Dossier: Der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan zum Karikaturenstreit
Tariq Ramadan, der in Genf geborene Moslem und namhafte Islamwissenschaftler, stammt
aus einer ägyptischen Familie. Sein Grossvater Hassan Al-Banna gründete die Muslimbruderschaft.
Ramadan, den das «Time Magazine» zu den «100 wichtigsten Denkern des 21. Jahrhunderts»
zählt, gehört zu Europas einflussreichsten und umstrittensten Moslems. Er ist Gastprofessor
in Oxford und wurde von der Regierung Blair in ein Beratergremium berufen. Die USA
aber haben ihn mit einer Einreisesperre belegt, in Frankreich wird er von seinen Gegnern
als Islamist angegriffen. Der Text, den wir hier dokumeentieren, erschien am 6. Februar
in der deutschen Tageszeitung «Die Welt». Ramadan plädiert im Karikaturen-Streit an
die Vernunft. "Ich war in Kopenhagen, als die Karikaturen-Affäre im vergangenen
Oktober zu ersten Demonstrationen in Dänemark führte. Ein Mitarbeiter der Zeitung,
die die Karikaturen veröffentlicht hatte, interviewte mich und erzählte mir, wie heftig
in der Redaktion gestritten werde. Er berichtete vom Unbehagen vieler Redaktoren und
wie sehr sie von den heftigen Reaktionen der muslimischen und arabischen Botschaften
überrascht worden seien. Dennoch sah es damals so aus, als würden die Spannungen die
dänische Grenze nicht überqueren. Den Muslimen, die die Karikaturen als rassistisch
verurteilten und die in ihnen eine Provokation sahen, die vom – in Dänemark stetig
wachsenden – äussersten rechten Flügel ausgenutzt werden würde, gab ich den Rat, nicht
emotional zu reagieren, sondern besonnen zu erklären, warum diese Karikaturen sie
verletzten. Weder sollten sie demonstrieren noch riskieren, Massen in Bewegung zu
setzen, die unmöglich zu kontrollieren wären. Alles schien sich zu klären, und
man kann sich fragen, warum drei Monate nach diesen Ereignissen erneut Öl ins Feuer
einer Kontroverse gegossen wird, deren Konsequenzen tragisch und unbeherrschbar sind.
Einige wenige dänische Muslime haben einige Länder im Nahen und Mittleren Osten besucht
und die Flamme des Ressentiments geschürt: Regierungen, froh und glücklich, ihre Bindung
an den Islam zu bewei- sen – und sich so in den Augen ihrer Bevölkerung religiös zu
legitimieren –, haben ihren Vorteil in dieser glücklichen Fügung gesucht und sich
selbst als Helden der guten Sache ins rechte Licht gerückt. Und das wiederum war auf
der anderen Seite für einige Politiker, Intellektuelle und Journalisten Grund genug,
sich im Namen der westlichen Werte als Helden der Meinungsfreiheit und Widerstandskämpfer
gegen religiösen Obskurantismus ins rechte Licht zu rücken. Und da stehen wir nun
– vor einer unglaublichen Simplifizierung, vor einer vereinfachenden Polarisierung:
Um einen Kampf der Kulturen soll es sich handeln, um eine Konfrontation des unverbrüchlichen
Prinzips der Freiheit der Rede einerseits und des Prinzips der unantastbaren heiligen
Sphäre andererseits. In solche Begriffe gefasst, ist die Debatte unglücklicherweise
zur Kraftprobe geworden: Wer wird gewinnen? Muslime fordern Entschuldigungen, drohen
europäischen Interessen und drohen sogar Menschen; westliche Regierungen, Intellektuelle
und Journalisten wiederum wollen sich diesem Druck nicht beugen, und gewisse Medien
haben die Kontroverse noch angeheizt, indem sie die Karikaturen nachgedruckt haben.
Die Mehrheit der Menschen rund um den Globus sieht diesen Exzessen indes ratlos zu:
Welcher Wahnsinn treibt die Welt? Wichtig ist jetzt vor allem, einen Weg aus dem
Teufelskreis zu finden und jedermann zu bitten, nicht länger Öl ins Feuer zu giessen,
um so schliesslich eine ernsthafte, eingehende und besonnene Diskussion zu eröffnen.
Nein, es geht nicht um den Kampf der Kulturen; nein, diese Affäre steht nicht für
eine Konfrontation der Prinzipien der Aufklärung mit denen der Religion. Nein, durchaus
nicht. Was im Herzen dieser Geschichte auf dem Spiel steht, ist, inwieweit die einen
und die anderen frei und rational (gläubig oder atheistisch) sein können und zugleich
vernünftig. Denn der Riss, der sich aufzutun scheint, verläuft nicht zwischen dem
Westen und dem Islam, sondern zwischen denen, die – in beiden Universen – im Namen
einer Religion und/oder einer vernünftigen Vernunft massvoll erklären können, wer
sie sind und für was sie stehen, und jenen, die von exklusiven Wahrheiten, blinden
Leidenschaften, Vorurteilen und hastigen Schlussfolgerungen getrieben werden. Wesenszüge
wie diese finden sich bei Intellektuellen, religiösen Führern, Journalisten und gewöhnlichen
Menschen beider Seiten. Angesichts der gefährlichen Verwerfungen, zu denen solche
Haltungen führen, ist es höchste Zeit, fortan alle zu mehr Weisheit aufzurufen. Jegliche
Darstellung der Propheten ist im Islam streng verboten. Das ist nicht nur eine Frage
fundamentalen Respekts, ebenso geht es dabei um die Verhinderung götzendienerischer
Versuchungen. In diesem Sinn ist die Darstellung eines Propheten grosse Sünde. Wenn
dann noch – in den Augen der Muslime – plumpe Beleidigungen dazukommen (der Prophet
mit einem Turban in Form einer Bombe), lässt sich die Natur des Schocks in den islamischen
Gemeinden überall auf der Welt (und nicht nur der gläubigen oder radikalen Muslime)
verstehen. Für ihr Gefühl war das zu viel: Es war gut und wichtig für sie, dies
sagen zu können und gehört zu werden. Dennoch wäre es für die Muslime ebenso wichtig,
nicht zu vergessen, dass die westlichen Gesellschaften – im Gegensatz zu den mehrheitlich
muslimischen Ländern – eine Tradition des Spotts, der Ironie und der Kritik religiöser
Symbole entwickelt haben. Sie trifft den Papst, Jesus Christus und sogar Gott. Auch
wenn die Muslime diese Haltung nicht teilen, müssen sie doch lernen, eine kritische
Distanz zu wahren. Eifer und Inbrunst sind stets schlechte Ratgeber. Angesichts solcher
– so plumper wie dummdreister – Karikaturen ist und bleibt es vorzuziehen, das eigene
Leid und die eigenen Werte der Öffentlichkeit ohne Getöse zu erklären, um dann Ruhe
zu geben und auf eine bessere Gelegenheit für eine besonnene Debatte zu warten. Was
hingegen heute aus dem Inneren muslimischer Gemeinden hochkocht, ist so masslos wie
verrückt: Nach Entschuldigungen zu gieren, zum Boykott europäischer Produkte aufzurufen,
gar mit physischer, bewaffneter Vergeltung zu drohen ist völlig masslos und muss zurückgewiesen
und verurteilt werden. Sich andererseits auf die Redefreiheit zu berufen, um alles
in jedweder Form gegen jedermann sagen zu dürfen, ist auch unverantwortlich. Zuallererst,
weil es nicht stimmt, dass im Namen der Redefreiheit alles erlaubt ist. Jede Nation
hat Gesetze, die einen Rahmen schaffen, um beispielsweise rassistische Äusserungen
zu verurteilen, und überall im Westen findet man ein spezifisches, der jeweiligen
Kultur, Tradition und Kollektivpsychologie verpflichtetes Werk, das die Beziehungen
der Individuen und diversen Religionen und Kulturen miteinander regelt. Nun haben
sich die westlichen Gesellschaften verändert und die Präsenz der Muslime hat neue
Empfindlichkeiten geschaffen. Wäre es da, statt nach Gesetzen und Rechten zu gieren,
nicht besser, die Bürger zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit der Redefreiheit
aufzurufen, einem Umgang, der den verschiedenen Empfindlichkeiten, aus denen unsere
Gesellschaft sich zusammensetzt, Rechnung trägt? Es geht dabei nicht um zusätzliche
Gesetze und die Einschränkung der Redefreiheit: Es geht schlicht um einen Aufruf zu
einem bewussteren Umgang mit diesem Recht, mithin um die Pflege eines Sinns ziviler
Verantwortung. Die muslimischen Bürger wollen keine Zensur, sondern Respekt, und gegenseitiger
Respekt lässt sich nicht über eine verschärfte Gesetzgebung erreichen. Vielmehr lehrt
man ihn im Namen eines freien, verantwortungsvollen und vernünftigen gemeinsamen Bürgersinns.
Wir stehen am Scheideweg. Es wird höchste Zeit, dass die Frauen und Männer, die
die falschen Unterscheidungen beider Welten ablehnen, Brücken gemeinsamer Werte bauen.
Dabei müssen sie die unverbrüchliche Freiheit der Rede behaupten und zugleich einen
Sinn für ihren massvollen Einsatz entwickeln helfen. Wir brauchen diese Frauen und
Männer für die nötige offene und selbstkritische Herangehensweise, die exklusive Wahrheiten
und eine schwarzweisse Sicht auf die Welt ablehnt. Wir haben gegenseitiges Vertrauen
bitter nötig. Die von der Karikaturen-Affäre ausgelöste Krise zeigt uns, wie aus
«scheinbar nichts» das Schlimmste erwachsen kann, sobald die beiden in Frage stehenden
Universen taub für einander werden und sich in gegenseitiger Abgrenzung selbst definieren.
Eine Katastrophe, die die Extremisten beider Seiten auszunutzen wissen werden. Wer
die Freiheit liebt, wer weiss, wie wichtig gegenseitiger Respekt ist und die Notwendigkeit
einer so konstruktiven wie kritischen Diskussion begreift, muss jetzt Stellung beziehen,
sich engagieren und sichtbar in Erscheinung treten. Wenn nicht, dann steht uns ein
trauriges und schmerzhaftes Morgen bevor. Wir haben die Wahl." (die welt 08.02.06
sk)