In Neapel eskaliert
die Gewalt. Neun Tote in neun Tagen. Vergangenen Freitag hatte ein Tabakhändler einen
Mann erschossen, der ihn gerade überfallen wollte. Ebenfalls am Freitag gab es einen
Rachemord. Eine Frau wurde erschossen. Ihre Söhne waren bereits vor Monaten umgebracht
worden, ihr Mann vor mehreren Jahren. Dann gab einen Mord im Auftrag eines Camorra-Clans:
Ein Bauunternehmer wurde vor den Augen seiner Frau erschossen. Gestern erstach ein
16-Jähriger aus Eifersucht einen anderen Jugendlichen. "Es scheint fast, als
würde man täglich einen Kriegsbericht lesen." sagt der Erzbischof von Neapel,
Kardinal Crescenzio Sepe. Die Anti-Mafia-Direktion in der Staatsanwaltschaft sagt
dazu, ein Menschenleben sei in Neapel nichts mehr Wert. Sepe: "Natürlich gibt
es sehr große Probleme. Man muss sich ihnen stellen, sie aber an ihren Wurzeln anpacken.
Die Bevölkerung lebt schon zu lange unter diesen massiven Schwierigkeiten. Das ist
das Terrain, auf dem Kriminalität entsteht, ein Terrain der Gewalt, denn es gibt keinen
anderen Ausweg für die Jugendlichen, die Arbeitslosen, man kann fast sagen auch nicht
für Kranke, Gefangene, usw. Meiner Meinung nach müssten alle jetzt sich daran machen
und versuchen, diese Ursachen von der Wurzel her anzugehen, über die dringenden Maßnahmen
dieser Tage hinaus. Ich habe den Eindruck, dass es eben einer groß angelegten Strategie
fehlt, die grundlegenden Probleme anzugehen, die es nun einmal gibt, und die man an
der Wurzel lösen muss. Ohne so eine Planung gehen diese Akte der Grausamkeit, wie
wir sie in diesen Tagen erleben, weiter, sie wiederholen sich auch in naher Zukunft." Involviert
sind auch Jugendliche, die scheinbar nichts mit den Clans von Mafia und Camorra zu
tun haben. Armut, die als Boden für die Camorra gilt, ist der Grund für Kriminalität
jeder Art: Hier hat sich ein Klima, eine spezielle Kultur der Gewalt entwickelt.
Diese Jugendlichen, auch diese so genannten „Baby-Gangs“, wissen nicht, wo sie hingehen
sollen, wissen nicht, wie sie die Zeit totschlagen sollen, haben keine intakte Familie.
Es ist klar, dass sie früher oder später auf der Straße landen. Und die Straße lehrt
Gewalt. Diese Situation macht – so sagt Sepe – „sehr besorgt und ratlos“.
"Die Kirche macht sehr viel. Wir haben mehr als 300 Zentren hier in Neapel,
die versuchen, auf irgend eine Art fehlende Strukturen zu ersetzen. Klöster, Pfarreiinitiativen,
katholische Aktionen. Sie tun alles, um diese Jugendlichen von der Straße zu holen.
Das ist eine Form der kulturellen, sozialen und auch religiöser Zuwendung, die es
braucht, um der Kriminalität den Boden zu entziehen." Polizei und Carabinieri
haben die Lage in den einschlägigen Vierteln rund um den Dom und in den Vororten nicht
mehr Griff. Aus dem Innenministerium heißt es, diese Situation gebe es in ganz Europa
nicht mehr. Mafiöse organisierte Großkriminalität auf der einen, Kriminalität an sich
auf der anderen Seite. Von den Rufen, Militär an den Vesuv zu schicken, hält der dortige
Erzbischof jedoch nichts. "Ich glaube, dass so das Problem nicht gelöst werden
kann. Für den Moment mag es etwas helfen, sozusagen schmerzlindernd, aber – ich wiederhole
– wenn das Problem nicht grundsätzlich gelöst wird, können sich diese Vorfälle wiederholen.
Was es braucht ist ein neues Bewusstsein, einen neuen Lebensstil, eine neue Mentalität,
das Leben anzupacken." Sepe warnt davor, den Süden Italiens abzustempeln und
mit dem Mafia-Siegel zu belgen: Die große Mehrheit der Neapolitaner sind gute
Menschen, die nach humanen, sozialen und auch religiösen Werten leben. Sie haben einen
lebendigen, dynamischen Glauben. Es sind Menschen, die mit diesen Idealen und diesen
Werten leben. Diese Menschen muss man bestärken. Es ist eine absolute Minderheit,
die aber organisiert und verbreitet ist, und es leider schafft, ein Klima des Terrors
zu schaffen. (rv/agenturen 31.10.06 bp)