Wochenkommentar: Günter Grass – ein tragischer Fall?
Viel ist darüber spekuliert worden, was das spektakuläre Geständnis von Günter Grass,
bei der Waffen-SS gewesen zu sein, für eine Bedeutung hat. Grass ist eine moralische
Instanz für die Bundesrepublik gewesen. Oft hat er in der Vergangenheit mit harschen
Worten andere daran erinnert hat, sich der Nazi-Vergangenheit zu stellen und nichts
zu vertuschen und zu beschönigen.
Ist es eine PR-Maßnahme zum Verkauf der
Autobiographie „Beim Häuten der Zwiebel“, wie manche vermuten? Der Spiegel schreibt
„Niemand verkauft seine Scham heute besser als Günter Grass.“ Oder ist es einfach
so, dass der Literaturnobelpreisträger nun endlich – und glücklich – seine tiefsitzende
Scham überwunden hat? Eine Scham, die ihn selbst offenbar hinderte, zu seiner Vergangenheit
zu stehen.
Er selber sagt nun, „Wer richten will, mag richten.“ Und ich denke,
dass es sinnvoll ist, diesen biblischen Ball aufzugreifen. Es ist den wenigen verbliebenen
Opfern des Nazi-Regimes der Waffen-SS und ihren Kindern nicht zu verdenken, dass sie
sich nun moralisch empören und fordern, Grass solle Nobelpreise, Ehrenbürgerschaften
und andere Auszeichnungen zurück geben. So hatte es der ebenfalls mit einem Nobelpreis
ausgezeichnete Lech Walesa gefordert. Es falle ihm schwer einem SS-Mann die Hand zu
reichen: Sein Vater sei durch die Hand von SS-Schergen ums Leben gekommen.
Es
sollte andererseits aber möglich sein, dieses Bekenntnis nun auf sich beruhen zu lassen.
Es nutzt nichts zu fragen, was die früheren Appelle und Mahnungen Grass’ noch für
einen Wert haben. In Zukunft wird man politische Wortmeldungen von Günter Grass mit
anderen Ohren hören. Viel sinnvoller ist es, auch diese „Affäre“ dazu zu nutzen, alles
für eine „Heilung der Erinnerung“ zu tun. Gleich ob es die Nazi-Zeit oder die DDR-Vergangenheit
ist. Gleich ob es sich um Skandale der jüngeren Vergangenheit handelt, oder schon
länger zurück liegen.
Die Wahrheit ist eine befreiende Kraft, die neue Räume
eröffnet und erst ein Leben in Würde ermöglicht. Auch wenn nun viele Grass nicht mehr
ernst nehmen wollen, er selbst ist nun, so wollen wir hoffen, von einer Last befreit,
die ihm vor sich selbst ein Sein in Würde wieder ermöglicht. Das gilt für alle, die
was auf dem Kerbholz haben. Ob im Großen oder im Kleinen. Und wer will schon den ersten
Stein werfen?