Bei einer Messfeier zur Frühjahrs-Vollversammlung der deutschen Bischöfe hat der Kölner
Erzbischof, Kardinal Joachim Meisner, heute mehr Ehrfurcht gefordert. "Eine Gesellschaft,
in der Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse, an
Gott Glaubende, Agnostiker und Atheisten zusammenleben, hat nur Bestand, wenn ihre
Mitglieder von gegenseitiger Achtung und Respekt vor der Überzeugung und dem Glauben
der anderen durchdrungen sind", so Meisner. "Achtung und Respekt aber lassen sich
nicht nur per Gesetz erzwingen oder verordnen. Wo sie fehlen, fehlen einer Gesellschaft
auch die anderen Grundlagen des Zusammenlebens... Es ist ein Gebot der Stunde für
uns in Deutschland, in Westeuropa und in aller Welt, Ehrfurcht zur wichtigsten Haltung
zu proklamieren und zu praktizieren." Wir dokumentieren hier die Predigt Kardinal
Meisners im vollen Wortlaut. "Liebe Mitbrüder! Das Wort „Ehrfurcht“ ist ein
Fremdwort in unserer Gesellschaft geworden. Und wie eine Welt ohne Ehrfurcht aussieht,
das haben wir in den letzten Wochen alle erlebt. Ehrfurchtslosigkeit macht aus dem
Zusammenleben der Menschen einen Kriegsschauplatz. Wie schon das Wort sagt, bedeutet
die Ehrfurcht die innere Aufmerksamkeit des Menschen, den anderen in seiner Würde
nicht zu verletzen. Jeder Mensch – und das macht seine Würde aus – trägt in seinem
Inneren einen Bereich, ein Heiligtum, an das niemand rühren darf. Ehrfurcht meint
etwas Doppeltes: Einmal geht sie davor auf Distanz, sie fürchtet sich, das Licht und
den inneren Glanz, das heilige Land im Anderen zu verletzen, und auf der anderen Seite
ist sie so fasziniert von diesem Glanz, dass sie seine Nähe sucht. Man kann dieses
Phänomen an der Theophanie im brennenden Dornbusch erkennen. Mose ist davon fasziniert,
er sucht die Nähe des Feuers. Aber die Stimme Gottes mahnt zur Distanz: „Mose, Mose!
Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger
Boden“ (Ex 3,4–5). Man kann dasselbe im Leben Jesu in zwei Begegnungen mit Petrus
nachvollziehen. Als Jesus den reichen Fischfang verursacht hatte, fällt Petrus vor
ihm nieder und sagt: „Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder“ (Lk 5,8). Und als
der Meister über das stürmische Meer auf die Jünger im Boot zuläuft und sich zu erkennen
gibt, dass er es ist, sagte Petrus: „Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf
dem Wasser zu dir komme“ Und der Herr sagt: „Komm!“ (Mt 14,28–29). Hier ist beides
für die Ehrfurcht Typische: Distanz und Nähe vor der Macht Gottes in Jesus Christus;
das gilt auch vor dem Glanz der Würde des Menschen. Das ist das Herz der Ehrfurcht.
Hier tut der Mensch nicht, was er sonst wie selbstverständlich tut: nämlich in Besitz
und für die eigenen Zwecke in Gebrauch nehmen. In der Ehrfurcht tritt er zurück und
hält Abstand. Damit entsteht ein geistiger Raum, in dem das, was Achtung, Ehrerbietung,
eben Ehrfurcht verdient, sich erheben und leuchten kann. In der Ehrfurcht zieht der
Mensch die Hände zurück, statt zuzugreifen. Ihr Gegenstand ist die Heiligkeit Gottes
und die Würde der Person, ihre Freiheit, ihr Gewissen und ihr Verantwortungsauftrag.
Alle wirkliche Kultur beginnt damit, dass der Mensch vor dem Heiligen im anderen zurücktritt,
nicht eindringt, nicht an sich reißt, sondern Abstand schafft, damit freier Raum entsteht,
worin die Person mit ihrer Würde und Schönheit deutlich werden kann. Ehrfurcht ist
nicht gegen die Freiheit aufzuwiegen, sondern die Ehrfurcht ist der Freiheit vorgeordnet
und wohnt ihr inne, indem sie alles tut, um die Ehre des anderen zu schützen, zu stärken
und zum Leuchten zu bringen. Die Weihnachtsbotschaft unterstreicht das deutlich:
„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden“. Wem aber Gott im Himmel
nicht mehr heilig ist, was wird dem auf Erden noch heilig sein? Wird ihm Friedensdienst
auf Erden dann noch möglich sein? Darum ist es dem religiösen Menschen leichter, die
Tugend der Ehrfurcht zu üben, als dem, der um dieses letzte Geheimnis im Menschen
nicht weiß, wo er an die Wurzeln seines Daseins gerät. Auch der ungläubige Mensch
kommt nicht aus sich selbst. Und auch der nicht glaubende Mensch hat sich nicht selbst
verursacht und ist nicht gefragt worden, ob er ins Dasein treten will oder nicht.
Auch er erfährt sich, mit Verantwortung für sich und andere gesegnet zu sein. Es ist
ein Gebot der Wahrheit, dass er sich so entgegennimmt, wie er ist und das bejaht,
was ihm auf seinem Schöpfungsweg mitgegeben ist. Er trägt für sich vor den Menschen
Verantwortung, dass er anderen zum Segen wird, und er hat ein Recht darauf, dass die
anderen diese seine Seinsmitte, sein gleichsam profanes Heiligtum akzeptieren und
bejahen, und zwar in der Weise der Ehrfurcht. Dabei gibt die Ehrfurcht vor uns selbst
uns die Fähigkeit, dem Anderen Ehrfurcht zu erweisen. Dass dies dem Christen leichter
fällt, zeigt die Mahnung des Apostels Paulus: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel
seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1 Kor 3,16). Der Mensch gehört sich also
nicht selbst, sondern er gehört Gott. Er ist ein Tempel Gottes. Den darf man nicht
durch Unwahrheit profanieren. Jesus sagt dazu ein wichtiges Wort: „Wer einen von diesen
Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er
mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde. Wehe der Welt mit ihrer
Verführung. … Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten. Denn ich sage
euch: Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters“ (Mt
18,6.7.10) Wir wissen, dass mit den Kleinen nicht nur die Kinder, sondern die
Gläubigen genannt sind. Auch wir Bischöfe gehören selbstverständlich selbst mit hoher
Mitra dazu. In dem Herrenwort zeigt sich deutlich, dass die Unantastbarkeit und Würde
jedes Menschen durch seine direkte Verbindung mit dem heiligen Angesicht Gottes gegeben
ist. Für uns Christen ist der Glaube an Gott wesentlicher Bestandteil und Kern der
Würde unserer Person. Er findet im Bekenntnis, in der tätigen Nächstenliebe und der
gottesdienstlichen Feier einen wahrnehmbaren Ausdruck, aber dieser Glaube ist nicht
etwas Äußerliches, das von außen zur Person hinzukommt, sondern gehört wesentlich
von innen zu ihr. Wer im Namen der Freiheit verletzt, was Menschen heilig ist und
ihn deshalb prägt, verletzt die Würde des Menschen und höhlt die Freiheit aus. In
der Gotteslästerung schneidet der Mensch diese Verbindung des Menschen zu Gott durch
und liefert ihn allen anderen Angriffen menschlicher Gemeinheit aus. Gotteslästerung
ist immer auch ein Verbrechen gegen den Menschen. Meinungsfreiheit ist ein hohes menschliches
Gut, das ebenfalls um des Menschen willen nicht zur Disposition gestellt werden darf.
Aber sie hat dort ihre Grenze, wo sie die Unantastbarkeit des Menschen verletzt. Gotteslästerung
bedeutet Menschenverachtung. Auch der andere ist ein Tempel Gottes, und was ihm heilig
ist, darf ich nicht verletzen oder verhöhnen. Ehrfurchtslosigkeit zerstört den Menschen
in seiner tiefsten Verfasstheit. Wir reden heute von Ehrabschneidungen. Sie werden
oft – auch von den Gerichten – als rechtens erkannt, wenn sie in einer so genannten
künstlerischen Form geschehen. Aber die Kunst ist auch der Wahrheit verpflichtet.
Wenn man sie von ihr löst, wird sie zu einem Dämon, der die Ehrfurcht untergehen lässt
und die Würde des Menschen niederwalzt. Wo Kunst Mittel zum Zweck wird, dort ist sie
schon verdorben. Aber die verletzte Würde des Menschen ist nicht mit Gewalt zu
heilen, da deren Gebrauch nicht nur das zerstört, wogegen sie gerichtet ist, sondern
vor allem und am tiefsten immer auf den zurückschlägt, der sich für sie entschieden
hat. In diesem Sinne sagt Sokrates: „Glücklicher ist das Opfer des Mordes als sein
Mörder … Das Opfer hört auf zu leben, aber der Mörder verdammt sich selbst bis ans
Ende seiner Tage zur Gemeinschaft mit dem Mörder in sich selbst“. Wenn wir „Ehre
sei Gott in der Höhe“ beten, dann fügen wir sofort hinzu: „und Friede den Menschen
auf Erden“. Die Ehrfurcht unter den Menschen hat ihre Ursache in der Ehrfurcht vor
Gott. Soll die Welt menschenwürdig bleiben, dann muss sie wieder gottesfürchtig werden.
Dann kann ich sagen: „Fürchte Gott und scheue niemand!“ Dort wird auch der Mensch
nicht verletzt, wo Gott gefürchtet wird, und zwar Gottesfurcht in dem Sinne, dass
sie alle Sorgfalt darauf aufbringt, sich Gottes Heiligkeit zu nähern und gleichzeitig
die Distanz als Geschöpf gegenüber dem Schöpfer zu wahren. Nähe zu suchen und Distanz
zu wahren, zu Gott und zu den Menschen, das ist das Geheimnis der Ehrfurcht. Wir
schauen nochmals auf Mose vor dem brennenden Dornbusch in der Wüste. Er steht da mit
bloßen Füßen. Denn die Heiligkeit des Ortes ergreift sein Herz und seinen Leib. Und
dazu ein Gegenbild: Vor ca. 5 Jahren nutzten ein Mann und eine Frau während der Besichtigungszeiten
die hohe Besucherzahl im Kölner Dom aus, um sich obszön gemeinsam nackt auf den Altar
zu legen. Zwischen beiden Bildern liegen nicht nur Welten, sondern Abgründe. Eine
Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse,
an Gott Glaubende, Agnostiker und Atheisten zusammenleben, hat nur Bestand, wenn ihre
Mitglieder von gegenseitiger Achtung und Respekt vor der Überzeugung und dem Glauben
der anderen durchdrungen sind. Achtung und Respekt aber lassen sich nicht nur per
Gesetz erzwingen oder verordnen. Wo sie fehlen, fehlen einer Gesellschaft auch die
anderen Grundlagen des Zusammenlebens. Ehrfurcht will geübt werden. Ehrfurcht ist
eine Haltung und Haltungen entstehen durch Handlungen. Es ist ein Gebot der Stunde
für uns in Deutschland, in Westeuropa und in aller Welt, Ehrfurcht zur wichtigsten
Haltung zu proklamieren und zu praktizieren. Gehen wir als Jünger Jesu darin mit gutem
Beispiel voran. Amen." (pm 08.03.06 sk)