium enthaltenen
Lehren überzeugen kann.
Dies bietet uns die Gelegenheit, uns mit dem Problem
der Geschichtlichkeit der Evangelien auseinanderzusetzen. Bis vor wenigen Jahrhunderten
gab es unter den Menschen keinen Sinn für Kritik. Man hielt alles, was erzählt wurde,
für ein historisches Ereignis. In den letzten zwei oder drei Jahrhunderten entstand
der historische Sinn: Ehe man zur Überzeugung gelangte, dass vergangene Geschehnisse
echt seien, wurden sie einer aufmerksamen kritischen Untersuchung unterzogen wird,
um sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen. Dieser Anspruch wurde auch auf die
Evangelien angewandt. Fassen wir die verschiedenen Etappen zusammen, die das Leben
und die Lehre Jesu durchlaufen haben, ehe sie uns erreicht haben.
Phase
1, das irdische Leben Jesu
Jesus hat nichts geschrieben, aber in seiner
Predigt benutzte er einige allgemeine Einsichten der antiken Kulturen, die es sehr
erleichterten, einen Text im Gedächtnis zu behalten: kurze Sätze, Parallelismen und
Antithesen, rhythmische Wiederholungen, Bilder, Gleichnisse… Denken wir an Sätze des
Evangeliums wie: „Die Ersten werden die Letzten sein, und die Letzten die Ersten“;
„Denn das Tor ist weit, das ins Verderben führt, und der Weg dahin ist breit… Aber
das Tor, das zum Leben führt, ist eng, und der Weg dahin ist schmal“ (Mt 7,13-14).
Der heutige Mensch tut sich schwer, Sätze wie diese vergessen, wenn sie sie erst einmal
gehört haben. Die Tatsache also, dass Jesus die Evangelien nicht selbst geschrieben
hat, bedeutet nicht, dass die in ihnen überlieferten Worte nicht die seinen wären.
Da die Menschen der Antike die Worte nicht auf Papier drucken konnten, prägten sie
sie sich im Geist ein.
Phase 2, die mündliche Predigt der Apostel
Nach
der Auferstehung begannen die Apostel sofort damit, allen Menschen das Leben und die
Worte Christi zu verkünden. Dabei achteten sie auf die Bedürfnisse und die Umstände
der verschiedenen Zuhörer. Ihr Ziel war es nicht, Geschichten zu erzählen, sondern
den Menschen zum Glauben zu führen. Mit dem klareren Verständnis, dass sie nunmehr
hatten, waren sie fähig, den anderen das zu übermitteln, was Jesus gesagt und getan
hatte, indem sie es an die Bedürfnisse derer anglichen, an die sich wandten.
Phase
3, die geschriebenen Evangelien
Ungefähr dreißig Jahre nach dem Tod Jesu
begannen einige Autoren, diese Predigt, die auf mündlichem Weg zu ihnen gelangt war,
schriftlich festzuhalten. So entstanden die vier Evangelien, die wir kennen. Aus den
vielen Dingen, die ihnen überliefert worden waren, wählten die Evangelisten einige
aus; andere fassten sie zusammen, wieder andere erklärten sie, um sie den Bedürfnissen
des Augenblicks der Gemeinden, für die sie schrieben, anzupassen. Das Bedürfnis, die
Worte Jesu den neuen und unterschiedlichen Anforderungen anzupassen, nahm Einfluss
auf die Ordnung, in der die Geschehnisse in den vier Evangelien erzählt sind, sowie
auf die verschiedene Färbung und Gewichtung. Es veränderte aber nicht ihre fundamentale
Wahrheit. Dass die Evangelisten ihren Möglichkeiten jener Zeit nach eine historische
und nicht nur um Erbauung bemühte Sorge hegten, beweist die Genauigkeit, mit der sie
die Ereignisse um Jesus herum in Zeit und Raum situieren. Wenig weiter im Text liefert
uns Lukas die politischen und geographischen Koordinaten des Anfangs des öffentlichen
Wirkens Jesu (vgl. Lk 3,1-2).
Um es zusammenzufassen: Die Evangelien sind
keine historischen Bücher im modernen Sinn einer weitestgehend distanzierten und neutralen
Schilderung von Geschehnissen. Sie sind aber in dem Sinn historisch, dass sie uns
nachdenkend den substantiellen Inhalt der Ereignisse übermitteln. Das überzeugendste
Argument aber zugunsten der fundamentalen historischen Wahrheit der Evangelien besteht
darin, dass wir immer wieder in uns selbst erfahren, wie uns ein Wort Christi in der
Tiefe unseres Herzens anspricht. Welches andere Wort, sei es nun ein altes oder ein
neues, hat jemals eine derartige Macht besessen?