2006-03-08 10:47:53

Dokument: Predigt von Kardinal Meisner in Berlin


Bei einer Messfeier zur Frühjahrs-Vollversammlung der deutschen Bischöfe hat der Kölner Erzbischof, Kardinal Joachim Meisner, heute mehr Ehrfurcht gefordert. "Eine Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse, an Gott Glaubende, Agnostiker und Atheisten zusammenleben, hat nur Bestand, wenn ihre Mitglieder von gegenseitiger Achtung und Respekt vor der Überzeugung und dem Glauben der anderen durchdrungen sind", so Meisner. "Achtung und Respekt aber lassen sich nicht nur per Gesetz erzwingen oder verordnen. Wo sie fehlen, fehlen einer Gesellschaft auch die anderen Grundlagen des Zusammenlebens... Es ist ein Gebot der Stunde für uns in Deutschland, in Westeuropa und in aller Welt, Ehrfurcht zur wichtigsten Haltung zu proklamieren und zu praktizieren."
Wir dokumentieren hier die Predigt Kardinal Meisners im vollen Wortlaut.
"Liebe Mitbrüder!
Das Wort „Ehrfurcht“ ist ein Fremdwort in unserer Gesellschaft geworden. Und wie eine Welt ohne Ehrfurcht aussieht, das haben wir in den letzten Wochen alle erlebt. Ehrfurchtslosigkeit macht aus dem Zusammenleben der Menschen einen Kriegsschauplatz. Wie schon das Wort sagt, bedeutet die Ehrfurcht die innere Aufmerksamkeit des Menschen, den anderen in seiner Würde nicht zu verletzen. Jeder Mensch – und das macht seine Würde aus – trägt in seinem Inneren einen Bereich, ein Heiligtum, an das niemand rühren darf. Ehrfurcht meint etwas Doppeltes: Einmal geht sie davor auf Distanz, sie fürchtet sich, das Licht und den inneren Glanz, das heilige Land im Anderen zu verletzen, und auf der anderen Seite ist sie so fasziniert von diesem Glanz, dass sie seine Nähe sucht. Man kann dieses Phänomen an der Theophanie im brennenden Dornbusch erkennen. Mose ist davon fasziniert, er sucht die Nähe des Feuers. Aber die Stimme Gottes mahnt zur Distanz: „Mose, Mose! Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“ (Ex 3,4–5).
Man kann dasselbe im Leben Jesu in zwei Begegnungen mit Petrus nachvollziehen. Als Jesus den reichen Fischfang verursacht hatte, fällt Petrus vor ihm nieder und sagt: „Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder“ (Lk 5,8). Und als der Meister über das stürmische Meer auf die Jünger im Boot zuläuft und sich zu erkennen gibt, dass er es ist, sagte Petrus: „Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme“ Und der Herr sagt: „Komm!“ (Mt 14,28–29). Hier ist beides für die Ehrfurcht Typische: Distanz und Nähe vor der Macht Gottes in Jesus Christus; das gilt auch vor dem Glanz der Würde des Menschen. Das ist das Herz der Ehrfurcht. Hier tut der Mensch nicht, was er sonst wie selbstverständlich tut: nämlich in Besitz und für die eigenen Zwecke in Gebrauch nehmen. In der Ehrfurcht tritt er zurück und hält Abstand. Damit entsteht ein geistiger Raum, in dem das, was Achtung, Ehrerbietung, eben Ehrfurcht verdient, sich erheben und leuchten kann. In der Ehrfurcht zieht der Mensch die Hände zurück, statt zuzugreifen. Ihr Gegenstand ist die Heiligkeit Gottes und die Würde der Person, ihre Freiheit, ihr Gewissen und ihr Verantwortungsauftrag. Alle wirkliche Kultur beginnt damit, dass der Mensch vor dem Heiligen im anderen zurücktritt, nicht eindringt, nicht an sich reißt, sondern Abstand schafft, damit freier Raum entsteht, worin die Person mit ihrer Würde und Schönheit deutlich werden kann. Ehrfurcht ist nicht gegen die Freiheit aufzuwiegen, sondern die Ehrfurcht ist der Freiheit vorgeordnet und wohnt ihr inne, indem sie alles tut, um die Ehre des anderen zu schützen, zu stärken und zum Leuchten zu bringen.
Die Weihnachtsbotschaft unterstreicht das deutlich: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden“. Wem aber Gott im Himmel nicht mehr heilig ist, was wird dem auf Erden noch heilig sein? Wird ihm Friedensdienst auf Erden dann noch möglich sein? Darum ist es dem religiösen Menschen leichter, die Tugend der Ehrfurcht zu üben, als dem, der um dieses letzte Geheimnis im Menschen nicht weiß, wo er an die Wurzeln seines Daseins gerät.
Auch der ungläubige Mensch kommt nicht aus sich selbst. Und auch der nicht glaubende Mensch hat sich nicht selbst verursacht und ist nicht gefragt worden, ob er ins Dasein treten will oder nicht. Auch er erfährt sich, mit Verantwortung für sich und andere gesegnet zu sein. Es ist ein Gebot der Wahrheit, dass er sich so entgegennimmt, wie er ist und das bejaht, was ihm auf seinem Schöpfungsweg mitgegeben ist. Er trägt für sich vor den Menschen Verantwortung, dass er anderen zum Segen wird, und er hat ein Recht darauf, dass die anderen diese seine Seinsmitte, sein gleichsam profanes Heiligtum akzeptieren und bejahen, und zwar in der Weise der Ehrfurcht. Dabei gibt die Ehrfurcht vor uns selbst uns die Fähigkeit, dem Anderen Ehrfurcht zu erweisen. Dass dies dem Christen leichter fällt, zeigt die Mahnung des Apostels Paulus: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1 Kor 3,16). Der Mensch gehört sich also nicht selbst, sondern er gehört Gott. Er ist ein Tempel Gottes. Den darf man nicht durch Unwahrheit profanieren. Jesus sagt dazu ein wichtiges Wort: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde. Wehe der Welt mit ihrer Verführung. … Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters“ (Mt 18,6.7.10)
Wir wissen, dass mit den Kleinen nicht nur die Kinder, sondern die Gläubigen genannt sind. Auch wir Bischöfe gehören selbstverständlich selbst mit hoher Mitra dazu. In dem Herrenwort zeigt sich deutlich, dass die Unantastbarkeit und Würde jedes Menschen durch seine direkte Verbindung mit dem heiligen Angesicht Gottes gegeben ist. Für uns Christen ist der Glaube an Gott wesentlicher Bestandteil und Kern der Würde unserer Person. Er findet im Bekenntnis, in der tätigen Nächstenliebe und der gottesdienstlichen Feier einen wahrnehmbaren Ausdruck, aber dieser Glaube ist nicht etwas Äußerliches, das von außen zur Person hinzukommt, sondern gehört wesentlich von innen zu ihr. Wer im Namen der Freiheit verletzt, was Menschen heilig ist und ihn deshalb prägt, verletzt die Würde des Menschen und höhlt die Freiheit aus.
In der Gotteslästerung schneidet der Mensch diese Verbindung des Menschen zu Gott durch und liefert ihn allen anderen Angriffen menschlicher Gemeinheit aus. Gotteslästerung ist immer auch ein Verbrechen gegen den Menschen. Meinungsfreiheit ist ein hohes menschliches Gut, das ebenfalls um des Menschen willen nicht zur Disposition gestellt werden darf. Aber sie hat dort ihre Grenze, wo sie die Unantastbarkeit des Menschen verletzt. Gotteslästerung bedeutet Menschenverachtung. Auch der andere ist ein Tempel Gottes, und was ihm heilig ist, darf ich nicht verletzen oder verhöhnen. Ehrfurchtslosigkeit zerstört den Menschen in seiner tiefsten Verfasstheit. Wir reden heute von Ehrabschneidungen. Sie werden oft – auch von den Gerichten – als rechtens erkannt, wenn sie in einer so genannten künstlerischen Form geschehen. Aber die Kunst ist auch der Wahrheit verpflichtet. Wenn man sie von ihr löst, wird sie zu einem Dämon, der die Ehrfurcht untergehen lässt und die Würde des Menschen niederwalzt. Wo Kunst Mittel zum Zweck wird, dort ist sie schon verdorben.
Aber die verletzte Würde des Menschen ist nicht mit Gewalt zu heilen, da deren Gebrauch nicht nur das zerstört, wogegen sie gerichtet ist, sondern vor allem und am tiefsten immer auf den zurückschlägt, der sich für sie entschieden hat. In diesem Sinne sagt Sokrates: „Glücklicher ist das Opfer des Mordes als sein Mörder … Das Opfer hört auf zu leben, aber der Mörder verdammt sich selbst bis ans Ende seiner Tage zur Gemeinschaft mit dem Mörder in sich selbst“.
Wenn wir „Ehre sei Gott in der Höhe“ beten, dann fügen wir sofort hinzu: „und Friede den Menschen auf Erden“. Die Ehrfurcht unter den Menschen hat ihre Ursache in der Ehrfurcht vor Gott. Soll die Welt menschenwürdig bleiben, dann muss sie wieder gottesfürchtig werden. Dann kann ich sagen: „Fürchte Gott und scheue niemand!“ Dort wird auch der Mensch nicht verletzt, wo Gott gefürchtet wird, und zwar Gottesfurcht in dem Sinne, dass sie alle Sorgfalt darauf aufbringt, sich Gottes Heiligkeit zu nähern und gleichzeitig die Distanz als Geschöpf gegenüber dem Schöpfer zu wahren. Nähe zu suchen und Distanz zu wahren, zu Gott und zu den Menschen, das ist das Geheimnis der Ehrfurcht.
Wir schauen nochmals auf Mose vor dem brennenden Dornbusch in der Wüste. Er steht da mit bloßen Füßen. Denn die Heiligkeit des Ortes ergreift sein Herz und seinen Leib. Und dazu ein Gegenbild: Vor ca. 5 Jahren nutzten ein Mann und eine Frau während der Besichtigungszeiten die hohe Besucherzahl im Kölner Dom aus, um sich obszön gemeinsam nackt auf den Altar zu legen. Zwischen beiden Bildern liegen nicht nur Welten, sondern Abgründe. Eine Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse, an Gott Glaubende, Agnostiker und Atheisten zusammenleben, hat nur Bestand, wenn ihre Mitglieder von gegenseitiger Achtung und Respekt vor der Überzeugung und dem Glauben der anderen durchdrungen sind. Achtung und Respekt aber lassen sich nicht nur per Gesetz erzwingen oder verordnen. Wo sie fehlen, fehlen einer Gesellschaft auch die anderen Grundlagen des Zusammenlebens. Ehrfurcht will geübt werden. Ehrfurcht ist eine Haltung und Haltungen entstehen durch Handlungen.
Es ist ein Gebot der Stunde für uns in Deutschland, in Westeuropa und in aller Welt, Ehrfurcht zur wichtigsten Haltung zu proklamieren und zu praktizieren. Gehen wir als Jünger Jesu darin mit gutem Beispiel voran. Amen."
(pm 08.03.06 sk)








All the contents on this site are copyrighted ©.