2006-05-28 12:51:08

Dossier: Die Päpste und die Shoa


Dieses Dossier bietet die wichtigsten Texte, in denen sich der jetzige Papst Benedikt und sein Vorgänger Johannes Paul mit dem Thema Holocaust beschäftigt haben. Es sind Benedikts Ansprache in der Synagoge von Köln im August 2005, eine Ansprache Johannes Pauls in Yad Vashem im Heiligen Jahr 2000 und seine Botschaft zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz 2005.
19. August 2005: Ansprache von Papst Benedikt XVI. in der Synagoge von Köln
Verehrte jüdische Autoritäten,

verehrte Damen und Herren,
ich darf die Anreden, die wir vorhin hörten, alle auch von mir gesagt voraussetzen. Schalom lêchém! Es war mir ein tiefes Anliegen, anläßlich meines ersten Besuches in Deutschland nach der Wahl zum Nachfolger Petri der jüdischen Gemeinde von Köln und den Vertretern des deutschen Judentums zu begegnen. Ich möchte mit diesem Besuch an das Ereignis des 17. November 1980 anknüpfen, als mein verehrter Vorgänger, Papst Johannes Paul II., auf seiner ersten Deutschland-Reise in Mainz dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Rabbinerkonferenz begegnete. Auch bei dieser Gelegenheit möchte ich versichern, daß ich beabsichtige, den Weg der Verbesserung der Beziehungen und der Freundschaft mit dem jüdischen Volk, auf dem Papst Johannes Paul II. entscheidende Schritte getan hat, mit voller Kraft weiterzuführen (vgl. Ansprache an die Delegation des International Jewish Committee on Interreligious Consultations (O.R. dt., Nr. 24, 17.6.2005, S. 7).
Die jüdische Gemeinde von Köln darf sich in dieser Stadt wirklich »zu Hause« fühlen. Tatsächlich ist dies der älteste Sitz einer jüdischen Gemeinde auf deutschem Boden: Sie reicht zurück – wir haben es genauer gehört – bis in das Köln der Römerzeit. Die Geschichte der Beziehungen zwischen jüdischer und christlicher Gemeinde ist komplex und oft schmerzlich. Es gab gottlob Perioden guter Nachbarschaft, doch es gab auch die Vertreibung der Juden aus Köln im Jahr 1424. Im 20. Jahrhundert hat dann in der dunkelsten Zeit deutscher und europäischer Geschichte eine wahnwitzige neuheidnische Rassenideologie zu dem staatlich geplanten und systematisch ins Werk gesetzten Versuch der Auslöschung des europäischen Judentums geführt, zu dem, was als die Schoah in die Geschichte eingegangen ist. Diesem unerhörten und bis dahin auch unvorstellbaren Verbrechen sind allein in Köln 11.000 namentlich bekannte – in Wirklichkeit sicher erheblich mehr – Juden zum Opfer gefallen. Weil man die Heiligkeit Gottes nicht mehr anerkannte, wurde auch die Heiligkeit menschlichen Lebens mit Füßen getreten.
In diesem Jahr 2005 gedenken wir des 60. Jahrestags der Befreiung aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in deren Gaskammern Millionen von Juden – Männer, Frauen und Kinder – umgebracht und in den Krematorien verbrannt worden sind. Ich mache mir zu eigen, was mein verehrter Vorgänger zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz geschrieben hat und sage ebenfalls: »Ich neige mein Haupt vor all denen, die diese Manifestation des ›mysterium iniquitatis‹ erfahren haben.« Die fürchterlichen Geschehnisse von damals müssen »unablässig die Gewissen wecken, Konflikte beenden und zum Frieden ermahnen« (Botschaft zur Befreiung von Auschwitz, 15. Januar 2005, O.R. dt., Nr. 5, 4.2.2005, S. 7). Gemeinsam müssen wir uns auf Gott und seinen weisen Plan für die von ihm erschaffene Welt besinnen: Er ist – wie das Buch der Weisheit mahnt – »ein Freund des Lebens« (11,26).
Ebenfalls in diesem Jahr – wir hörten es – sind es vierzig Jahre her, daß das Zweite Vatikanische Konzil die Erklärung Nostra aetate promulgiert und damit neue Perspektiven in den jüdischchristlichen Beziehungen eröffnet hat, die durch Dialog und Partnerschaft gekennzeichnet sind. Im vierten Kapitel erinnert diese Erklärung an unsere gemeinsamen Wurzeln und an das äußerst reiche geistliche Erbe, das Juden und Christen miteinander teilen. Sowohl die Juden als auch die Christen erkennen in Abraham ihren Vater im Glauben (vgl. Gal 3,7; Röm 4,11f.) und berufen sich auf die Lehren Moses’ und der Propheten. Die Spiritualität der Juden wird wie die der Christen aus den Psalmen gespeist. Mit dem Apostel Paulus sind wir Christen überzeugt, daß »Gnade und Berufung, die Gott gewährt, unwiderruflich sind« (Röm 11,29; vgl. 9,6.11; 11,1f.). In Anbetracht der jüdischen Wurzeln des Christentums (vgl. Röm 11,16–24) hat mein verehrter Vorgänger in Bestätigung eines Urteils der deutschen Bischöfe gesagt: »Wer Jesus Christus begegnet, begegnet dem Judentum« (Insegnamenti, Bd. III/2, 1980, S. 1272; deutsche Übersetzung in: Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945–1985, Paderborn/München 1989, S. 74).
Deshalb beklagt die Konzilserklärung Nostra aetate »alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von wem auch immer gegen das Judentum gerichtet haben« (Nr. 4). Gott hat uns alle – wir hörten es am Anfang im Schöpfungsbericht – »als sein Abbild« (Gen 1,27) geschaffen und uns alle dadurch mit einer transzendenten Würde ausgezeichnet. Vor Gott besitzen alle Menschen die gleiche Würde, unabhängig davon, welchem Volk, welcher Kultur oder Religion sie angehören. Aus diesem Grund spricht die Erklärung Nostra aetate auch mit großer Hochachtung von den Muslimen (vgl. Nr. 3) und den Angehörigen anderer Religionen (vgl. Nr. 2). Aufgrund der allen gemeinsamen Menschenwürde – so heißt es dort – »verwirft die Kirche jede Diskriminierung eines Menschen oder jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen« als einen Akt, der im Widerspruch zum Willen Christi steht (vgl. ebd., Nr. 5). Die Kirche, so sagt das Dokument weiter, weiß sich verpflichtet, diese Lehre in der Katechese für die jungen Menschen und in jedem Aspekt ihres Lebens an die nachwachsenden Generationen, die selbst nicht mehr Zeugen der schrecklichen Ereignisse vor und während des Zweiten Weltkriegs waren, weiterzugeben. Das ist insofern eine Aufgabe von besonderer Bedeutung, als heute leider erneut Zeichen des Antisemitismus und Formen allgemeiner Fremdenfeindlichkeit auftauchen. Sie müssen uns Grund zur Sorge und zur Wachsamkeit sein. Die katholische Kirche – das möchte ich auch bei dieser Gelegenheit wieder betonen – tritt ein für Toleranz, Respekt, Freundschaft und Frieden unter allen Völkern, Kulturen und Religionen.
In den vierzig Jahren seit der Erklärung Nostra aetate ist in Deutschland und auf internationaler Ebene vieles zur Verbesserung und Vertiefung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen getan worden. Neben den offiziellen Beziehungen sind besonders dank der Zusammenarbeit unter den Bibelwissenschaftlern viele Freundschaften entstanden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die verschiedenen Erklärungen der Deutschen Bischofskonferenz und an die segensreiche Tätigkeit der »Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit«, die dazu beigetragen haben, daß sich die jüdische Gemeinde seit 1945 hier in Köln wirklich wieder »zu Hause« fühlen kann und zu einem guten nachbarschaftlichen Zusammenleben mit den christlichen Gemeinden gefunden hat. Vieles bleibt freilich noch zu tun. Wir müssen uns noch viel mehr und viel besser gegenseitig kennenlernen. Deshalb möchte ich ausdrücklich ermutigen zu einem aufrichtigen und vertrauensvollen Dialog zwischen Juden und Christen. Nur so wird es möglich sein, zu einer beiderseits akzeptierten Interpretation noch strittiger historischer Fragen zu gelangen und vor allem Fortschritte in der theologischen Einschätzung der Beziehung zwischen Judentum und Christentum zu machen. Ehrlicherweise kann es in diesem Dialog nicht darum gehen, die bestehenden Unterschiede zu übergehen oder zu verharmlosen: Auch und gerade in dem, was uns aufgrund unserer tiefsten Glaubensüberzeugung voneinander unterscheidet, müssen wir uns gegenseitig respektieren und lieben.
Schließlich sollte unser Blick nicht nur zurück in die Geschichte gehen, er sollte ebenso vorwärts auf die heutigen und morgigen Aufgaben gerichtet sein. Unser reiches gemeinsames Erbe und unsere an wachsendem Vertrauen orientierten geschwisterlichen Beziehungen verpflichten uns, gemeinsam ein noch einhelligeres Zeugnis zu geben und praktisch zusammenzuarbeiten in der Verteidigung und Förderung der Menschenrechte und der Heiligkeit des menschlichen Lebens, für die Werte der Familie, für soziale Gerechtigkeit und für Frieden in der Welt. Der Dekalog (vgl. Ex 20; Dtn 5) ist für uns gemeinsames Erbe und gemeinsame Verpflichtung. Die »Zehn Gebote« sind nicht Last, sondern Wegweiser zu einem geglückten Leben. Sie sind es besonders für die jungen Menschen, die ich in diesen Tagen treffe und die mir so sehr am Herzen liegen. Ich wünsche mir, daß sie den Dekalog, diese unsere gemeinsame Grundlage, als die Leuchte für ihre Schritte und als Licht für ihre Pfade erkennen, wie es der Psalm 119 sagt (vgl. Ps 119,105). Die Erwachsenen tragen die Verantwortung, den jungen Menschen die Fackel der Hoffnung weiterzureichen, die Juden wie Christen von Gott geschenkt worden ist, damit die Mächte des Bösen »nie wieder« die Herrschaft erlangen und die künftigen Generationen mit Gottes Hilfe eine gerechtere und friedvollere Welt errichten können, in der alle Menschen das gleiche Bürgerrecht besitzen.
Ich schließe mit den Worten aus Psalm 29, die ein Glückwunsch und zugleich ein Gebet sind: »Der Herr gebe Kraft seinem Volk. Der Herr segne sein Volk mit Frieden.«
Möge er uns erhören!




23. März 2000: Ansprache von Papst Johannes Paul II. in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem
Aus unseren Herzen erheben sich die Worte des altehrwürdigen Psalms:

»Ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß.

Ich höre das Zischeln der Menge – Grauen ringsum.

Sie tun sich gegen mich zusammen;

sie sinnen darauf, mir das Leben zu rauben.

Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps 31,13–15).
1. An dieser Stätte der Erinnerungen empfinden Verstand, Herz und Seele ein ganz starkes Bedürfnis nach Stille. Stille zum Erinnern. Stillschweigen, in dem wir versuchen, etwas Besinnung in die Erinnerungen zu bringen, die uns überfluten. Stille, weil es keine Worte gibt, die stark genug wären, um die grauenhafte Tragödie der »Shoah« zu beklagen. Meine eigenen, persönlichen Erinnerungen betreffen all die Ereignisse, die sich damals zugetragen haben, als die Nazis Polen während des Krieges okkupierten. Ich erinnere mich an meine jüdischen Freunde und Nachbarn: Manche von ihnen kamen um, andere haben überlebt.
Ich bin nach »Yad Vashem« [Ein Denkmal und ein Name] gekommen, um den Millionen Juden die Ehre zu erweisen, denen alles genommen wurde, besonders ihre Würde als Menschen, und die im Holocaust ermordet worden sind. Über ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, aber die Erinnerung bleibt.
Hier, wie in Auschwitz und an vielen anderen Orten in Europa, sind wir überwältigt vom Widerhall der herzzerreißenden Klage so vieler Menschen. Männer, Frauen und Kinder schreien zu uns auf aus den Tiefen des Greuels, das sie erfahren mußten. Wie sollten wir ihren Aufschrei nicht hören? Niemand kann das, was damals geschah, vergessen oder ignorieren. Niemand kann die Ausmaße dieser Tragödie schmälern.

2. Wir möchten uns erinnern. Wir möchten uns aber mit einer bestimmten Zielsetzung erinnern, nämlich um zu gewährleisten, daß das Böse nie mehr die Überhand gewinnen wird, so wie es damals für Millionen unschuldiger Opfer des Nazismus der Fall war.
Wie konnte der Mensch eine solche Verachtung des Menschen entwickeln? Weil er den Punkt der Gottesverachtung erreicht hatte. Nur eine gottlose Ideologie konnte die Ausrottung eines ganzen Volkes planen und ausführen.
Die Ehrung als »Gerechte der Völker«, die der Staat Israel hier in Yad Vashem denen zuerkannt hat, die sich heldenhaft – manchmal sogar bis zur Preisgabe ihres eigenen Lebens – für die Rettung von Juden eingesetzt haben, ist eine Anerkennung der Tatsache, daß nicht einmal in der dunkelsten Stunde jedes Licht ausgelöscht ist. Das ist der Grund, weshalb die Psalmen und die ganze Bibel, die sich zwar der Fähigkeit des Menschen zum Bösen wohl bewußt sind, auch verkünden, daß das Böse nicht das letzte Wort haben wird. Aus den Tiefen des Leids und der Trauer kommt der Aufschrei des Herzens des Gläubigen: »Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps 31,15).
3. Juden und Christen teilen ein unermeßliches geistliches Erbe, das aus der Selbstoffenbarung Gottes hervorgegangen ist. Unsere religiösen Lehren und unsere geistliche Erfahrung fordern von uns, das Böse mit Gutem zu überwinden. Wir erinnern uns, aber ohne jedes Verlangen nach Rache oder als Ansporn zum Haß. Für uns bedeutet Erinnerung, für Frieden und Gerechtigkeit zu beten und uns dieser Sache zu verpflichten. Nur eine Welt im Frieden mit Gerechtigkeit für alle kann eine Wiederholung der Verfehlungen und grauenvollen Verbrechen der Vergangenheit verhindern.
Als Bischof von Rom und Nachfolger des Apostels Petrus versichere ich dem jüdischen Volk, daß die katholische Kirche – vom Gebot des Evangeliums zur Wahrheit und Liebe und nicht von politischen Überlegungen motiviert – zutiefst betrübt ist über den Haß, die Taten von Verfolgungen und die antisemitischen Ausschreitungen von Christen gegen die Juden, zu welcher Zeit und an welchem Ort auch immer. Die Kirche verwirft jede Form von Rassismus als ein Leugnen des Abbildes des Schöpfers, das jedem Menschenwesen innewohnt (vgl. Gen 1,26).
4. An diesem Ort des feierlichen Erinnerns bete ich inständig dafür, daß unsere Trauer um die Tragödie, die das jüdische Volk im zwanzigsten Jahrhundert erlitten hat, zu einer neuen Beziehung zwischen Christen und Juden führen möge. Laßt uns eine neue Zukunft aufbauen, in der es keine antijüdischen Gefühle seitens der Christen und keine antichristlichen Empfindungen seitens der Juden mehr geben wird, sondern vielmehr die gegenseitige Achtung, wie sie jenen zukommt, die den einen Schöpfer und Herrn anbeten und auf Abraham als unseren gemeinsamen Vater im Glauben schauen (vgl. Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah, V; O.R. dt., Nr. 14, 3. April 1998, S. 9).
Die Welt muß die Warnung hören, die die Holocaust-Opfer und das Zeugnis der Überlebenden an uns richten. Hier in Yad Vashem lebt die Erinnerung fort und brennt sich in unsere Seelen ein. Sie läßt auch uns rufen:
»Ich höre das Zischeln der Menge – Grauen ringsum […]

Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps 31,14–15).


Botschaft von Papst Johannes Paul II. zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz
Sechzig Jahre sind nunmehr seit der Befreiung der Gefangenen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau vergangen. Aus diesem Anlaß kann man nicht umhin, in Gedanken an jenes Drama zurückzukehren, das dort als tragische Folge organisierten Hasses stattgefunden hat. In diesen Tagen heißt es der vielen Millionen Menschen zu gedenken, die ohne jede Schuld unmenschliche Qualen ertrugen und in den Gaskammern und Krematorien vernichtet wurden. Ich neige mein Haupt vor all denen, die diese Manifestation des mysterium iniquitatis erfahren haben.
Als ich im Jahre 1979 als Papst und Pilger das Lager von Auschwitz-Birkenau besuchte, verweilte ich vor den Gedenktafeln der Opfer. In verschiedenen Sprachen waren die Inschriften gehalten: Polnisch, Englisch, Bulgarisch, Roma-Sprache, Tschechisch, Dänisch, Französisch, Griechisch, Hebräisch, Jiddisch, Spanisch, Flämisch, Serbokroatisch, Deutsch, Norwegisch, Russisch, Rumänisch, Ungarisch und Italienisch. In all diesen Sprachen war die Erinnerung an die Opfer von Auschwitz niedergeschrieben, die Erinnerung an konkrete Menschen, obschon oft völlig unbekannt, an Männer, Frauen und Kinder. Ein wenig länger verweilte ich dann bei der Gedenktafel in hebräischer Schrift. Ich sagte: „Diese Inschrift weckt die Erinnerung an das Volk, dessen Söhne und Töchter zur völligen Vernichtung bestimmt sein sollten. Dieses Volk hat seinen Ursprung in Abraham, der auch unser Vater im Glauben ist (vgl. Röm 4, 11-12), wie es Paulus von Tarsus ausgedrückt hat. Gerade dieses Volk, das von Gott das Gebot empfangen hat: »Du sollst nicht töten«, hat an sich selbst in besonderer Weise erfahren, was das Töten bedeutet. An dieser Gedenktafel mit Gleichgültigkeit vorbeizugehen ist niemandem erlaubt.“
Heute wiederhole ich diese Worte. Niemandem ist es erlaubt, an der Tragödie der Schoah vorbeizugehen. Dieser Versuch, ein ganzes Volk planmäßig zu vernichten, liegt wie ein Schatten über Europa und der ganzen Welt; es ist ein Verbrechen, das für immer die Geschichte der Menschheit befleckt. Heute zumindest und für die Zukunft gelte dies als Mahnung: Man darf nicht nachgeben gegenüber den Ideologien, die die Möglichkeit rechtfertigen, die Menschenwürde aufgrund der Verschiedenheit von Rasse, Hautfarbe, Sprache oder Religion mit Füßen zu treten. Diesen Appell richte ich an alle, insbesondere an diejenigen, die im Namen der Religion zu Unterdrückung und Terrorismus greifen.
Auf besondere Weise haben mich diese Gedanken begleitet, als im Jahr des Großen Jubiläums 2000 die Kirche den feierlichen Bußgottesdienst in St. Peter beging und ich zu den Heiligen Stätten pilgerte und nach Jerusalem hinaufstieg. In der Schoah-Gedenkstätte Yad Vashem und zu Füßen der Westmauer des Tempels habe ich in Stille gebetet mit der Bitte um Vergebung und um die Bekehrung der Herzen.
Ich erinnere mich, daß ich 1979 auch vor zwei weiteren Gedenktafeln in Russisch und in der Sprache der Roma stehen blieb, um tief nachzudenken. Die Geschichte der Teilnahme der Sowjetunion an jenem Krieg ist komplex, doch es ist unmöglich, nicht daran zu erinnern, daß die Russen damals die höchste Zahl an Menschen hatten, die auf tragische Weise ihr Leben verloren haben. Nach Hitlers Plänen waren auch die Roma zur völligen Vernichtung bestimmt. Man darf das Lebensopfer, das von diesen unseren Brüdern im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verlangt wurde, nicht unterbewerten. Das ist der Grund, warum ich neuerlich dazu ermahne, an jenen Gedenktafeln nicht mit Gleichgültigkeit vorbeizugehen.
Schließlich blieb ich vor der Gedenktafel in polnischer Sprache stehen. Damals sagte ich, daß die Erfahrung von Auschwitz eine weitere „Etappe im jahrhundertelangen Kampf dieser Nation, meiner Nation, zur Verteidigung seiner Grundrechte unter den Völkern Europas“ darstellte. „Es war ein weiterer Ruf, der erhoben wurde, um das Recht auf einen eigenen Platz auf der Karte Europas zu verteidigen; eine weitere schmerzliche Rechnung im Bewußtsein der Menschheit.“ Die Feststellung dieser Wahrheit war nichts anderes als ein Anruf an die Gerechtigkeit der Geschichte für diese Nation, die bei der Befreiung des europäischen Kontinents von der unheilvollen Nazi-Ideologie des Bösen viele Opfer auf sich genommen hatte und die in Knechtschaft an eine andere zerstörerische Ideologie verkauft wurde: den Sowjetkommunismus. Heute komme ich auf diese Worte zurück – ich will sie nicht leugnen! –, um Gott Dank zu sagen, denn durch die beharrlichen Anstrengungen meiner Landsleute hat Polen den rechten Platz auf der Karte Europas gefunden. Es ist mein Wunsch, daß dieses geschichtliche Faktum für alle Europäer Frucht bringe in einer gegenseitigen geistigen Bereicherung.
Bei meinem Besuch in Auschwitz-Birkenau sagte ich auch, daß man vor jeder Gedenktafel stehen bleiben müsse. Ich selbst tat es, als ich betend und meditierend von einer Gedenktafel zur anderen schritt und alle Opfer, Angehörige der von den Greueltaten des Krieges heimgesuchten Nationen, der Göttlichen Barmherzigkeit anempfahl. Ich betete auch, um auf ihre Fürsprache die Gabe des Friedens für die Welt zu erhalten. Unablässig bete ich weiter im Vertrauen, daß, wie die Umstände auch immer sein mögen, die Achtung vor der Würde der menschlichen Person siegen wird, die Achtung vor dem Recht eines jeden Menschen auf eine freie Suche nach Wahrheit, vor der Befolgung der moralischen Normen, vor der Erfüllung der Gerechtigkeit und der Einhaltung des Rechts jedes einzelnen auf menschenwürdige Lebensbedingungen (vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris: AAS 55 [1963], 295-296).
Wenn ich von den Opfern von Auschwitz spreche, kann ich nicht umhin, daran zu erinnern, daß es inmitten dieser unbeschreiblichen Anhäufung des Bösen auch heldenhafte Äußerungen des Festhaltens am Guten gab. Gewiß gab es viele Menschen, die es in der Freiheit des Geistes annahmen, dem Leid ausgesetzt zu werden, und nicht nur den Mitgefangenen, sondern auch den Peinigern gegenüber Liebe zeigten. Viele taten dies aus Liebe zu Gott und zum Menschen, andere im Namen höchster geistiger Werte. Dank ihres Verhaltens wurde eine Wahrheit offenbar, die in der Bibel oft zum Vorschein kommt: Auch wenn der Mensch dazu fähig ist, Böses zu vollbringen, gelegentlich ungeheuerlich Böses, wird das Böse nicht das letzte Wort haben. Selbst im Abgrund des Leidens kann die Liebe siegen. Das Zeugnis einer solchen Liebe, die in Auschwitz hervorgetreten ist, kann nicht in Vergessenheit geraten. Es muß unablässig die Gewissen wecken, Konflikte beenden, zum Frieden ermahnen.
Dies scheint der tiefste Sinn der Gedenkfeier dieses Jahrestages zu sein. Wenn wir nämlich das Drama der Opfer in Erinnerung rufen, so tun wir dies nicht, um schmerzliche Wunden neu aufzureißen, noch um Gefühle des Hasses oder Vorsätze der Rache zu wecken, sondern um diesen Menschen Ehrerbietung zu erweisen, um die Wahrheit der Geschichte ins Licht zu stellen und vor allem damit sich alle bewußt werden, daß jene düsteren Ereignisse für die Menschen von heute einen Anruf zur Verantwortung darstellen müssen, unsere Geschichte mitzugestalten. Nie mehr, an keinem Ort der Erde wiederhole sich das, was Männer und Frauen damals erlebt haben und die wir seit sechzig Jahren beweinen!
Allen Teilnehmern an den Gedenkfeierlichkeiten zu diesem Jahrestag sende ich meinen Gruß und bitte Gott um die Gabe seines Segen für alle.
Aus dem Vatikan, am 15. Januar 2005: Johannes Paul II.










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