Wer die Würde des Menschen achtet, fördert den Frieden. Davon ist Papst Benedikt XVI.
überzeugt. In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Januar 2007. Jeder Christ
müsse ein "unermüdlicher Friedensstifter" sein, so der Papst, "ein mutiger Verteidiger
der Würde des Menschen und seiner unveräußerlichen Rechte". In der Gesellschaft werde
das "Recht auf Leben" jedoch gemartert, verschiedene Formen der Gewalt, Hunger, Abtreibung
und Euthanasie gefährdeten den Frieden. (rv 12.12.06 bp)
Wir dokumentieren
hier die Botschaft im Wortlaut:
TYPIS VATICANIS BOTSCHAFT SEINER
HEILIGKEIT PAPST BENEDIKT XVI. ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES 1.
JANUAR 2007
LIBRERIA EDITRICE
VATICANA VATIKANSTADT DER MENSCH – HERZ DES FRIEDENS1. ZU BEGINN DES
NEUEN JAHRES möchte ich den Regierenden und den Verantwortlichen der Nationen sowie
allen Menschen guten Willens meinen Friedenswunsch übermitteln. Ich richte ihn besonders
an alle, die sich in Schmerz und Leid befinden, die unter der Bedrohung durch Gewalt
und bewaffnete Auseinandersetzungen leben oder deren Würde mit Füßen getreten wird
und die auf ihre menschliche und gesellschaftliche Befreiung warten. Ich richte ihn
an die Kinder, die mit ihrer Unschuld die Menschheit reicher an Güte und Hoffnung
werden lassen und durch ihren Schmerz uns alle anregen, uns zu Wegbereitern der Gerechtigkeit
und des Friedens zu machen. Gerade im Gedanken an die Kinder, besonders an diejenigen,
deren Zukunft gefährdet ist durch die Ausbeutung und Schlechtigkeit skrupelloser Erwachsener,
wollte ich, daß sich anläßlich des Weltfriedenstages die allgemeine Aufmerksamkeit
auf das Thema ,,Der Mensch – Herz des Friedens’’ konzentriere. Ich bin nämlich
überzeugt, daß durch die Achtung der Person der Friede gefördert wird und daß mit
der Herstellung des Friedens die Voraussetzungen geschaffen werden für einen authentischen
,,ganzheitlichen Humanismus’’. Auf diese Weise wird eine unbeschwerte Zukunft für
die folgenden Generationen vorbereitet. Der Mensch und der Friede: Gabe und
Aufgabe 2. Die Heilige Schrift sagt: »Gott schuf den Menschen als sein Abbild;
als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1,27).
Da er nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, hat der Mensch die Würde, Person zu
sein; er ist nicht bloß etwas, sondern jemand, der imstande ist, sich zu erkennen,
über sich Herr zu sein, sich in Freiheit hinzugeben und in Gemeinschaft mit anderen
Personen zu treten. Zugleich ist er aus Gnade zu einem Bund mit seinem Schöpfer berufen,
um diesem eine Antwort des Glaubens und der Liebe zu geben, die niemand anderer an
seiner Stelle geben kann.1 Aus dieser wunderbaren Perspektive versteht
man die dem Menschen anvertraute Aufgabe, in der Liebefähigkeit selbst zu reifen und
der Welt zum Fortschritt zu verhelfen, indem er sie in der Gerechtigkeit und im Frieden
erneuert. In einer eindrucksvollen Synthese lehrt der hl. Augustinus: »Gott, der uns
ohne uns erschaffen hat, wollte uns nicht ohne uns erlösen«.2 Darum ist
es eine Pflicht aller Menschen, das Bewußtsein des Doppelaspekts der Gabe und der
Aufgabe zu pflegen. 3. Auch der Friede ist Gabe und Aufgabe zugleich.
Wenn es wahr ist, daß der Friede zwischen den Einzelnen und den Völkern — die Fähigkeit,
nebeneinander zu leben und Beziehungen der Gerechtigkeit und der Solidarität zu knüpfen
— eine Verpflichtung darstellt, die keine Unterbrechung kennt, trifft es auch und
sogar noch mehr zu, daß der Friede ein Geschenk Gottes ist. Der Friede ist
nämlich ein Merkmal des göttlichen Handelns, das sowohl in der Erschaffung eines geordneten
und harmonischen Universums zum Ausdruck kommt, als auch in der Erlösung der Menschheit,
die es nötig hat, aus der Unordnung der Sünde zurückgewonnen zu werden. Schöpfung
und Erlösung bieten also den Schlüssel zum Verständnis des Sinnes unseres Daseins
auf der Erde. Mein verehrter Vorgänger Johannes Paul II. sagte in seiner Ansprache
vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 5. Oktober 1995: »Wir leben nicht
in einer irrationalen, sinnlosen Welt [...] es gibt eine moralische Logik, die das
menschliche Dasein erleuchtet und den Dialog zwischen den Menschen und den Völkern
ermöglicht«.3 Die transzendente ,,Grammatik’’, d. h. die Gesamtheit von
Regeln des individuellen Handelns und des Sich-aufeinander-Beziehens der Menschen
nach Gerechtigkeit und Solidarität ist in die Gewissen eingeschrieben, in denen sich
der weise Plan Gottes widerspiegelt. Ich habe es erst kürzlich bekräftigt: »Wir glauben,
daß das ewige Wort, die Vernunft am Anfang steht und nicht die Unvernunft«.4
Der Friede ist also auch eine Aufgabe, die jeden zu einer persönlichen, mit dem göttlichen
Plan übereinstimmenden Antwort verpflichtet. Das Kriterium, nach dem sich diese Antwort
ausrichten muß, kann nur die Achtung der von seinem Schöpfer ins Herz des Menschen
eingeschriebenen ,,Grammatik’’ sein. Aus dieser Sicht sind die Normen des natürlichen
Rechtes nicht als Vorschriften zu betrachten, die von außen auferlegt werden, als
stellten sie die menschliche Freiheit unter Zwang. Sie müssen im Gegenteil als eine
Berufung angenommen werden, den universalen göttlichen Plan, der in die Natur des
Menschen eingeschrieben ist, treu zu verwirklichen. Geleitet von diesen Normen, können
die Völker — innerhalb der jeweiligen Kulturen — dem größten Geheimnis näherkommen,
dem Mysterium Gottes. Die Anerkennung und die Achtung des natürlichen Rechtes bilden
daher auch heute die große Basis für den Dialog zwischen den Gläubigen der verschiedenen
Religionen und zwischen Gläubigen und Glaubenslosen. Das ist ein großer Konvergenzpunkt
und somit eine fundamentale Voraussetzung für einen authentischen Frieden. Das
Recht auf Leben und Religionsfreiheit 4. Die Pflicht zur Achtung der Würde
jedes Menschen, in dessen Wesen sich das Bild des Schöpfers widerspiegelt, beinhaltet
konsequenterweise, daß man über die menschliche Person nicht nach Belieben verfügen
darf. Wer sich der größeren politischen, technologischen und ökonomischen Macht
erfreut, darf sich ihrer nicht bedienen, um die Rechte der Anderen, weniger Erfolgreichen
zu verletzen. Der Friede gründet sich nämlich auf die Berücksichtigung der Rechte
aller. In diesem Bewußtsein macht sich die Kirche zur Verfechterin der Grundrechte
jedes Menschen. Im besonderen fordert sie die Achtung des Lebens und der
Religionsfreiheit ein. Die Achtung des Rechtes auf Leben in jeder Lebensphase
setzt einen Fixpunkt von entscheidender Bedeutung: Das Leben ist ein Geschenk,
über das das Individuum kein vollständiges Verfügungsrecht besitzt. In gleicher
Weise stellt die Behauptung des Rechtes auf Religionsfreiheit den Menschen in Beziehung
zu einem transzendenten Prinzip, das ihn der menschlichen Willkür entzieht. Das
Recht auf Leben und auf die freie Äußerung des eigenen Glaubens an Gott ist nicht
der Macht des Menschen unterworfen. Der Friede bedarf der Festsetzung einer klaren
Grenzlinie zwischen dem, was verfügbar, und dem, was nicht verfügbar ist: So werden
unannehmbare Eingriffe in den Bestand jener Werte vermieden, die dem Menschen als
solchem eigen sind. 5. Was das Recht auf Leben betrifft, so ist es geboten,
die Marter anzuprangern, die ihm in unserer Gesellschaft zugefügt wird: Neben den
Opfern der bewaffneten Konflikte, des Terrorismus und der verschiedenen Formen von
Gewalt gibt es das lautlose Sterben durch Hunger, Abtreibung, Experimente an Embryonen
und durch Euthanasie. Muß man nicht in alldem einen Angriff auf den Frieden sehen?
Abtreibung und Experimente an Embryonen sind das direkte Gegenteil einer Grundhaltung
der Annahme des Anderen, die zur Herstellung dauerhafter Friedensbeziehungen unentbehrlich
ist. Ein weiteres besorgniserregendes Symptom für den Mangel an Frieden in der Welt
stellen — in bezug auf die freie Äußerung des eigenen Glaubens — die Schwierigkeiten
dar, denen sowohl die Christen als auch die Anhänger anderer Religionen häufig begegnen,
wenn es sich darum handelt, die eigenen religiösen Überzeu- gungen öffentlich und
frei zu bekennen. Speziell auf die Christen bezogen, muß ich schmerzlich feststellen,
daß sie manchmal nicht nur behindert werden; in einigen Staaten werden sie sogar verfolgt,
und selbst in jüngster Zeit mußten tragische Fälle grausamer Gewalt verzeichnet werden.
Es gibt Regime, die allen eine Einheitsreligion aufzwingen, während religiös indifferente
Regierungen nicht eine gewaltsame Verfolgung schüren, wohl aber eine systematische
kulturelle Verhöhnung religiöser Überzeugungen begünstigen. In jedem Fall wird ein
menschliches Grundrecht mißachtet, was schwere Auswirkungen auf das friedliche Zusammenleben
nach sich zieht. Das fördert unweigerlich eine Mentalität und eine Kultur, die
dem Frieden abträglich sind. Die naturgegebene Gleichheit aller Menschen 6.
An der Wurzel nicht weniger Spannungen, die den Frieden bedrohen, liegen sicherlich
die vielen ungerechten Ungleichheiten, die tragischerweise noch in der Welt vorhanden
sind. Besonders bedrohlich sind darunter einerseits die Unterschiede in der Möglichkeit,
die wesentlichen Güter wie Nahrung, Wasser, ein Zuhause und die Gesundheit zu
erlangen, und andererseits die fortdauernde Ungleichheit von Mann und Frau in der
Ausübung der fundamentalen Menschenrechte. Ein Element von größter Wichtigkeit
für die Herstellung des Friedens ist die Anerkennung der wesentlichen Gleichheit
unter den Menschen, die aus ihrer gemeinsamen transzendenten Würde hervorgeht.
Die Gleichheit auf dieser Ebene ist also ein zu jener natürlichen ,,Grammatik’’ gehörendes
Gut aller, das aus dem göttlichen Schöpfungsplan ableitbar ist – ein Gut, das nicht
mißachtet oder geringgeschätzt werden kann, ohne schwerwiegende Auswirkungen zu verursachen,
die den Frieden gefährden. Die äußerst schwere Not, unter der viele Völker vor allem
des afrikanischen Kontinents leiden, ist der Ursprung gewaltsamer Einforderungen der
Ansprüche und stellt deshalb eine schreckliche Verletzung des Friedens dar. 7.
Auch die unzureichende Beachtung der Lage der Frau bringt in das soziale Gleichgewicht
Faktoren der Unbeständigkeit hinein. Ich denke an die Ausbeutung von Frauen, die wie
Objekte behandelt werden, und an die vielen Formen mangelnder Achtung vor ihrer Würde;
ich denke auch — in anderem Zusammenhang — an die in einigen Kulturen fortdauernden
anthropologischen Vorstellungen, die der Frau eine Stellung zuweisen, die sie in starkem
Maße der Willkür des Mannes unterwirft, mit Konsequenzen, die die Würde ihrer Person
verletzten und die Inanspruchnahme ihrer grundlegenden Freiheiten beschneiden. Man
darf sich nicht der Illusion hingeben, daß der Friede gesichert sei, solange nicht
auch diese Formen der Diskriminierung überwunden sind, welche die jedem Menschen vom
Schöpfer verliehene persönliche Würde verletzen.5 Die »Ökologie des
Friedens« 8. Johannes Paul II. schreibt in der Enzyklika Centesimus annus:
»Nicht allein die Erde ist dem Menschen von Gott gegeben worden, damit er unter Beachtung
ihrer ursprünglichen Zielsetzung zum Guten von ihr Gebrauch machen soll, sondern der
Mensch selbst ist sich von Gott geschenkt worden und muß darum die natürliche und
moralische Struktur, mit der er ausgestattet wurde, respektieren«.6 Wenn
der Mensch sich dieser, ihm vom Schöpfer anvertrauten Aufgabe entsprechend verhält,
kann er gemeinsam mit seinen Mitmenschen eine Welt des Friedens erstehen lassen. Neben
der Ökologie der Natur gibt es also auch eine — wie man es ausdrücken könnte — ,,Humanökologie’’,
die ihrerseits eine ,,Sozialökologie’’ erfordert. Und das bedeutet, daß sich die Menschheit,
wenn ihr der Frieden am Herzen liegt, die bestehenden Verbindungen zwischen der Natur-Ökologie
— also der Rücksicht auf die Natur — und der auf den Menschen bezogenen Ökologie immer
mehr vor Augen halten muß. Die Erfahrung zeigt, daß jede Rücksichtslosigkeit gegenüber
der Umwelt dem menschlichen Zusammenleben Schaden zufügt und umgekehrt. Immer
deutlicher tritt der untrennbare Zusammenhang zwischen dem Frieden mit der Schöpfung
und dem Frieden unter den Menschen in Erscheinung. Der eine wie der andere setzt den
Frieden mit Gott voraus. Das als ,,Sonnengesang’’ bekannte poetische Gebet des heiligen
Franziskus ist ein wunderbares, stets aktuelles Beispiel für diese mannigfaltige Ökologie
des Friedens. 9. Wie eng dieser Zusammenhang zwischen der einen und der anderen
Ökologie ist, können wir anhand des täglich wachsenden Problems der Energieversorgung
verstehen. In diesen Jahren sind neue Nationen mit Elan in die industrielle Produktion
eingestiegen und haben dadurch den Energiebedarf erhöht. Das verursacht einen Wettlauf
zu den verfügbaren Ressourcen, der mit früheren Situationen nicht zu vergleichen ist.
Gleichzeitig lebt man in einigen Teilen der Erde noch in Verhältnissen eines großen
Rückstandes, in denen die Entwicklung — auch aufgrund der Erhöhung des Energiepreises
— praktisch verhindert wird. Was soll aus diesen Völkern werden? Welche Art der Entwicklung
oder Nicht-Entwicklung wird ihnen durch die Energieknappheit aufgezwungen werden?
Welche Ungerechtigkeiten und Antagonismen wird der Wettlauf zu den Energiequellen
auslösen? Und wie werden diejenigen reagieren, die von diesem Wettlauf ausgeschlossen
bleiben? Das sind Fragen, die deutlich werden lassen, wie eng die Rücksicht auf die
Natur mit der Notwendigkeit verbunden ist, zwischen den Menschen und den Nationen
Beziehungen zu knüpfen, die auf die Würde der Person achten und fähig sind, ihre wirklichen
Bedürfnisse zu befriedigen. Die Zerstörung der Umwelt, ein unangemessener und egoistischer
Umgang mit ihr und der gewaltsame Aufkauf ihrer Ressourcen erzeugen Verletzungen,
Konflikte und Kriege, eben weil sie die Frucht eines unmenschlichen Entwicklungs-Konzepts
sind. Eine Entwicklung, die sich nur auf den technisch-wirtschaftlichen Aspekt beschränken
würde und die ethisch-religiöse Dimension vernachlässigte, wäre nämlich keine ganzheitliche
menschliche Entwicklung und würde schließlich wegen ihrer Einseitigkeit die zerstörerischen
Fähigkeiten des Menschen antreiben. Verkürzte Menschenbilder 10. Darum
eilt es — wenn auch im Rahmen der aktuellen Schwierigkeiten und internationalen Spannungen
—, sich darum zu bemühen, eine Humanökologie ins Leben zu rufen, die dem ,,Baum
des Friedens’’ zum Wachstum verhilft. Um eine solche Unternehmung anzugehen, ist
es notwendig, sich von einem Menschenbild leiten zu lassen, das nicht durch ideologische
und kulturelle Vorurteile oder durch politische und wirtschaftliche Interessen verdorben
ist, die zu Haß und Gewalt verführen. Es ist verständlich, daß das Menschenbild in
den verschiedenen Kulturen unterschiedlich ist. Unannehmbar ist dagegen, wenn anthropologische
Vorstellungen gehegt werden, die in sich selbst den Keim des Kontrastes und der
Gewalt tragen. Ebenso inakzeptabel sind Gottesvorstellungen, die Unduldsamkeit
gegenüber den Mitmenschen erregen und zur Anwendung von Gewalt ihnen gegenüber anspornen.
Das ist ein Punkt, der in aller Klarheit bekräftigt werden muß: Ein Krieg im Namen
Gottes ist niemals gutzuheißen! Wenn eine gewisse Auffassung von Gott den Ursprung
verbrecherischer Handlungen bildet, ist das ein Zeichen dafür, daß diese Auffassung
sich bereits in eine Ideologie verwandelt hat. 11. Heute ist jedoch der Friede
nicht nur in Frage gestellt durch den Konflikt zwischen den verschiedenen verkürzten
Menschenbildern, bzw. zwischen den Ideologien. Er ist es auch durch die Gleichgültigkeit
gegenüber dem, was die wahre Natur des Menschen ausmacht. Viele Zeitgenossen leugnen
nämlich die Existenz einer spezifischen menschlichen Natur und ermöglichen so die
verschrobensten Interpretationen dessen, was wesentlich zum Menschen gehört. Auch
hier bedarf es der Klarheit: eine ,,schwache’’ Sicht des Menschen, die jeder auch
exzentrischen Vorstellung Raum gibt, begünstigt nur augenscheinlich den Frieden. In
Wirklichkeit behindert sie den echten Dialog und öffnet dem Dazwischentreten autoritärer
Zwänge den Weg. So läßt sie schließlich den Menschen selbst schutzlos dastehen, und
er wird zur einfachen Beute von Unterdrückung und Gewalt. Menschenrechte und
internationale Organisationen 12. Ein echter und haltbarer Friede setzt die
Achtung der Menschenrechte voraus. Wenn diese Rechte sich jedoch auf ein schwaches
Menschenbild gründen, wie sollten dann nicht auch sie selber geschwächt sein? Hier
wird das tiefe Ungenügen einer relativistischen Auffassung vom Menschen offenbar,
wenn es sich darum handelt, seine Ansprüche zu rechtfertigen und seine Rechte zu verteidigen.
Die Aporie ist in diesem Fall offenkundig: Die Rechte werden als absolut hingestellt,
aber das Fundament, das man für sie anführt, ist nur relativ. Ist es dann verwunderlich,
wenn angesichts der ,,unbequemen’’ Forderungen des einen oder anderen Rechtes jemand
aufsteht, um es anzufechten oder seine Marginalisierung zu beschließen? Nur wenn sie
in objektiven Ansprüchen der dem Menschen von Gott gegebenen Natur verwurzelt sind,
können die ihm zuerkannten Rechte durchgesetzt werden, ohne daß ihre Widerrufung zu
befürchten ist. Im übrigen ist es offensichtlich, daß die Rechte des Menschen für
ihn auch Pflichten beinhalten. Mahatma Gandhi hat seine Meinung dazu in den
schönen Worten zum Ausdruck gebracht: »Der Ganges der Rechte fließt vom Himalaja der
Pflichten herab.« Nur wenn über diese Grundvoraussetzung Klarheit geschaffen wird,
können die Menschenrechte, die heute ständigen Angriffen ausgesetzt sind, in angemes-
sener Weise verteidigt werden. Ohne eine solche Klarheit verwendet man schließlich
denselben Ausdruck — eben den Begriff ,,Menschenrechte’’ — und verbindet damit sehr
unterschiedliche Vorstellungen von seinem Subjekt: Für einige ist es die menschliche
Person, die durch eine ständige Würde und durch Rechte ausgezeichnet ist, die stets,
überall und jedem gegenüber gültig sind; für andere ist es der Mensch mit veränderlicher
Würde und mit Rechten, die immer neu ausgehandelt werden können: in ihren Inhalten,
ihrer zeitlichen Dauer und ihrem Geltungsbereich. 13. Auf den Schutz der Menschenrechte
beziehen sich beständig die internationalen Organe und besonders die Organisation
der Vereinten Nationen, die sich mit der Allgemeinen Erklärung von 1948 die Förderung
dieser Rechte als fundamentale Aufgabe vorgenommen hat. Diese Erklärung wird wie eine
Art von der gesamten Menschheit übernommene moralische Verpflichtung angesehen.
Darin liegt eine tiefe Wahrheit, vor allem, wenn als das Fundament der in der Erklärung
beschriebenen Rechte nicht nur einfach der Beschluß der Versammlung angesehen wird,
die sie approbiert hat, sondern die Natur des Menschen selbst und seine unveräußerliche
Würde als einer von Gott erschaffenen Person. Darum ist es wichtig, daß die internationalen
Organe das natürliche Fundament der Menschenrechte nicht aus den Augen verlieren.
Das bewahrt sie vor der leider immer latent vorhandenen Gefahr, in eine nur positivistische
Interpretation dieser Rechte abzugleiten. Sollte dies geschehen, würde sich herausstellen,
daß die internationalen Organe nicht über das nötige Ansehen verfügen, um ihre Rolle
als Verteidiger der Grundrechte der Person und der Völker zu entfalten — eine Aufgabe,
in der aber die grundsätzliche Rechtfertigung ihres Daseins und ihres Handelns besteht. Humanitäres
Völkerrecht und innerstaatliches Recht 14. Ausgehend von dem Bewußtsein, daß
es unveräußerliche Menschenrechte gibt, die mit der gemeinsamen Natur der Menschen
zusammenhängen, ist ein humanitäres Völkerrecht ausgearbeitet worden, zu dessen
Beachtung die Staaten auch im Kriegsfall verpflichtet sind. Das ist leider — abgesehen
von der Vergangenheit — in einigen Situationen kriegerischer Auseinandersetzungen
in jüngster Zeit nicht entsprechend zur Anwendung gekommen. So ist es z. B. in dem
Konflikt geschehen, dessen Schauplatz vor einigen Monaten der Süd-Libanon war, wo
die Pflicht, unschuldige Opfer zu schützen und ihnen zu helfen und die Zivilbevölkerung
nicht einzubeziehen, zum großen Teil nicht beachtet wurde. Das schmerzliche Schicksal
des Libanon und die neue Beschaffenheit der Konflikte, besonders seit die terroristische
Bedrohung ungekannte Formen der Gewalt in Gang gesetzt hat, erfordern, daß
die internationale Gemeinschaft das humanitäre Völkerrecht bekräftigt und es auf alle
heutigen Situationen bewaffneten Konfliktes — einschließlich der vom geltenden Völkerrecht
nicht vorausgesehenen — bezieht. Außerdem verlangt das Übel des Terrorismus ein vertieftes
Nachdenken über die ethischen Grenzen, die den Einsatz heutiger Mittel zum Schutz
der nationalen Sicherheit betreffen. Immer häufiger werden nämlich die Kriege nicht
erklärt, vor allem, wenn terroristische Gruppen sie auslösen, die entschieden sind,
ihre Ziele mit jedwedem Mittel zu erreichen. Angesichts der erschütternden Szenarien
dieser letzten Jahre können die Staaten unmöglich die Notwendigkeit verkennen, sich
klarere Regeln zu geben, die fähig sind, dem dramatischen Abdriften, das wir erleben,
wirksam entgegenzutreten. Der Krieg stellt immer einen Mißerfolg für die internationale
Gemeinschaft dar und einen schweren Verlust an Menschlichkeit. Wenn es trotz allem
dazu kommt, müssen zumindest die wesentlichen Prinzipien der Menschlichkeit und die
grundlegenden Werte jeglichen zivilen Zusammenlebens gewahrt werden durch die Aufstellung
von Verhaltensnormen, die die Schäden so weit wie möglich begrenzen und darauf ausgerichtet
sind, die Leiden der Zivilbevölkerung und aller Opfer der Konflikte zu erleichtern.7 15.
Ein anderes Element, das große Beunruhigung hervorruft, ist der jüngst von einigen
Staaten geäußerte Wille, sich mit Nuklearwaffen auszurüsten. Dadurch hat sich
das verbreitete Klima der Unsicherheit und der Angst vor einer möglichen atomaren
Katastrophe weiter verschärft. Das wirft die Menschen zurück in die zermürbenden Ängste
der Epoche des sogenannten ,,kalten Kriegs’’. Danach hoffte man, die atomare Gefahr
sei definitiv gebannt und die Menschheit könne endlich einen dauerhaften Seufzer der
Erleichterung tun. Wie aktuell erscheint in diesem Zusammenhang die Mahnung des Zweiten
Vatikanischen Konzils: »Jede Kriegshandlung, die auf die Vernichtung ganzer Städte
oder weiterer Gebiete und ihrer Bevölkerung unterschiedslos abstellt, ist ein Verbrechen
gegen Gott und gegen den Menschen, das fest und entschieden zu verwerfen ist«.8
Leider verdichten sich weiterhin bedrohliche Schatten am Horizont der Menschheit.
Der Weg, um eine Zukunft des Friedens für alle zu sichern, besteht nicht nur in internationalen
Übereinkünften über die Nicht-Verbreitung von Nuklearwaffen, sondern auch in
dem Bemühen, mit Entschiedenheit ihre Verminderung und ihren endgültigen Abbau zu
verfolgen. Man lasse nichts unversucht, um auf dem Verhandlungsweg diese Ziele zu
erreichen! Das Schicksal der gesamten Menschheitsfamilie steht auf dem Spiel! Die
Kirche zum Schutz der Transzendenz der menschlichen Person 16. Schließlich
möchte ich einen dringenden Aufruf an das Volk Gottes richten, daß jeder Christ sich
verpflichtet fühlen möge, unermüdlicher Friedensstifter und mutiger Verteidiger der
Würde des Menschen und seiner unveräußerlichen Rechte zu sein. Dankbar gegenüber dem
Herrn, daß er ihn berufen hat, zu seiner Kirche zu gehören, die in der Welt »Zeichen
und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person« ist,9 soll der Christ
nie müde werden, das grundlegende Gut des Friedens von ihm zu erbitten, das im Leben
jedes Einzelnen von solcher Bedeutung ist. Außerdem wird er stolz darauf sein, mit
großherziger Hingabe der Sache des Friedens zu dienen, indem er den Mitmenschen entgegenkommt,
besonders denen, die nicht allein unter Armut und Elend leiden, sondern dazu auch
dieses kostbare Gut entbehren müssen. Jesus hat uns offenbart, daß ,,Gott Liebe
ist’’ (vgl. Joh 4,8) und daß die größte Berufung jedes Menschen die Liebe
ist. In Christus können wir die höchsten Gründe finden, uns zu beharrlichen Verfechtern
der Menschenwürde und zu mutigen Erbauern des Friedens zu machen. 17. Möge also
der Beitrag jedes Gläubigen zur Förderung eines echten ,,ganzheitlichen Humanismus’’
nach den Lehren der Enzykliken Populorum progressio und Sollicitudo rei
socialis, deren 40. und 20. Jahrestag wir gerade in diesem Jahr feiern werden,
nicht nachlassen. Zu Beginn des Jahres 2007, auf das wir — wenn auch unter Gefahren
und Problemen — mit hoffnungsvollem Herzen blicken, vertraue ich der Königin des Friedens
und Mutter Jesu Christi, ,,unseres Friedens’’ (vgl. Eph 2,14), mein inständiges
Gebet für die gesamte Menschheit an. Möge Maria uns in ihrem Sohn den Weg des Friedens
zeigen und unsere Augen erleuchten, damit wir sein Angesicht im Gesicht jedes Menschen
erkennen – im Menschen als dem Herz des Friedens! Aus dem Vatikan, am 8. Dezember
2006. 1Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 357. 2Sermo
169, 11, 13: PL 38, 923. 3Nr. 3. 4Homilie
auf dem Islinger Feld in Regensburg (12. September 2006). 5Vgl Kongregation
für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die
Zusammenarbeit von Männern und Frauen in der Kirche und in der Welt (31. Mai 2004),
Nr. 15-16. 6Nr. 38. 7Diesbezüglich hat der Katechismus
der Katholischen Kirche sehr ernste und genaue Kriterien vorgelegt: vgl. Nr. 2307-2317. 8Past.
Konst. Gaudium et spes, 80. 9Ebd., 76.