Dieses Dossier bietet die wichtigsten Texte, in denen sich der jetzige Papst Benedikt
und sein Vorgänger Johannes Paul mit dem Thema Holocaust beschäftigt haben. Es sind
Benedikts Ansprache in der Synagoge von Köln im August 2005, eine Ansprache Johannes
Pauls in Yad Vashem im Heiligen Jahr 2000 und seine Botschaft zum 60. Jahrestag der
Befreiung von Auschwitz 2005. 19. August 2005: Ansprache von Papst Benedikt
XVI. in der Synagoge von Köln Verehrte jüdische Autoritäten,
verehrte
Damen und Herren, ich darf die Anreden, die wir vorhin hörten, alle auch von mir
gesagt voraussetzen. Schalom lêchém! Es war mir ein tiefes Anliegen, anläßlich meines
ersten Besuches in Deutschland nach der Wahl zum Nachfolger Petri der jüdischen Gemeinde
von Köln und den Vertretern des deutschen Judentums zu begegnen. Ich möchte mit diesem
Besuch an das Ereignis des 17. November 1980 anknüpfen, als mein verehrter Vorgänger,
Papst Johannes Paul II., auf seiner ersten Deutschland-Reise in Mainz dem Zentralrat
der Juden in Deutschland und der Rabbinerkonferenz begegnete. Auch bei dieser Gelegenheit
möchte ich versichern, daß ich beabsichtige, den Weg der Verbesserung der Beziehungen
und der Freundschaft mit dem jüdischen Volk, auf dem Papst Johannes Paul II. entscheidende
Schritte getan hat, mit voller Kraft weiterzuführen (vgl. Ansprache an die Delegation
des International Jewish Committee on Interreligious Consultations (O.R. dt.,
Nr. 24, 17.6.2005, S. 7). Die jüdische Gemeinde von Köln darf sich in dieser Stadt
wirklich »zu Hause« fühlen. Tatsächlich ist dies der älteste Sitz einer jüdischen
Gemeinde auf deutschem Boden: Sie reicht zurück – wir haben es genauer gehört – bis
in das Köln der Römerzeit. Die Geschichte der Beziehungen zwischen jüdischer und christlicher
Gemeinde ist komplex und oft schmerzlich. Es gab gottlob Perioden guter Nachbarschaft,
doch es gab auch die Vertreibung der Juden aus Köln im Jahr 1424. Im 20. Jahrhundert
hat dann in der dunkelsten Zeit deutscher und europäischer Geschichte eine wahnwitzige
neuheidnische Rassenideologie zu dem staatlich geplanten und systematisch ins Werk
gesetzten Versuch der Auslöschung des europäischen Judentums geführt, zu dem, was
als die Schoah in die Geschichte eingegangen ist. Diesem unerhörten und bis dahin
auch unvorstellbaren Verbrechen sind allein in Köln 11.000 namentlich bekannte – in
Wirklichkeit sicher erheblich mehr – Juden zum Opfer gefallen. Weil man die Heiligkeit
Gottes nicht mehr anerkannte, wurde auch die Heiligkeit menschlichen Lebens mit Füßen
getreten. In diesem Jahr 2005 gedenken wir des 60. Jahrestags der Befreiung aus
den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in deren Gaskammern Millionen von
Juden – Männer, Frauen und Kinder – umgebracht und in den Krematorien verbrannt worden
sind. Ich mache mir zu eigen, was mein verehrter Vorgänger zum 60. Jahrestag der Befreiung
von Auschwitz geschrieben hat und sage ebenfalls: »Ich neige mein Haupt vor all denen,
die diese Manifestation des ›mysterium iniquitatis‹ erfahren haben.« Die fürchterlichen
Geschehnisse von damals müssen »unablässig die Gewissen wecken, Konflikte beenden
und zum Frieden ermahnen« (Botschaft zur Befreiung von Auschwitz, 15. Januar
2005, O.R. dt., Nr. 5, 4.2.2005, S. 7). Gemeinsam müssen wir uns auf Gott und seinen
weisen Plan für die von ihm erschaffene Welt besinnen: Er ist – wie das Buch der Weisheit
mahnt – »ein Freund des Lebens« (11,26). Ebenfalls in diesem Jahr – wir hörten
es – sind es vierzig Jahre her, daß das Zweite Vatikanische Konzil die Erklärung Nostra
aetate promulgiert und damit neue Perspektiven in den jüdischchristlichen Beziehungen
eröffnet hat, die durch Dialog und Partnerschaft gekennzeichnet sind. Im vierten Kapitel
erinnert diese Erklärung an unsere gemeinsamen Wurzeln und an das äußerst reiche geistliche
Erbe, das Juden und Christen miteinander teilen. Sowohl die Juden als auch die Christen
erkennen in Abraham ihren Vater im Glauben (vgl. Gal 3,7; Röm 4,11f.) und berufen
sich auf die Lehren Moses’ und der Propheten. Die Spiritualität der Juden wird wie
die der Christen aus den Psalmen gespeist. Mit dem Apostel Paulus sind wir Christen
überzeugt, daß »Gnade und Berufung, die Gott gewährt, unwiderruflich sind« (Röm 11,29;
vgl. 9,6.11; 11,1f.). In Anbetracht der jüdischen Wurzeln des Christentums (vgl. Röm
11,16–24) hat mein verehrter Vorgänger in Bestätigung eines Urteils der deutschen
Bischöfe gesagt: »Wer Jesus Christus begegnet, begegnet dem Judentum« (Insegnamenti,
Bd. III/2, 1980, S. 1272; deutsche Übersetzung in: Die Kirchen und das Judentum. Dokumente
von 1945–1985, Paderborn/München 1989, S. 74). Deshalb beklagt die Konzilserklärung
Nostra aetate »alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus,
die sich zu irgendeiner Zeit und von wem auch immer gegen das Judentum gerichtet haben«
(Nr. 4). Gott hat uns alle – wir hörten es am Anfang im Schöpfungsbericht – »als sein
Abbild« (Gen 1,27) geschaffen und uns alle dadurch mit einer transzendenten Würde
ausgezeichnet. Vor Gott besitzen alle Menschen die gleiche Würde, unabhängig davon,
welchem Volk, welcher Kultur oder Religion sie angehören. Aus diesem Grund spricht
die Erklärung Nostra aetate auch mit großer Hochachtung von den Muslimen (vgl. Nr.
3) und den Angehörigen anderer Religionen (vgl. Nr. 2). Aufgrund der allen gemeinsamen
Menschenwürde – so heißt es dort – »verwirft die Kirche jede Diskriminierung eines
Menschen oder jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe, seines Standes
oder seiner Religion willen« als einen Akt, der im Widerspruch zum Willen Christi
steht (vgl. ebd., Nr. 5). Die Kirche, so sagt das Dokument weiter, weiß sich verpflichtet,
diese Lehre in der Katechese für die jungen Menschen und in jedem Aspekt ihres Lebens
an die nachwachsenden Generationen, die selbst nicht mehr Zeugen der schrecklichen
Ereignisse vor und während des Zweiten Weltkriegs waren, weiterzugeben. Das ist insofern
eine Aufgabe von besonderer Bedeutung, als heute leider erneut Zeichen des Antisemitismus
und Formen allgemeiner Fremdenfeindlichkeit auftauchen. Sie müssen uns Grund zur Sorge
und zur Wachsamkeit sein. Die katholische Kirche – das möchte ich auch bei dieser
Gelegenheit wieder betonen – tritt ein für Toleranz, Respekt, Freundschaft und Frieden
unter allen Völkern, Kulturen und Religionen. In den vierzig Jahren seit der Erklärung
Nostra aetate ist in Deutschland und auf internationaler Ebene vieles zur Verbesserung
und Vertiefung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen getan worden. Neben den
offiziellen Beziehungen sind besonders dank der Zusammenarbeit unter den Bibelwissenschaftlern
viele Freundschaften entstanden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die verschiedenen
Erklärungen der Deutschen Bischofskonferenz und an die segensreiche Tätigkeit der
»Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit«, die dazu beigetragen
haben, daß sich die jüdische Gemeinde seit 1945 hier in Köln wirklich wieder »zu Hause«
fühlen kann und zu einem guten nachbarschaftlichen Zusammenleben mit den christlichen
Gemeinden gefunden hat. Vieles bleibt freilich noch zu tun. Wir müssen uns noch viel
mehr und viel besser gegenseitig kennenlernen. Deshalb möchte ich ausdrücklich ermutigen
zu einem aufrichtigen und vertrauensvollen Dialog zwischen Juden und Christen. Nur
so wird es möglich sein, zu einer beiderseits akzeptierten Interpretation noch strittiger
historischer Fragen zu gelangen und vor allem Fortschritte in der theologischen Einschätzung
der Beziehung zwischen Judentum und Christentum zu machen. Ehrlicherweise kann es
in diesem Dialog nicht darum gehen, die bestehenden Unterschiede zu übergehen oder
zu verharmlosen: Auch und gerade in dem, was uns aufgrund unserer tiefsten Glaubensüberzeugung
voneinander unterscheidet, müssen wir uns gegenseitig respektieren und lieben. Schließlich
sollte unser Blick nicht nur zurück in die Geschichte gehen, er sollte ebenso vorwärts
auf die heutigen und morgigen Aufgaben gerichtet sein. Unser reiches gemeinsames Erbe
und unsere an wachsendem Vertrauen orientierten geschwisterlichen Beziehungen verpflichten
uns, gemeinsam ein noch einhelligeres Zeugnis zu geben und praktisch zusammenzuarbeiten
in der Verteidigung und Förderung der Menschenrechte und der Heiligkeit des menschlichen
Lebens, für die Werte der Familie, für soziale Gerechtigkeit und für Frieden in der
Welt. Der Dekalog (vgl. Ex 20; Dtn 5) ist für uns gemeinsames Erbe und gemeinsame
Verpflichtung. Die »Zehn Gebote« sind nicht Last, sondern Wegweiser zu einem geglückten
Leben. Sie sind es besonders für die jungen Menschen, die ich in diesen Tagen treffe
und die mir so sehr am Herzen liegen. Ich wünsche mir, daß sie den Dekalog, diese
unsere gemeinsame Grundlage, als die Leuchte für ihre Schritte und als Licht für ihre
Pfade erkennen, wie es der Psalm 119 sagt (vgl. Ps 119,105). Die Erwachsenen tragen
die Verantwortung, den jungen Menschen die Fackel der Hoffnung weiterzureichen, die
Juden wie Christen von Gott geschenkt worden ist, damit die Mächte des Bösen »nie
wieder« die Herrschaft erlangen und die künftigen Generationen mit Gottes Hilfe eine
gerechtere und friedvollere Welt errichten können, in der alle Menschen das gleiche
Bürgerrecht besitzen. Ich schließe mit den Worten aus Psalm 29, die ein Glückwunsch
und zugleich ein Gebet sind: »Der Herr gebe Kraft seinem Volk. Der Herr segne sein
Volk mit Frieden.« Möge er uns erhören!
23. März 2000: Ansprache
von Papst Johannes Paul II. in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem Aus
unseren Herzen erheben sich die Worte des altehrwürdigen Psalms:
»Ich bin
geworden wie ein zerbrochenes Gefäß.
Ich höre das Zischeln der Menge – Grauen
ringsum.
Sie tun sich gegen mich zusammen;
sie sinnen darauf, mir
das Leben zu rauben.
Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist
mein Gott‹« (Ps 31,13–15). 1. An dieser Stätte der Erinnerungen empfinden Verstand,
Herz und Seele ein ganz starkes Bedürfnis nach Stille. Stille zum Erinnern. Stillschweigen,
in dem wir versuchen, etwas Besinnung in die Erinnerungen zu bringen, die uns überfluten.
Stille, weil es keine Worte gibt, die stark genug wären, um die grauenhafte Tragödie
der »Shoah« zu beklagen. Meine eigenen, persönlichen Erinnerungen betreffen all die
Ereignisse, die sich damals zugetragen haben, als die Nazis Polen während des Krieges
okkupierten. Ich erinnere mich an meine jüdischen Freunde und Nachbarn: Manche von
ihnen kamen um, andere haben überlebt. Ich bin nach »Yad Vashem« [Ein Denkmal
und ein Name] gekommen, um den Millionen Juden die Ehre zu erweisen, denen alles genommen
wurde, besonders ihre Würde als Menschen, und die im Holocaust ermordet worden sind.
Über ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, aber die Erinnerung bleibt. Hier,
wie in Auschwitz und an vielen anderen Orten in Europa, sind wir überwältigt vom Widerhall
der herzzerreißenden Klage so vieler Menschen. Männer, Frauen und Kinder schreien
zu uns auf aus den Tiefen des Greuels, das sie erfahren mußten. Wie sollten wir ihren
Aufschrei nicht hören? Niemand kann das, was damals geschah, vergessen oder ignorieren.
Niemand kann die Ausmaße dieser Tragödie schmälern.
2. Wir möchten uns erinnern.
Wir möchten uns aber mit einer bestimmten Zielsetzung erinnern, nämlich um zu gewährleisten,
daß das Böse nie mehr die Überhand gewinnen wird, so wie es damals für Millionen unschuldiger
Opfer des Nazismus der Fall war. Wie konnte der Mensch eine solche Verachtung
des Menschen entwickeln? Weil er den Punkt der Gottesverachtung erreicht hatte. Nur
eine gottlose Ideologie konnte die Ausrottung eines ganzen Volkes planen und ausführen.
Die Ehrung als »Gerechte der Völker«, die der Staat Israel hier in Yad Vashem
denen zuerkannt hat, die sich heldenhaft – manchmal sogar bis zur Preisgabe ihres
eigenen Lebens – für die Rettung von Juden eingesetzt haben, ist eine Anerkennung
der Tatsache, daß nicht einmal in der dunkelsten Stunde jedes Licht ausgelöscht ist.
Das ist der Grund, weshalb die Psalmen und die ganze Bibel, die sich zwar der Fähigkeit
des Menschen zum Bösen wohl bewußt sind, auch verkünden, daß das Böse nicht das letzte
Wort haben wird. Aus den Tiefen des Leids und der Trauer kommt der Aufschrei des Herzens
des Gläubigen: »Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps
31,15). 3. Juden und Christen teilen ein unermeßliches geistliches Erbe, das aus
der Selbstoffenbarung Gottes hervorgegangen ist. Unsere religiösen Lehren und unsere
geistliche Erfahrung fordern von uns, das Böse mit Gutem zu überwinden. Wir erinnern
uns, aber ohne jedes Verlangen nach Rache oder als Ansporn zum Haß. Für uns bedeutet
Erinnerung, für Frieden und Gerechtigkeit zu beten und uns dieser Sache zu verpflichten.
Nur eine Welt im Frieden mit Gerechtigkeit für alle kann eine Wiederholung der Verfehlungen
und grauenvollen Verbrechen der Vergangenheit verhindern. Als Bischof von Rom
und Nachfolger des Apostels Petrus versichere ich dem jüdischen Volk, daß die katholische
Kirche – vom Gebot des Evangeliums zur Wahrheit und Liebe und nicht von politischen
Überlegungen motiviert – zutiefst betrübt ist über den Haß, die Taten von Verfolgungen
und die antisemitischen Ausschreitungen von Christen gegen die Juden, zu welcher Zeit
und an welchem Ort auch immer. Die Kirche verwirft jede Form von Rassismus als ein
Leugnen des Abbildes des Schöpfers, das jedem Menschenwesen innewohnt (vgl. Gen 1,26).
4. An diesem Ort des feierlichen Erinnerns bete ich inständig dafür, daß unsere
Trauer um die Tragödie, die das jüdische Volk im zwanzigsten Jahrhundert erlitten
hat, zu einer neuen Beziehung zwischen Christen und Juden führen möge. Laßt uns eine
neue Zukunft aufbauen, in der es keine antijüdischen Gefühle seitens der Christen
und keine antichristlichen Empfindungen seitens der Juden mehr geben wird, sondern
vielmehr die gegenseitige Achtung, wie sie jenen zukommt, die den einen Schöpfer und
Herrn anbeten und auf Abraham als unseren gemeinsamen Vater im Glauben schauen (vgl.
Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah, V; O.R. dt., Nr. 14, 3. April 1998, S.
9). Die Welt muß die Warnung hören, die die Holocaust-Opfer und das Zeugnis der
Überlebenden an uns richten. Hier in Yad Vashem lebt die Erinnerung fort und brennt
sich in unsere Seelen ein. Sie läßt auch uns rufen: »Ich höre das Zischeln der
Menge – Grauen ringsum […]
Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du
bist mein Gott‹« (Ps 31,14–15).
Botschaft von Papst Johannes Paul II.
zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz Sechzig Jahre sind nunmehr
seit der Befreiung der Gefangenen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau vergangen.
Aus diesem Anlaß kann man nicht umhin, in Gedanken an jenes Drama zurückzukehren,
das dort als tragische Folge organisierten Hasses stattgefunden hat. In diesen Tagen
heißt es der vielen Millionen Menschen zu gedenken, die ohne jede Schuld unmenschliche
Qualen ertrugen und in den Gaskammern und Krematorien vernichtet wurden. Ich neige
mein Haupt vor all denen, die diese Manifestation des mysterium iniquitatis erfahren
haben. Als ich im Jahre 1979 als Papst und Pilger das Lager von Auschwitz-Birkenau
besuchte, verweilte ich vor den Gedenktafeln der Opfer. In verschiedenen Sprachen
waren die Inschriften gehalten: Polnisch, Englisch, Bulgarisch, Roma-Sprache, Tschechisch,
Dänisch, Französisch, Griechisch, Hebräisch, Jiddisch, Spanisch, Flämisch, Serbokroatisch,
Deutsch, Norwegisch, Russisch, Rumänisch, Ungarisch und Italienisch. In all diesen
Sprachen war die Erinnerung an die Opfer von Auschwitz niedergeschrieben, die Erinnerung
an konkrete Menschen, obschon oft völlig unbekannt, an Männer, Frauen und Kinder.
Ein wenig länger verweilte ich dann bei der Gedenktafel in hebräischer Schrift. Ich
sagte: „Diese Inschrift weckt die Erinnerung an das Volk, dessen Söhne und Töchter
zur völligen Vernichtung bestimmt sein sollten. Dieses Volk hat seinen Ursprung in
Abraham, der auch unser Vater im Glauben ist (vgl. Röm 4, 11-12), wie es Paulus von
Tarsus ausgedrückt hat. Gerade dieses Volk, das von Gott das Gebot empfangen hat:
»Du sollst nicht töten«, hat an sich selbst in besonderer Weise erfahren, was das
Töten bedeutet. An dieser Gedenktafel mit Gleichgültigkeit vorbeizugehen ist niemandem
erlaubt.“ Heute wiederhole ich diese Worte. Niemandem ist es erlaubt, an der Tragödie
der Schoah vorbeizugehen. Dieser Versuch, ein ganzes Volk planmäßig zu vernichten,
liegt wie ein Schatten über Europa und der ganzen Welt; es ist ein Verbrechen, das
für immer die Geschichte der Menschheit befleckt. Heute zumindest und für die Zukunft
gelte dies als Mahnung: Man darf nicht nachgeben gegenüber den Ideologien, die die
Möglichkeit rechtfertigen, die Menschenwürde aufgrund der Verschiedenheit von Rasse,
Hautfarbe, Sprache oder Religion mit Füßen zu treten. Diesen Appell richte ich an
alle, insbesondere an diejenigen, die im Namen der Religion zu Unterdrückung und Terrorismus
greifen. Auf besondere Weise haben mich diese Gedanken begleitet, als im Jahr des
Großen Jubiläums 2000 die Kirche den feierlichen Bußgottesdienst in St. Peter beging
und ich zu den Heiligen Stätten pilgerte und nach Jerusalem hinaufstieg. In der Schoah-Gedenkstätte
Yad Vashem und zu Füßen der Westmauer des Tempels habe ich in Stille gebetet mit der
Bitte um Vergebung und um die Bekehrung der Herzen. Ich erinnere mich, daß ich
1979 auch vor zwei weiteren Gedenktafeln in Russisch und in der Sprache der Roma stehen
blieb, um tief nachzudenken. Die Geschichte der Teilnahme der Sowjetunion an jenem
Krieg ist komplex, doch es ist unmöglich, nicht daran zu erinnern, daß die Russen
damals die höchste Zahl an Menschen hatten, die auf tragische Weise ihr Leben verloren
haben. Nach Hitlers Plänen waren auch die Roma zur völligen Vernichtung bestimmt.
Man darf das Lebensopfer, das von diesen unseren Brüdern im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
verlangt wurde, nicht unterbewerten. Das ist der Grund, warum ich neuerlich dazu ermahne,
an jenen Gedenktafeln nicht mit Gleichgültigkeit vorbeizugehen. Schließlich blieb
ich vor der Gedenktafel in polnischer Sprache stehen. Damals sagte ich, daß die Erfahrung
von Auschwitz eine weitere „Etappe im jahrhundertelangen Kampf dieser Nation, meiner
Nation, zur Verteidigung seiner Grundrechte unter den Völkern Europas“ darstellte.
„Es war ein weiterer Ruf, der erhoben wurde, um das Recht auf einen eigenen Platz
auf der Karte Europas zu verteidigen; eine weitere schmerzliche Rechnung im Bewußtsein
der Menschheit.“ Die Feststellung dieser Wahrheit war nichts anderes als ein Anruf
an die Gerechtigkeit der Geschichte für diese Nation, die bei der Befreiung des europäischen
Kontinents von der unheilvollen Nazi-Ideologie des Bösen viele Opfer auf sich genommen
hatte und die in Knechtschaft an eine andere zerstörerische Ideologie verkauft wurde:
den Sowjetkommunismus. Heute komme ich auf diese Worte zurück – ich will sie nicht
leugnen! –, um Gott Dank zu sagen, denn durch die beharrlichen Anstrengungen meiner
Landsleute hat Polen den rechten Platz auf der Karte Europas gefunden. Es ist mein
Wunsch, daß dieses geschichtliche Faktum für alle Europäer Frucht bringe in einer
gegenseitigen geistigen Bereicherung. Bei meinem Besuch in Auschwitz-Birkenau sagte
ich auch, daß man vor jeder Gedenktafel stehen bleiben müsse. Ich selbst tat es, als
ich betend und meditierend von einer Gedenktafel zur anderen schritt und alle Opfer,
Angehörige der von den Greueltaten des Krieges heimgesuchten Nationen, der Göttlichen
Barmherzigkeit anempfahl. Ich betete auch, um auf ihre Fürsprache die Gabe des Friedens
für die Welt zu erhalten. Unablässig bete ich weiter im Vertrauen, daß, wie die Umstände
auch immer sein mögen, die Achtung vor der Würde der menschlichen Person siegen wird,
die Achtung vor dem Recht eines jeden Menschen auf eine freie Suche nach Wahrheit,
vor der Befolgung der moralischen Normen, vor der Erfüllung der Gerechtigkeit und
der Einhaltung des Rechts jedes einzelnen auf menschenwürdige Lebensbedingungen (vgl.
Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris: AAS 55 [1963], 295-296). Wenn ich von
den Opfern von Auschwitz spreche, kann ich nicht umhin, daran zu erinnern, daß es
inmitten dieser unbeschreiblichen Anhäufung des Bösen auch heldenhafte Äußerungen
des Festhaltens am Guten gab. Gewiß gab es viele Menschen, die es in der Freiheit
des Geistes annahmen, dem Leid ausgesetzt zu werden, und nicht nur den Mitgefangenen,
sondern auch den Peinigern gegenüber Liebe zeigten. Viele taten dies aus Liebe zu
Gott und zum Menschen, andere im Namen höchster geistiger Werte. Dank ihres Verhaltens
wurde eine Wahrheit offenbar, die in der Bibel oft zum Vorschein kommt: Auch wenn
der Mensch dazu fähig ist, Böses zu vollbringen, gelegentlich ungeheuerlich Böses,
wird das Böse nicht das letzte Wort haben. Selbst im Abgrund des Leidens kann die
Liebe siegen. Das Zeugnis einer solchen Liebe, die in Auschwitz hervorgetreten ist,
kann nicht in Vergessenheit geraten. Es muß unablässig die Gewissen wecken, Konflikte
beenden, zum Frieden ermahnen. Dies scheint der tiefste Sinn der Gedenkfeier dieses
Jahrestages zu sein. Wenn wir nämlich das Drama der Opfer in Erinnerung rufen, so
tun wir dies nicht, um schmerzliche Wunden neu aufzureißen, noch um Gefühle des Hasses
oder Vorsätze der Rache zu wecken, sondern um diesen Menschen Ehrerbietung zu erweisen,
um die Wahrheit der Geschichte ins Licht zu stellen und vor allem damit sich alle
bewußt werden, daß jene düsteren Ereignisse für die Menschen von heute einen Anruf
zur Verantwortung darstellen müssen, unsere Geschichte mitzugestalten. Nie mehr, an
keinem Ort der Erde wiederhole sich das, was Männer und Frauen damals erlebt haben
und die wir seit sechzig Jahren beweinen! Allen Teilnehmern an den Gedenkfeierlichkeiten
zu diesem Jahrestag sende ich meinen Gruß und bitte Gott um die Gabe seines Segen
für alle. Aus dem Vatikan, am 15. Januar 2005: Johannes Paul II.