Wie beurteilte der
Vatikan die politischen Entwicklungen zwischen Deutschland und Italien? Welches Verhältnis
pflegte die Katholische Kirche zum Faschismus? Das Spekulieren hat ein Ende – am Montag
wurde eine der wichtigsten Türen des Vatikanischen Geheimarchives geöffnet, die nun
den Zutritt zu den gesamten Aktenbeständen aus der Regierung von Papst Pius XI. ermöglicht.
Eines der wichtigsten und schwierigsten Pontifikate des 20. Jahrhunderts (1922-1939)
kann somit aufgearbeitet werden – eine Aufgabe, die Generationen von Historikern beschäftigen
wird, erklärt Giovanni Sale, Dozent für Zeitgeschichte an der Päpstlichen Universität
Gregoriana:
"Große Bedeutung hat es sowohl für die politische Geschichte
als auch für die Religionsgeschichte – durch die Öffnung wird das Bild der Kirche
in jener Zeit neu gezeichnet werden: Es wird eine überzeugte Kirche im Kampf gegen
den Totalitarismus, gegen den Faschismus, gegen den Nationalsozialismus und auch gegen
den Kommunismus zum Vorschein treten. Dies wird den Historikern die Möglichkeit geben,
die Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts zu überarbeiten und auf der Basis von
neuen wichtigen Dokumenten, neu zu schreiben.“
Nach vatikanischem Reglement
dürften die Archivbestände eigentlich erst 70 Jahre nach dem Tod Pius XI. freigegeben
werden - also im Frühjahr 2009. Johannes Paul II. hatte jedoch auf eine rasche Öffnung
gedrängt, auch um dem Verdacht entgegenzutreten, der Vatikan halte wichtige Informationen
unter Verschluss. Viele Historiker warten seit Jahren auf diesen Tag - Sensationslust
könne der Zugang dennoch nicht befriedigen, so Sale:
"Wer sich dem
Archiv mit der Intention nähert, Aufsehen erregende Akten zu finden. So wird er, vom
journalistischen Standpunkt aus betrachtet, tief enttäuscht werden. Auf einem so weiten
und wichtigen Feld, muss mit einer hermeneutischen Methode vorgegangen werden. Außerdem
muss die historische Arbeit gut organisiert werden. Ich lade also alle Wissenschaftler
dazu ein, sich Zeit zu nehmen und eine ernsthafte wissenschaftliche Arbeit zu betreiben,
ohne voreingenommen zu sein.“ (rv 19.09.06 sis)