Hätte der Papst mit seiner Reise an den Bosporus angesichts der dortigen Gemengelage
nicht noch etwas warten sollen, vielleicht noch ein Jahr? Nein, sagt Dirk Kennis sehr
entschieden. Der Berliner ist Mitglied der Fokolarbewegung und lebt seit acht Jahren
in Istanbul. Die Zeit für den Papstbesuch war überreif, so Kennis. 32.000 Katholiken
im Land, etwa 0,04 Prozent der Bevölkerung – aber nur die wenigsten von ihnen sind
Einheimische. Das bedeutet: Das katholische Christentum hat im zweiten Rom seine Wurzeln
verloren. Die letzten türkischen Christen emigrieren.
"Das heißt: Die
größten Schwierigkeiten, die die christliche Kirche hier hat, sind nicht so sehr Rechtsfragen
in Bezug auf Besitz, sondern sind die Lebensbedingungen der Christen. … Ich glaube,
dass das auch dem Heiligen Vater bewusst ist: Es geht um Existenzsicherung. Es geht
darum, dass ein Familienvater seine Frau und seine Kinder ernähren können muss. Es
geht darum, dass er eine Arbeit finden muss! Und Tatsache ist, dass es in der Türkei,
obwohl es öffentlich dieses Recht gibt, aber in der Praxis für einen Christen kaum
möglich ist, in Wirtschaft, Industrie, einer Firma oder irgendwelchen staatlichen
Stellen eine Arbeit zu finden. Die einzige Möglichkeit für einen Christen in der Türkei,
seine Familie zu ernähren, besteht in irgendeiner selbständigen Arbeit, und wenn er
mit irgendeinem Bauchladen Simit verkauft, diese Sesamringe."
Ein besonderes
Ärgernis ist für den Fokolar-Mann die Spaltung unter den Christen. Das schwäche die
kleine Herde angesichts der islamischen Übermacht in der Türkei.
"Wie
soll ein Moslem – und viele der Moslems hier im Land haben nicht viel kulturelle Bildung
– einen Orthodoxen von einem Katholiken, einem Anglikaner oder einem Protestanten
unterscheiden? Das heißt: Wenn Freikirchen in die Türkei kommen und hier Proselytismus
betreiben in dem festen Glauben, Gutes zu tun – dann sind das Christen, die da Proselytismus
betreiben, und das wird mir als Katholiken und auch meinen orthodoxen Brüdern als
eine Verfehlung vorgeworfen. Es wird uns Christen vorgeworfen – dabei tut die Amtskirche
das nicht. Das größte Problem für uns Christen ist die Glaubwürdigkeit, die wir nur
herstellen können, wenn wir mit einer Stimme sprechen und in gleicher oder ähnlicher
Weise auch handeln."
Im Westen werfen Politiker oft dem Islam vor, er spreche
ja gar nicht mit einer Stimme. Das Gleiche könnten auch Moslems von den Christen sagen,
findet Dirk Kennis mit Blick auf Istanbul – sie könnten es sogar mit noch mehr Recht
sagen.
"Es ist für mich beschämend zu sehen, wenn öffentliche Veranstaltungen
die Vertreter verschiedener Glaubensrichtungen in der Türkei einladen, und wir haben
einen Vertreter des Judentums und nur einen Vertreter des Islam, aber vier verschiedene
Vertreter der Christen.“