"Ich würde
nicht einfach sagen, dass der deutsche Katholizismus müde ist. Müdigkeiten gibt es
überall…"
Er lächelt, dieser Papst. Er lächelt über die in seinen Augen
und Ohren viel zu kritische Frage des Journalisten, kurz vor dem Abflug zur Bayernreise
im September 2006.
"Ich habe in diesen Wochen der Vorbereitung gesehen,
wie viel Dynamik da ist. Unglaublich, wer alles mit wie viel Energie sich eingesetzt
hat. Ich weiß gar nicht, wie ich da danken soll. Es kann sich nicht auf meine Person
beziehen, es kann sich nur darauf beziehen, dass wir gemeinsam Kirche sein wollen,
dass wir gemeinsam eine Kraft des Friedens für die Nation und für die Welt sein möchten.
Insofern fliege ich mit großen Hoffnungen nach Hause und bin dankbar für alles, was
ich gesehen habe, was zeigt: So müde ist der deutsche Katholizismus nicht, wie manche
meinen."
Den "Panzerkardinal" gibt es nicht mehr. Der gestrenge "Großinquisitor“
ist aus der deutschen Öffentlichkeit verschwunden. So vielfältig und hart die Kritik
noch nach der Papstwahl, so unisono und nahezu liebevoll jetzt die Begeisterung.
"Wir
sind in Deutschland gewöhnt, und ich als Professor auch ganz besonders, dass man vor
allem Probleme sieht. Aber zunächst, glaube ich, sollten wir uns doch auch sagen,
dieses ganze ist nur möglich geworden, weil es in Deutschland trotz aller Nöte der
Kirche, trotz alles Fragwürdigen, was auch bestehen mag, doch wirklich eine lebendige
Kirche gibt, eine Kirche, in der so viel Positives da ist, so viele Menschen, die
bereit sind, sich für ihren Glauben einzusetzen, ihre Freizeit dafür herzugeben, auch
Geld oder sonst etwas von ihren Dingen beizusteuern, einfach mit ihrer lebendigen
Existenz beizutragen." (21. August 2005) Das waren Benedikts Worte nach dem Weltjugendtag
von Köln.
Was hat der Papst seinen Landsleuten schon ins Stammbuch geschrieben?
Gelegenheiten gab es viele. Doch eine ist beispielhaft: die erste Predigt während
der Pastoralreise durch Bayern. Auf dem Gelände der Neuen Messe in München-Riem hat
der Oberhirte der katholischen Kirche seinen Eintrag ins Gästebuch hinterlassen.
"Macht
die Ohren auf für Gott!“ So kurz wie schwer ist diese Quintessenz der bis dahin prägnantesten
Predigt seiner Amtszeit. "Die katholische Kirche in Deutschland ist großartig durch
ihre sozialen Aktivitäten, durch ihre Bereitschaft zu helfen, wo immer es Not tut",
so der Papst. Aber er warnte vor blindem Aktionismus: "Offenbar herrscht da doch
bei manchen die Meinung, … die Dinge mit Gott oder gar mit dem katholischen Glauben,
die seien doch eher partikulär und nicht gar so wichtig." Benedikt berichtete
von den Gesprächen und Erfahrungen der Bischöfe aus Afrika und Asien, die ihm auch
den Dank für alle Hilfe der deutschen Kirche aufgetragen hätten. Jede Silbe, jedes
Komma saß, in diesem Gästebucheintrag. Aber der erhobene Zeigefinger des Glaubenshüters,
der in seinem Heimatland so kritisiert war, der fehlte. Es schien, als wolle er Gläubige
wie Würdenträger beim Ohr packen und sagen, kommt mit, ich habe euch etwas zu sagen.
"Das Evangelium lädt uns ein, wieder zu erkennen, dass es bei uns ein Defizit
in unserer Wahrnehmungsfähigkeit gibt – einen Mangel, den wir zunächst gar
nicht als solchen spüren, weil ja alles andere sich durch seine Dringlichkeit und
Einsichtigkeit empfiehlt; weil ja scheinbar alles normal weitergeht, auch wenn wir
keine Ohren und Augen mehr für Gott haben und ohne ihn leben." Doch
da saß nicht der Professor am Katheder; da erzählte ein lebensweiser Mann auf dem
Hintergrund seiner Erfahrungen: "Das Soziale und das Evangelium sind nicht zu
trennen. Wo wir den Menschen nur Kenntnisse bringen, Fertigkeiten, technisches Können
und Gerät, bringen wir zu wenig. Dann treten die Techniken der Gewalt ganz schnell
in den Vordergrund und die Fähigkeit zum Zerstören, zum Töten wird zur obersten Fähigkeit,
um Macht zu erlangen, die dann irgendwann einmal das Recht bringen soll und es doch
nicht bringen kann: Man geht so nur immer weiter fort von der Versöhnung, vom gemeinsamen
Einsatz für Gerechtigkeit und Liebe. Die Maßstäbe, nach denen Technik in den Dienst
des Rechts und der Liebe tritt, gehen verloren, aber auf diese Maßstäbe kommt alles
an." Diese Maßstäbe seien nicht nur Theorien, sondern brächten Verstand und
Tun auf den rechten Weg, so der Papst, bevor er fortfuhr mit seinem Verweis auf andere
Länder: "Die Völker Afrikas und Asiens bewundern zwar unsere technischen Leistungen
und unsere Wissenschaft, aber sie erschrecken zugleich vor einer Art von Vernünftigkeit,
die Gott total aus dem Blickfeld des Menschen ausgrenzt und dies für die höchste Art
von Vernunft ansieht, die man auch ihren Kulturen aufdrängen will. Nicht im christlichen
Glauben sehen sie die eigentliche Bedrohung ihrer Identität, sondern in der Verachtung
Gottes und in dem Zynismus, der die Verspottung des Heiligen als Freiheitsrecht ansieht
und Nutzen für zukünftige Erfolge der Forschung zum letzten ethischen Maßstab erhebt.
Liebe Freunde! Dieser Zynismus ist nicht die Art von Toleranz und kultureller Offenheit,
auf die die Völker warten und die wir alle wünschen." Zuallererst brauche es
Ehrfurcht vor Gott. Doch in der westlichen Welt, das betonte Benedikt ausdrücklich,
müsse dafür zunächst der Glaube wieder erwachen, müsse Gott in der Gesellschaft wieder
präsent werden. "Wir drängen diesen Glauben niemandem auf: Diese Art von Proselytismus
ist dem Christlichen zuwider. Der Glaube kann nur in Freiheit geschehen.
Aber die Freiheit der Menschen rufen wir an, sich für Gott aufzutun; ihn
zu suchen; ihm Gehör zu schenken. Wir, die wir hier sind, bitten den Herrn von ganzem
Herzen, dass er wieder sein Ephata zu uns sagt; dass er unsere Schwerhörigkeit für
Gott, für sein Wirken und sein Wort heilt, uns sehend und hörend macht. Wir bitten
ihn, dass er uns hilft, wieder das Wort des Gebetes zu finden, zu dem er uns in der
Liturgie einlädt; dessen ABC er uns im Vaterunser geschenkt hat." Es gab Applaus.
Aber nicht jubelnd, nicht lang anhaltend, weder von Bischöfen noch von Gläubigen.
Es war dieses bedächtige, überlegende, zustimmende Kopfnicken das über das Münchner
Messegelände ging. Der Papst hat hier die Soll- und Habenseite seiner Deutschlandbilanz
offengelegt. Die größten Titel wiederholt er von Zeit zu Zeit in Ansprachen und Gesprächen
mit Verantwortlichen der deutschen Kirche.
Joseph Ratzinger persönlich
ist die Heimat wichtig. Bundespräsident Horst Köhler hat ihm wohl aus der Seele gesprochen,
als er ihn auf dem Münchner Flughafen begrüßte: "Heimat: Das ist mehr als eine
bestimmte Landschaft, Heimat, das sind Lebensweisen, Bräuche, das ist Musik und Literatur,
das sind Überzeugungen, das ist eine ganz bestimmte Art, auf der Welt zu sein. Und
Heimat, das sind menschliche Beziehungen, Freunde, Kameraden, Familienangehörige und
ganz besonders natürlich die Geschwister und die Eltern. Wenn wir sagen, wir haben
eine Heimat, dann sagen wir auch: Wir haben uns nicht allein aus uns selbst gemacht
und gestaltet. Wir verdanken uns Anderem und Anderen. Wenn wir sagen, wir haben eine
Heimat, dann bekennen wir uns auch zu unserer Begrenztheit und zu einer ganz bestimmten
Form, die unser Leben geprägt hat." (9. September 2006)
Seine Seele
sei voll Erinnernungen, sagte der Papst einmal. Und deshalb fühle er sich oft gar
nicht weit weg von daheim, denn er könne "in den Landschaften der Erinnerung herumwandern".
Besuche
aus der Heimat empfängt er dennoch gerne, so auch die Abordnung der bayerischen Gebirgsschützen:
"Nach zwei Weltkriegen gibt es viele Menschen, die gleichsam "entwurzelt" sind,
die nie erfahren haben, was Heimat bedeutet, wie sehr ein Beheimatet-Sein dem Menschen
innere Sicherheit verleihen kann, weil es eben mehr ist als ein rein geographisches
Faktum. Für uns beinhaltet es zugleich eine Verwurzelung im christlichen Glauben,
der Bayern und ganz Europa zutiefst geprägt hat und der unserem Leben seinen eigentlichen
Sinn verleiht. Dieser Glaube hat sich in unserem Land wie auch in anderen Regionen
spezielle Ausdrucksformen geschaffen - von der barocken Pracht unserer Kirchen bis
zum bescheidenen Wegkreuz zwischen den Feldern, von den feierlichen Fronleichnamsprozessionen
bis zu kleinen Pilgergängen zu den zahlreichen Wallfahrtsorten, von der großen Kirchenmusik
bis zum alpenländischen Volkslied." (13. Mai 2006)
Heimatverbundenheit
bleibt für Joseph Ratzinger nicht sentimentale Gefühlsduselei. Für den Papst ist das
auch Interesse an und Wissen um die Realitäten Land und Kirche. Davon konnten sich
nicht zuletzt die deutschen Bischöfe bei ihren jüngsten Ad Limina-Besuchen überzeugen. "Die
Bundesrepublik Deutschland teilt mit der ganzen westlichen Welt die Situation einer
von der Säkularisierung geprägten Kultur, in der Gott immer mehr aus dem öffentlichen
Bewusstsein verschwindet, die Einzigkeit der Gestalt Christi verblasst und die von
der kirchlichen Tradition geformten Werte immer mehr an Wirkkraft verlieren. So wird
auch für den einzelnen der Glaube schwieriger; die Beliebigkeit an Lebensentwürfen
und Lebensgestaltungen nimmt zu. Dieser Situation sehen sich Hirten wie Gläubige der
Kirche gegenübergestellt. Nicht wenige hat deshalb Mutlosigkeit und Resignation befallen,
Haltungen, die das Zeugnis für das befreiende und rettende Evangelium Christi hindern.
Ist das Christentum nicht am Ende doch auch nur eines von vielen anderen Angeboten
zur Sinnstiftung? So fragt sich manch einer. Zugleich aber schauen angesichts der
Brüchigkeit und Kurzlebigkeit der meisten dieser Angebote viele wieder fragend und
hoffend auf die christliche Botschaft und erwarten von uns überzeugende Antworten."
(10. November 2006)
"Die Kirche in Deutschland muss [diese] Situation
als providentielle Herausforderung erkennen und sich ihr mutig stellen. Wir Christen
brauchen keine Angst vor der geistigen Konfrontation mit einer Gesellschaft zu haben,
hinter deren zur Schau gestellter intellektueller Überlegenheit sich doch Ratlosigkeit
angesichts der letzten existentiellen Fragen verbirgt. Die Antworten, die die Kirche
aus dem Evangelium des menschgewordenen Logos schöpft, haben sich fürwahr in den geistigen
Auseinandersetzungen zweier Jahrtausende bewährt; sie sind von bleibender Gültigkeit.
Von diesem Bewusstsein bestärkt können wir zuversichtlich all denen Rede und Antwort
stehen, die uns nach dem Grund der Hoffnung fragen, die uns erfüllt (vgl. 1 Petr 3,
15)." (10. November 2006)
Benedikt weiß auch um die Strukturprobleme,
um die Finanzsorgen. Reformen sind notwendig. Doch: "Die Suche nach Reform kann
leicht in einen äußerlichen Aktivismus abgleiten, wenn die Handelnden nicht ein echtes
geistliches Leben führen und die Beweggründe für ihr Tun nicht beständig im Licht
des Glaubens prüfen. Dies gilt für alle Glieder der Kirche: für Bischöfe, Priester,
Diakone, Ordensleute und alle Gläubigen.“ (18. November 2006)
Was Benedikt
kann: Kritik nicht als solche äußern. Er hat keine Erwartungen, keine Wunschzettel.
Er lobt. Oder er formuliert scheinbare Selbstverständlichkeiten. Schönfärberei ist
das nicht. Eher motivierende Mitarbeiterführung.
"Ich bin ganz sicher,
dass Ihr, verehrte Mitbrüder, die Erstellung dieser Konzepte nicht kühlen Planern
überlasst, sondern nur solchen Priestern und Mitarbeitern anvertraut, die nicht nur
über die notwendige vom Glauben erleuchtete Einsicht und über eine entsprechende theologische,
kanonistische, kirchenhistorische und praktische Bildung sowie über pastorale Erfahrung
verfügen, sondern denen die Rettung des Menschen wahrhaft am Herzen liegt, die sich
also, wie wir früher gesagt hätten, durch 'Seeleneifer' auszeichnen und für deren
Denken und Handeln das ganzheitliche und damit das ewige Heil des Menschen die suprema
lex ist. Vor allem werdet Ihr nur solchen strukturellen Reformen Eure Zustimmung geben,
die voll und ganz mit der Lehre der Kirche über das Priestertum und den rechtlichen
Normen im Einklang stehen und bei deren Umsetzung die Anziehungskraft des Priesterberufs
nicht gemindert wird." (18. November 2006)
Ratzingers Vorgänger
war der Papst der Weltjugendtage, ein Papst der Jugend. Benedikt XVI. - so schien
es - könne das gar nicht werden. 1. sein Alter; 2. seine Vergangenheit als gestrenger
Glaubenshüter. Er belehrte uns alle eines besseren. "Die Kirche ist gar nicht
alt und unbeweglich. Nein, sie ist jung." (25. April 2005) So sein Ausruf am Tag
nach seiner Amtseinführung in einer Sonderaudienz für die deutschen Pilger. "Und
wenn wir auf diese Jugend schauen, die sich um den verstorbenen Papst und letztlich
um Christus scharte, für den er eingestanden war, dann wurde etwas nicht minder Tröstliches
sichtbar: Es ist gar nicht wahr, dass die Jugend vor allem an Konsum und an Genuss
denkt. Es ist nicht wahr, dass sie materialistisch und egoistisch ist. Das Gegenteil
ist wahr: Die Jugend will das Große. Sie will, dass dem Unrecht Einhalt geboten ist.
Sie will, dass die Ungleichheit überwunden und allen ihr Anteil an den Gütern der
Welt wird. Sie will, dass die Unterdrückten ihre Freiheit erhalten. Sie will das Große.
Sie will das Gute." (25. April 2005)
Benedikt XVI. ist kein Mann der Parolen
und keiner der Schlaglichter. Er wählt seine Worte entsprechend der Situation und
entsprechend des Publikums. In jedes Stammbuch schreibt er eine andere Widmung. Was
ihn auszeichnet - gerade im Umgang mit den deutschen: Klarheit. Offenheit. Zuneigung. "Gehen
wir miteinander, halten wir zusammen. Ich vertraue auf Eure Hilfe. Ich bitte Euch
um Nachsicht, wenn ich Fehler mache wie jeder Mensch oder wenn manches unverständlich
bleibt, was der Papst von seinem Gewissen und vom Gewissen der Kirche her sagen und
tun muss. Ich bitte Euch um Euer Vertrauen. Halten wir zusammen, dann finden wir den
rechten Weg." (25. April 2005)
Der Weg Benedikts mit der deutschen Kirche
hat viele Stationen und Wegkreuze. Welche, das hören Sie in den nächsten Folgen dieser
Radio-Akademie.