Dossier: Comeback des Religiösen? Von P. Eberhard v. Gemmingen SJ
Kommt das Religiöse zurück - in Deutschland, in Europa, in der Welt? Erlauben Sie
mir, dass ich mit einem längeren Zitat aus einem Roman beginne. Den Autor werde ich
Ihnen nachher nennen. Die Szene soll uns ein wenig in die Fragestellung und ihre Dramatik
einführen. Der Roman beginnt so: „Papst Sing-Hua I. hatte seine Residenz in
der koreanischen Hauptstadt in einem 50-stöckigen Hochhaus. Korea war zu drei viertel
katholisch. Die Sprache der katholischen Welt war chinesisch, obwohl Korea der Hauptstützpunkt
der katholischen Kirche geworden war. Die meisten Katholiken wohnten jetzt in Korea,
China, Vietnam, in Indonesien, ziemlich viele auch in Burma, in der Mongolei. Es gab
große katholische Inseln auch in Afrika, vor allem im Kongo, in Uganda, in Kenia,
Tansania und in den Kleinstaaten Westafrikas. Europa spielte für die katholische Kirche
keine Rolle mehr. Die Katholiken Europas hatten sich in den Jahren von 2005 bis 2025
durch interne Auseinandersetzungen, Selbstzweifel und Kindermangel praktisch selbst
aufgegeben und aufgelöst. Daher war im Jahr 2015 erstmals ein Afrikaner zum Papst
gewählt worden. Der aber konnte sich gegen den moralischen Druck aus Ostasien nicht
mehr durchsetzen, und so wählten die mehrheitlich asiatischen Kardinäle im Jahr 2023
einen Koreaner zu ihrem Oberhaupt. Und so blieb das Papstamt denn bis zum Jahr 2075
in koreanischer Hand. Der Blick zurück auf die Metastasen der Kirche in Europa
war so entsetzlich, dass die aus Ostasien stammenden Katholiken froh waren, ihren
eigenen Weg der Nachfolge Christi gefunden zu haben. Vietnam war sogar zu 80 Prozent
christlich, vermutlich als Folge der harten Religionsverfolgung in der Zeit des kommunistischen
Regimes. Die Kommunisten trieben die vietnamesische Bevölkerung praktisch in die Arme
der katholischen Kirche. Auch einige reformierte Gemeinschaften waren damals stark
gewachsen, doch der eindeutige Sieger blieb die Kirche unter dem Papst. Noch heute
schwören die vietnamesischen Katholiken auf Rom, obwohl der frühere Sitz der Päpste
in Rom längst zu einem UNESCO-Museum geworden war. Freilich darf hier nicht verschwiegen
werden, dass auf Wunsch der UNO in den so genannten europäischen Schutzgebieten noch
christliche Inseln künstlich am Leben gehalten werden. Die Kulturethnologen wollen
in ihnen erforschen, wie sich traditionelle Gesellschaften erhalten. Doch davon erst
später. Die Gesamtzahl aller Katholiken weltweit hatte sich im Jahr 2075 auf rund
eine halbe Milliarde eingependelt. Die katholische Kirche war also eine Minderheit
geworden. Ihre Stärke bezog sie in Ostasiens teilweise aus ihrer kulturellen Nähe
zum wieder auferstandenen Konfuzianismus. Die moralische und gesellschaftliche Ordnung
der Konfuzianer und der Katholiken berührten sich in vielen Punkten. Wichtig waren
ihnen Disziplin, Rücksichtnahme, Solidarität, Respekt vor der Autorität. Beiden kulturellen
Gruppen lag am Herzen, dass die Rechte des Einzelnen und die Rechte der Gemeinschaft
in ein ausgewogenes Verhältnis kamen. Der extreme Individualismus hatte Europa und
die europäischen Kirchen zerstört, und die Christen Asiens wussten, was sie vermeiden
mussten. An einem Dienstagmorgen kam der Archivar der päpstlichen Kurie in Seoul
etwas aufgeregt zum Papst. Es platzte förmlich aus ihm heraus: „Heiliger Vater, wir
haben in einem Washingtoner Archiv den Bericht eines aufmerksamen Beobachter des mongolischen
Geheimdienstes gefunden, in dem dieser minutiös die Auflösung der katholischen Kirche
in Europa schildert. Der Bericht stammt aus dem Jahr 2045, also vor jetzt 30 Jahren,
greift aber weit in die Vergangenheit zurück, beginnend mit der Wahl Papst Benedikts
im Frühjahr 2005. Kardinal Ratzinger, der scharfe Beobachter hatte in vielen Schriften
bereits auf die Auflösungserscheinungen der westlichen Kultur hingewiesen und vor
falscher Liberalisierung gewarnt. Von vielen war er als Fundamentalist bezeichnet
worden. Dieses Schimpfwort war geeignet, seine Autorität zu untergraben, was mit Hilfe
der kirchenkritischen und gewinnorientierten Medien auch leicht gelang. Die verschiedenen
Bevölkerungen Europas waren auch durch raffinierte psychologische Bearbeitung und
Mangel an Kriegen bereits so unkritisch geworden, dass sie die Wirklichkeit kaum noch
interessierte. Persönliche Freiheitsrechte, materielle Ausstattung, Zukunftssicherung
waren so dominant, dass der Sinn für Solidarität, Gerechtigkeit, Zucht und Maß völlig
verloren gegangen waren. Freilich gab es kleine Inseln, in denen die Welt – wie man
damals sagte – noch in Ordnung war. Aus ihnen wurden später im deutschen Sprachraum
der „Austro-Zoo“, der „Teutonen-Zoo“ und der „Helveten-Zoo“. Die Bewohner dieser Human-Biotope
wurden zwar von den übrigen Bevölkerungen als Fundis belächelt. Die von den Chinesen
und Indern dominierte UNO und UNESCO legten jedoch größten Wert auf die Erhaltung
dieser Schutzzonen, um an ihnen zu studieren, wie humanes Leben vor der Einführung
der obligat gewordenen künstlichen Befruchtung sich entwickelte. Papst Benedikt
gewann zwar im Lauf seiner 12-jährigen Amtszeit weltweit hohe Autorität, seine Stimme
wurde gehört, er wurde geehrt und anerkannt. Es gab aber in der katholischen Kirche
vor allem in den nördlichen Ländern am Atlantik sehr viele Kräfte, die den Ernst der
kirchlichen Lage nicht erkannten und meinten, mit theologischen und vor allem moraltheologischen
Änderungen der Kirche aufhelfen zu können. Man sprach von Liberalisierung der Sexualmoral,
von der Öffnung der Kirche für künstliche Befruchtung, von der Abschaffung des Pflichtzölibats
der Priester, von der Einladung an Nichtkatholiken zur Eucharistie, von Interkommunion
und Interzelebration, von der Aufwertung der Frauen in der Kirche und ihrer Zulassung
zum Priestertum. Es waren nicht die Schlechtesten, die diese Themen immer wieder zur
Sprache brachten. Sie übersahen dabei aber, dass die Existenz der Kirche in Europa
überhaupt auf dem Spiele stand. Schon zu Benedikts Zeiten sagten nüchterne Beobachter
voraus, dass ums Jahr 2050 nur noch 10 Prozent aller Europäer getauft sein würden
und gleichzeitig die eigentlich europäisch denkende Bevölkerung von 350 Millionen
auf 100 Millionen zurückgehen würde. Es war ums Jahr 2005 abzusehen, dass Europa rein
zahlenmäßig gegenüber den Chinesen und Indern zu einer lächerlichen Minderheit absinken
würde. Auch Benedikt wurde nicht müde, auf diese Entwicklung hinzuweisen. Schon mit
der Wahl seines Namens zeigte er, dass ihm Europa ans Herz gewachsen war. Benedikt
hatte vor dem Mythos der Wissenschaft eindringlich gewarnt. Aber seine Macht war begrenzt,
die Blindheit der breiten Bevölkerung war bereits so groß, sodass der Absturz Europas
kam wie er kommen musste. Religion war ein privater Bereich, der von den Politikern,
von Kultur- und Medienschaffenden belächelt wurde. Vor allem die Wirtschaftsinteressierten
hatten es geschafft, das kritische Denken fast ganz auszuschalten. Das war in
Europa das Ende der öffentlichen Religion. Dazu hatte das, was die Öffentlichkeit
Wissenschaft nannte, erheblich beigetragen. Die chemische Industrie überzeugte die
Bevölkerung davon, dass Krankheiten durch Selektion der Embryos weitgehend verhindert
werden konnten. Daher verabschiedeten die verbliebenen europäischen Parlamente Gesetze,
wonach die Bürger nur noch durch künstliche Befruchtung zur Welt kommen durften.
Embryonen wurden durch von staatlichen Ämtern auf Krankheiten untersucht und bei Krankheit
entsorgt. Auf ungeschütztem Geschlechtsverkehr standen höchste Gefängnisstrafen, weil
durch ihn ständig Krankheiten und Seuchen übertragen werden konnten. Videoüberwachungen
in allen Wohnungen und öffentlichen Räumen konnten von den Bürgern nicht abgeschaltet
werden. In einigen Regionen Europas gab es heftigen Widerstand, während andere
schon seit langem so liberal waren, dass die Maßnahmen sofort griffen. Widerständig
zeigten sich natürlich Polen, Kroatien und die Slovakei, in Deutschland waren es Oberschwaben,
Westfalen, Teile von Südbayern, in Österreich Tirol und Vorarlberg, in der Schweiz
die Kantone Uri und Unterwalden. Heftigen Widerstand gab es wie zu erwarten in Sizilien
und Sardinien, in manchen Teilen Irlands, in gewissen Regionen Frankreichs. Die UNO
war hier erstaunlich effizient und entschied, man solle aus den genannten Regionen
„Schutzzonen“ machen, an denen Ethnologen studieren konnten, wie die dortigen Gesellschaften
sich mit der traditionellen Zeugungsmethode entwickeln würden, wie viele und welche
Krankheiten auftauchen und wie man sie in den Zonen bekämpfen würde. Bald wurden für
sie im Volksmund eben „Human-Zoo“ genannt. Sie waren mit Stacheldraht umgeben, Kommunikation
zwischen denen drinnen und draußen war streng verboten. In diesen Zonen war natürlich
auch Religion weiterhin erlaubt und sogar erwünscht. Die Ethnologen suchten Populationen,
die man vergleichen konnte. Der Verfall der Kirchen in Europa hatte einen gesellschaftlichen
Hintergrund, der hier nur in groben Skizzen nachgezeichnet werden soll. Die Hauptkrisenherde
waren der Bereich der Bildung und der Gesundheitspflege. Der Stand der Bildung war
in den ersten Jahrzehnten des 21.Jahrhunderts rapide gesunken. Zwar lernten Schüler
und Studenten noch die technischen Fähigkeiten, um mit den neusten Computern umgehen
zu können. Doch die Grundfähigkeiten schwanden immer weiter dahin: Rechtschreibung,
Satzbau, Rechnen, Mathematik, Logik, Grundkenntnisse in Literatur, Geschichte und
Geographie – hier waren teilweise die USA vorausgegangen. Die Schulbehörden verzichteten
schrittweise in allen Ländern Europas auf Prüfungen. Alle Schüler besuchten nach der
Mittelschule die Universitäten. Nur die Intelligentesten lernten Handwerke. Zur
Gesundheitspflege waren die wichtigsten Schritte: nur auf Krankheiten geprüfte Embryonen
durften implantiert werden. Auf Verstöße standen höchste Strafen. Europa hatte einen
Zehnjahresplan zur Abschaffung der Krankenhäuser. Denn Krankheit war gesellschaftlich
geächtet. Durch eine langfristige, von Psychologen erarbeitete Medienkampagne war
die Bevölkerung davon überzeugt, dass Kranksein unanständig und für die Gesellschaft
schädlich ist. Kranke siechten in ihren Wohnungen dahin, bis sie qualvoll starben.
Sie mussten heimlich beigesetzt werden.“
Hier breche ich die Lektüre dieses
schrecklichen Romans ab. Ich erlaube mir zu sagen, dass ich der Autor der Schrift
bin. Sie wird wohl nie veröffentlicht werden.
Unsere Frage also: Gibt
es ein religiöses Erwachen? Gibt es in Deutschland und darüber hinaus eine neue Suche
junger Menschen nach Religion, Glaube, gar eine Frage nach der Kirche? Woher kommt
eigentlich die Frage? Wir wollen uns ihr stellen. Woher kommt aber eigentlich die
Frage? Ich möchte versuchen, die Gründe kurz zu nennen. Denken wir an den Strom
von Menschen, die sofort nach der Nachricht vom Tod von Papst Johannes Paul II. nach
Rom gefahren sind, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Viele von ihnen waren um die
20 Jahre alt. Man bedenke: sie mussten von jetzt auf nachher ihre Koffer packen,
ihren Arbeitgeber anrufen, dass sie fehlen, mussten den Familienmitgliedern bescheid
geben – dann ein Zug oder einen Flug buchen und weg. Sie hatten in Rom vermutlich
keine Unterkunft, wussten nicht, wo sie ihr Haupt hinlegen wollten. Es war also schon
ein bisschen mehr als pure Abenteuerlust. Freilich so ganz überraschend war der
Tod des 84-jährigen ja nicht. Man wusste von Radio und Fernsehen, dass er mit dem
Tode rang. Also, man konnte sich ein bisschen darauf vorbereiten. Aber die Menschen
wussten ja vermutlich auch nicht frühzeitig, dass der Leichnam des Papstes einige
Tage in St. Peter aufgebahrt sein würde und dass man an ihm vorbeiziehen konnte. Sie
wussten sicher auch nicht, dass man dazu im besten Fall vier Stunden, im schlechten
Fall 12 Stunden anstehen musste und dass es dabei für römische Verhältnisse bitter
kalt sein würde. Also: ich wage: hinter diesem Sturm auf Rom stand wesentlich
mehr Ernst als bei manchem Papstbesuch. Denn erinnern wir uns: Jeder Papstbesuch war
natürlich auch ein kleines Happening, ein event. Man trifft Gleichgesinnte, kommt
von zuhause weg – ein wichtiges Argument für junge Leute! – man erlebt etwas, wovon
alle sprechen. Also ich würde Papstbesuche als Ausdruck religiöser Suche nicht überbewerten,
wohl aber den Drang, den toten Papst zu sehen und zu ehren. Dahinter stand schon –
m. E. – eine religiöse Suche. Denn er war ja sichtbar ein Mann Gottes, ein Zeuge,
Mahner, Prophet. „Prophet“ hatten ihn zwei italienische Journalisten schon zu seinen
Lebenszeit genannt.
Warum fragen wir nach religiösem Erwachen, neuer religiöser
Suche? Weil wir den Zug zum Papst gesehen haben und nicht vergessen sollten. Wenn
ich persönlich Unterhaltungssendungen am Fernsehen sehe, denke ich manchmal an die
Schlange, die sich tagelang nach St. Peter wälzte. Dann muss man sich fragen: sind
die Menschen vielleicht doch ganz anders als es uns die Unterhaltungsindustrie vormacht.
Vielleicht sind viele Menschen doch ganz anders als es auf den ersten Blick wirkt.
Diese Frage sollten wir nicht vergessen. Und dann der Weltjugendtag in Köln. Kaum
zu glauben: in dem mehr oder weniger heidnischen oder gottfernen Deutschland sind
hunderttausende von jungen Leuten unterwegs zu Kirchen, zum Beten, zum Beichten, zum
Austausch über religiöse Fragen, um Katechesen von Bischöfen zu hören, keine Unterhaltungs-shows.
Katechesen von Bischöfen aus aller Welt. Gut – viele von diesen jungen Leuten
kamen aus frommen Ländern – oder eben aus Ländern, in denen der Glaube noch lebendiger
ist: aus Polen, Kroatien, auch Italien, Spanien, Portugal. Aber nach Angaben des Bundes
der deutschen katholischen Jugend kamen auch rund 100.000 deutsche Jugendliche. Das
sei die größte Ansammlung deutscher katholischer Jugendlicher in der Geschichte des
Landes gewesen. So viele hätte man noch nie zusammen bekommen. Was hat sie angezogen?
Das „weg von zuhause!“? Die Lust, junge Leute aus anderen Ländern zu treffen? Der
Kölner Dom, das Abenteuer? – Ich denke, ihr Verhalten in Köln hat gezeigt, dass auch
hier wesentlich mehr dahinter war. Denn sie waren nicht nur fröhlich und manchmal
ausgelassen, nein, sie waren auch unglaublich geduldig. Sie sind stundenlang angestanden,
um in Kölner Dom hineinzukommen – das stand für alle auf dem Programm, um zu den Katechesen
zu kommen, um dann aufs Marienfeld hinaus zu kommen, und natürlich um den Papst zu
sehen. Ist der Wunsch, den Papst zu sehen, eine religiöse Sache? Man möchte zweifeln.
Hat dieser Wunsch etwas mit Gott zu tun?
Ich würde so sagen: Zunächst - die
allermeisten Jugendlichen haben kaum einen Unterschied gemacht zwischen Johannes Paul
II. und Benedikt. Für sie war es einfach der Papst, der Mann in weiß. Der Mann in
weiß ist – so meine Meinung – schon einfach ein Repräsentant, ein Vertreter Gottes.
Ältere mögen darüber schmunzeln. Ich denke, für viele Jugendliche war und ist der
Mann in weiß ein Mann Gottes. Daher hat der Wunsch, den Papst nicht nur am Fernsehen
zu sehen, sondern in Wirklichkeit, etwas mit Gott, etwas mit Religion zu tun. Natürlich
macht es auch Spaß, dabei die anderen, Menschen aus vielen Länden zu sehen, Gleichgesinnte
aus fernen Ländern kennen zu lernen, Adressen auszutauschen. Aber das kann man auch
anderswo, das kann man auch am Rheinufer mit einer Flasche Bier in der Hand. Sie blieben
aber nicht am Rheinufer liegen, sondern kamen zum Gottesdienst aufs Marienfeld. Und
es lagen nachher keine Bierflaschen herum und vermutlich auch nicht viele Kondome,
denn sonst hätte man das in den Zeitungen mehr gelesen. Sicher gab es auch gebrauchte
Kondome, aber nicht die Masse. Gottlob gibt’s die freie Presse, die sich zunächst
mal um die liegen gebliebenen Kondome kümmert. Warum erzähle ich dies alles? Damit
wir uns an die Frage herantasten, ob es eine neue religiöse Suche gibt. Man kann
jedenfalls den Eindruck haben, dass sich hier etwas bewegt.
Warum aber bewegt
uns diese Frage? Ich vermute, die Beweggründe, nach der Religiosität der Jugend
zu fragen, ist recht unterschiedlich. Je nachdem, wer die Frage stellt: Kirchliche
orientierte Eltern - Pädagogen, die um die Formkraft der Religion wissen - Politiker,
die sich dafür interessieren, wie man Menschen anspricht und sie gewinnt - Missionare,
die einfach nur Gott verkünden wollen - Kirchenleute, die sich Sorgen darüber machen,
ob die Gemeinschaft hält. Warum bewegt uns die Frage nach der Suche Jugendlicher
nach Gott und Religion? Manche von uns mögen die Erfahrung gemacht haben, wie sehr
religiöser Glaube sie trägt – nicht nur in schweren Stunden, sondern auch im normalen
Alltag. Denn jeder Alltag hat seine Schwierigkeiten. Und der glaubende Mensch erfährt,
dass ihm sein Glaube hilft. Er wünscht das auch für Jugendliche, für die eigenen Kinder.
Menschen, die in geschichtlichen Kategorien denken, werden auf die Bedeutung von
Religion und Glaube im Lauf der Geschichte verweisen. Johannes Paul II. gehörte zu
diesen Menschen. Für ihn war Europa als Kultur-Kontinent ohne das Christentum nicht
vorstellbar. Zu diesen gehöre auch ich. Ich behaupte schon jetzt: Wenn Europa seine
christlichen Wurzeln als Wurzeln seiner Kultur und Zivilisation ganz vergessen sollte,
dann hat Europa sich selbst und seine Weltgeltung aufgegeben. Mit Wirtschaft allein
macht man weder Kultur, noch Zivilisation. Geschichtsbewusste Menschen werden sagen:
ohne Religion keine Kultur. Missionare sind – wenn es richtig läuft – Menschen,
die Gott in ihrem Herzen als Schatz erfahren haben und diesen Schatz weiterreichen
wollen. Für sie ist es zweitrangig, ob Religion auch Nutzen in der Welt hat oder nicht.
Sie können nicht leben ohne von ihrem Schatz zu sprechen. Wehe wenn ich nicht verkünde
– sagte Paulus. Kirchenleute sehen – neben allem eben genannten – dass der Fortbestand
der Kirche als Gesellschafts- und Kulturgut eben auch davon abhängt, ob diese Gemeinschaft
nur ein winziges Rinnsal ist oder eine gesellschaftsprägende Einrichtung, die den
Menschen hilft. Wer soll die Kirchen erhalten, wenn niemand mehr reingeht, wenn man
sie nicht mehr braucht. Auch Nicht-Kirchgänger protestieren, wenn Kirchen umgewidmet
werden. Und Politiker wollen wissen, ob Menschen auch mit religiösen Motiven angesprochen
werden können oder ob sie Religion eher abstößt. Politiker sehen Kirche entweder als
Hilfe, als Gefährte oder eben als Hindernis, als Feind. Denn: Ebenso wie Politiker
das Gemeinwesen und seine Geschichte lenken wollen, so wollen es auch Kirchenleute.
Wie also steht es um die religiöse Suche der jungen Menschen heute?
Wir
sind bei der zentralen Frage angelangt. Ich habe versucht, wissenschaftliche Daten
herauszufinden, bin aber nicht sehr fündig geworden. Es gibt Daten, aber nicht gerade
sehr viel. Immerhin gab es kleinere Untersuchungen. (Ich bin kein Soziologe und
mache hier vielleicht auch Interpretationsfehler) Zunächst: Die Shell-Jugendstudie
2002 stellte im Großen und Ganzen fest: die meisten Jugendlichen in Deutschland wollen
arbeiten, wollen beruflich erfolgreich sein. Sie interessieren sich wesentlich weniger
für Politik als ihre Eltern. Sie sind strebsam. Also in großen Linien eine Trendwende:
nicht mehr Protest und Bequemlichkeit, sondern Fleiß, Aufstieg. Allerdings – weniger
erfreulich: nur 34 Prozent der westdeutschen Jugendlichen glauben an Gott, im Osten
sind es sogar nur 15 Prozent. Heute stellen verschiedene Soziologen vor allem
Sinnsuche fest. Religion ist auch Antwort auf den Frage nach dem Sinn: Der Hamburger
Gesellschaftsforscher Horst Opaschowski stellt fest: Die Jugend ist auf der Suche
– doch nicht nach schnellem Geld oder dem angesagten Livestile. Damit zusammen hängt
ein Comeback von lange abhanden geglaubten Werten wie Familie, Freundschaft, Geborgenheit
und sozialer Verantwortung. Opaschowski schreibt wörtlich „Diese Jugendlichen sind
Trendpioniere für ein neues Lebensgefühl und für sie gehört auch die Religion wieder
dazu.“ Er spricht von einer Generation von Sinnsuchern. Er schreibt, die jugendlichen
Massen vor dem toten Papst hätten ihn nicht überrascht. Jeanette Huber vom Zukunftsinstitut
in Wien meint: Als Werteinstanz und Lebenshelfer sei die Kirche gefragt. Wörtlich
„Alle Anbieter von Wertesystemen haben Konjunktur. Die Kirche, aber auch der Spiritualismus,
die Natur und werthaltige Marken“ Gemeinschaft ist ein Boom-Wert nach Ansicht des
Wiener Zukunftsinstituts. Die Kirche schaffe es auch immer wieder Gemeinschaftserfahrungen
zu vermitteln – nicht nur bei Kirchentagen, sondern auch an Weihnachten und etwa beim
toten Papst. Opaschowski meint: Mit dem 11. September sei die Spaßgesellschaft
endgültig vorbei gewesen. Das Datum sei ein Wendepunkt in der Gesellschaft. Die Werte
Sport, Hobby, Urlaub seien von 1980 bis 2000 ständig gestiegen, dann aber plötzlich
nicht mehr, sondern schwach gefallen. Es ist ja bekannt, dass seit einigen Jahren
immer wieder festgestellt wird: Menschen machen sich heute ihre Religion selbst. Ein
wenig Christentum, ein wenig Buddhismus, ein wenig Magie. Verschiedenes, je nach Geschmack
und Bedürfnis! Dies ist nach Opaschowski zu Ende. Die Bastelexistenz habe ausgedient,
bei der man sich den Wertecocktail selbst gemixt habe. Und: Kirche sei zukunftsfähig.
Die Kirche bietet nach ihm eine Sinnantwort mit sozialem Hintergrund. Das sei die
richtige Mischung, die heute von vielen – gerade jungen - Menschen gesucht werde.
Sinn und Soziales. Der Soziologe Klaus Hurrelmann von der Universität Bielefeld
warnt einerseits, aufgrund des Weltjugendtages von einem Revival der Religiosität
zu sprechen. Andererseits meint er, durch den Papstbesuch habe sich verändert, dass
Jugendliche es wagen, von ihrer Religiosität zu sprechen, sich dazu zu bekennen. Dadurch
könne sich der Kreis derer, die mit Religion in Berührung kommen, wieder weiten. Hurrelmann
hatte die Shell-Studie ausgewertet. Damals schon statuierte er, dass Jugendliche sich
zwar politisch nur wenig interessieren, sich aber dennoch ehrenamtlich gut engagieren.
Im persönlichen Lebensumfeld sei jeder Dritte regelmäßig aktiv. Rund 40 Prozent der
Jugendlichen engagierten sich gelegentlich ehrenamtlich. Wichtig sei dabei die Frage
nach einer sinnvollen Freizeitgestaltung. Viele wollen einfach die Welt ein bisschen
besser machen. Soweit Hurrelmann. Es gibt auch eine Umfrage des Forsa-Instituts
im Auftrag der Zeitschrift Neon. Nach ihr glaubt mehr als ein Drittel junger Menschen
zwischen 18 und 30 Jahren nicht an ein Leben nach dem Tod. Sie glauben, dass mit dem
Tod „Leere eintritt“ – oder eben „nichts passiert.“ Ebenso ein Drittel glaubt, dass
der Mensch in anderer Form weiterlebt. Ein Viertel glaubt, dass es ein wirkliches
Leben im Jenseits gibt. 13 Prozent sagen eine Wiedergeburt voraus. Der Kommentator
dieser Umfrage meint: wenn man Jugendliche auf dem Weltjugendtag gefragt hätte, dann
hätte man vermutlich ein anderes Ergebnis erhalten. Allensbach befragte Katholiken,
ob Kirche in die heutige Zeit passe. 1999 meinten mehr als die Hälfte „Nein“ sie passt
nicht, heute sind fast zwei Drittel der Ansicht sie passe. Soweit ein paar Ergebnisse
von jüngsten Meinungsumfragen. Die neue Sinnsuche führt aber nicht gleich in die Kirchen.
Es ist zu früh, um von einer wirklich langfristigen Neubelebung von Glaube und Kirche
zu sprechen.
Warum bewundern junge Leute den verstorbenen Papst? Und noch
die Spezialfrage: Warum bewundern viele junge Menschen den Papst? Und: Die Kirchen
– jedenfalls in Deutschland, wo vieles gut organisierst ist – leiden unter der Ablehnung
von Großorganisationen wie die Parteien, die Vereine, Verbände und Gewerkschaften.
Das ist seit langem bekannt. Vor 100 Jahren schossen die Vereine wie Pilze über Nacht
aus dem Boden, die Menschen schlossen sich zusammen, um gemeinsam stark zu sein und
weil es schön war, mit Gleichgesinnten zusammen zu sein. Heute genießt man Gemeinschaft,
will sich aber nicht binden, vor allem nicht längerfristig. Das Singledasein hat Konjunktur.
Erlauben Sie mir, Ihnen meine Meinung dazu holzschnittartig zu sagen: Weil sie
in ihm einen Mann Gottes sehen, weil er sich dadurch von vielen anderen unterscheidet.
Auch im Dalai Lama sehen viele Menschen in der Welt einen Mann Gottes. Weitere Menschen
Gottes mögen sein Mutter Teresa, Martin Luther King, Mahatma Gandhi. Die Jugend
der Welt spürt, dass er sich nicht nach Zustimmung oder Ablehnung richtet, sondern
seine Überzeugungen vorträgt, auch wenn er weiß, dass sie von vielen abgelehnt werden.
Die Jugend der Welt spürt, dass er echt und glaubwürdig ist, dass er sagt, was er
denkt und denkt, was er sagt und dass er sich damit von vielen anderen Personen in
der Öffentlichkeit wohltuend unterscheidet. Wer das beobachtet, kann schlussfolgern:
Echtheit, Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit haben noch nicht ausgedient, man kann damit
vielleicht nicht leicht Wahlen gewinnen, aber man kann Einfluss ausüben, geschichtlichen
Einfluss ausüben.
Die Grundtendenzen: Religion und Säkularisierung
Bei
unserer Frage nach neuer Religiosität, muss man natürlich ein wenig in die Weite und
Ferne schauen. Ich fand einen wichtigen Aufsatz in der Neuen Züricher Zeitung. Hier
schreibt eine Christel Gärtner folgendes: Jahrelang haben Sozialwissenschaftler geglaubt,
dass Kirchen und Religionen untergehen je mehr eine Gesellschaft säkularisiert sei.
Dann kam die Kritik an der Säkularisierungsthese, man sprach von der Renaissance der
Religiösen. Die Vertreter der Säkularisierungsthese gingen mit Max Weber davon aus,
dass Religion und Moderne in einem Spannungsverhältnis stehen und sich wechselseitig
ausschließen. Das heißt: entweder modern oder religiös. Mit der Säkularisierung schwinde
Religion ganz. Die Kritiker dieser Ansicht sagten: Wohl wird Kirche immer schwächer
und bedeutungsloser, nicht aber Religion als solche. Sie bleibt. Aber sie wandelt
sich. Religion findet nicht mehr in den überkommenen religiösen und kirchlichen Formen
statt, sondern in neuen, anderen. Das heißt Religion wird privatisiert und individualisiert.
Seither besteht ein Streit zwischen den Fachleuten: soll man von Säkularisierung,
von religiöser Transformation oder von Rückkehr der Religion sprechen.
Darf
ich hier nun einflechten, was Fachleute längst wissen, was ich aber bei Kardinal Joseph
Ratzinger gut zusammengefasst fand: Und zwar in dem kleinen Bändchen: Werte in Zeiten
des Umbruchs, erschienen vor seiner Wahl Anfang 2005: Er schreibt (Seite 79): „Über
die mögliche Zukunft Europas gibt es zwei gegensätzliche Diagnosen. Da ist auf der
einen Seite die These von Oswald Spengler, der für die großen Kulturgestalten eine
Art von naturgesetzlichem Verlauf glaubte, feststellen zu können: es gibt den Augenblick
der Geburt, den allmählichen Aufstieg, die Blütezeit einer Kultur, ihr langsames Ermüden,
Altern und den Tod. Spengler belegt seine These eindrucksvoll aus der Geschichte der
Kulturen, in der man dieses Verlaufsgesetz nachzeichnen kann. Seine These war, dass
das Abendland in seiner Spätphase angelangt sei, die allen Beschwörungen zum Trotz
unausweichlich auf den Tod des kulturellen Kontinents hinausläuft. Natürlich kann
er seine Gaben an eine neue aufsteigende Kultur weiterreichen, wie es in früheren
Untergängen geschehen ist, aber als dieses Subjekt habe er seine Lebenszeit hinter
sich.“ Soweit Ratzinger und er schreibt weiter: „Diese biologistisch gebrandmarkte
These hat zwischen den beiden Weltkriegen besonders im katholischen Raum leidenschaftliche
Bestreiter gefunden. Eindrucksvoll ist ihr auch Arnold Toynbee entgegengetreten –
freilich mit Postulaten, die heute wenig Gehör finden. Toynbee stellte die Differenz
zwischen materiell-technischem Fortschritt einerseits, wirklichem Fortschritt andererseits
heraus, den er als Vergeistigung definiert. Er räumt ein, dass sich das Abendland
– die westliche Welt – in einer Krise befindet, deren Ursache er im Abfall von der
Religion zum Kult der Technik, der Nation und des Militarismus sieht. Die Krise heißt
für ihn letztlich: Säkularismus. Wenn man die Ursache der Krise kennt, kann man auch
den Weg der Heilung angeben. Das religiöse Moment muss neu eingeführt werden, wozu
für ihn das Erbe aller Kulturen gehört, besonders aber das, was vom „abendländischen
Christentum übrig geblieben ist.“ Der biologistischen tritt hier eine voluntaristische
Sicht entgegen, die auf die Kraft schöpferischer Minderheiten und herausragender Persönlichkeiten
setzt.
Es stellt sich die Frage: ist die Diagnose richtig? Und wenn: liegt
es in unserer Macht, das religiöse Moment neu einzuführen, in einer Synthese aus Restchristentum
und religiösem Menschheitserbe? Letztlich bleibt die Frage zwischen Spengler und Toynbee
offen, weil wir nicht in die Zukunft schauen können. Aber unabhängig davon stellt
sich die Aufgabe, nach dem zu fragen, was Zukunft gewähren kann und was die innere
Identität Europas in allen geschichtlichen Metamorphosen weiterzuführen vermag.“ Soweit
Kardinal Ratzinger, jetzt Papst Benedikt.
Was ist Europa, was sind die Grundpfeiler
Europas?
Die Zukunft ist offen. Wir wissen nicht, ob die Kultur und Zivilisation
des Abendlandes untergeht. Ob der Islam, China oder die USA die Oberhand gewinnen
werden – oder ob sich Europa findet, Religion und Christentum sich wandeln und neue
Kraft gewinnen. Christen haben zwar die Verheißung Jesu, dass die Kirche nicht untergeht.
Aber nirgends steht geschrieben, dass nicht eine christlich geprägte Kultur untergeht.
Wir haben – leider meist vergessene – Beispiele: Die Türkei, alias Kleinasien und
Syrien waren einmal weitgehend christlich. Ebenso Nordafrika. All das wurde durch
den Islam weggefegt. Nirgends steht geschrieben, dass wir nicht Teilnehmer und Zuschauer
vom Drama des Endes Europas sind, trotz allem Lärm aus Brüssel. Denn: Wo kein Geist
ist, da ist letztlich kein Leben, keine Zukunft. Aber Brüssel ist auch nicht berufen,
Geist zu produzieren. Brüssel zeigt nur, was wir sind. Wenn Konrad Adenauer, Robert
Schumann und Alcide De Gasperri das heutige Europa sähen, würden sie vermutlich weinen:
„Das haben wir nicht gemeint.“ Würden sie sagen. „Ein Europa, in dem der Schutz des
Lebens, der Familie, der Ehe, der Schwachen derart ausgehöhlt ist. Ein Europa, in
dem die ganze Tradition der Rechtsgeschichte so untergegangen ist, hat keine Zukunft.
Unser Europa war das Gegenteil.“ So würden sie meines Erachtens sagen. Ich persönlich
vertrete die Ansicht, wenn ein Gemeinwesen, unser Europa, nicht auf unantastbaren
Grundwerten aufgebaut ist, die letztlich transzendent begründet sind, dann steht es
auf sehr wackeligen Füßen. Wenn alles nur von demokratischen Mehrheiten abhängt, wenn
die Mehrheit auch über das Lebensrecht von Ungeborenen, Siechen, Sterbenden, Behinderten,
Unnützen entscheiden kann, dann hat sich eine solche Zivilisation schon das Grab gegraben.
Es muss Prinzipien geben, die nicht angetastet werden dürfen. Wehe wenn eines Tages
die Persönlichkeitsrechte von 49 Prozent der Bevölkerung durch 51 Prozent der Mitbürger
bestimmt werden können. Man kann keine Kultur auf pure rechtliche Übereinkunft, auf
pure Mehrheiten aufbauen. Unantastbare Überzeugungen, wie sie nach dem zweiten Weltkrieg
in das deutsche Grundgesetz geschrieben wurden, sind unabdingbar. Papst Benedikt
sprach einmal von der Diktatur des Relativismus. Er meint damit, dass alles letztlich
durch die Mehrheit entschieden werden kann. Z.B. ob Menschen über 60 oder über 70
oder über 80 zuviel Belastung für die Gesellschaft sind und ihnen daher zur Selbsttötung
verholfen werden muss. Wer sich nicht selbst entfernt, soll wissen, dass er stört.
Das wird ihm oder ihr helfen. Eine Gesellschaft, die demokratisch darüber abstimmt,
dass es neben der Ehe gleichwertige Gesellschaftsformen gibt, ist in einen Relativismus
verfallen, der ihr Grab ist. Es darf nicht über alles abgestimmt werden. Eine Verfassung
ist eine Verfassung. Das Volk das seine Verfassung aushöhlt, schaufelt sich selbst
ihr Grab. Vor 200 Jahren sind Menschen dafür gestorben, eine Verfassung zu bekommen,
um das Fürstenrecht zu brechen. An die Stelle der Fürsten sind heute die Lobbys und
die Mehrheiten getreten. Ratzinger spricht auch von einem eigenartigen Selbsthass
Europas gegen sich selbst. Er sagt: Gottlob respektieren, achten und schätzen gebildete
Europäer den Buddhismus und Hinduismus, auch Judentum und Islam. Die europäische Religion,
das Christentum aber wird hauptsächlich kritisiert. Gebetsmühlenartig werden Kreuzzüge,
Ketzerverfolgung, Hexenverbrennung und Inquisition als Gründe gegen das Christentum
vorgetragen. Nur die jahrhundertealten Sünden der Kirche wreden aufgezählt, und im
Übrigen darf das, was Christen heilig ist, mit Hohn und Spott übergossen werden. Das
sei Freiheit der Kunst. Das Christentum Europas hat aber auch Dante, Shakespeare,
Michelangelo, Mozart und Einstein hervorgebracht. Davon wird kaum gesprochen. Sie
seien nur Nebenprodukte, die auch ohne christliches Europa entstanden. Ich sage: ohne
den Humus der abendländisch-christlichen Kultur hätte Europa nicht das Kulturgut hervorgebracht,
um das uns Afrika, Asien und Amerika beneiden. Wir müssen es nur selbst wertschätzen
und uns gegen die Fehlinterpreten wehren.
Gibt es in Europa ein neues religiöses
Aufblühen oder nicht?
Wir mussten einen weiten Weg gehen, um zu unserer Frage
zurückzukehren. Denn auch wenn es ein paar religiöse Blütchen auf der europäischen
Wiese gibt, so dürfen wir uns doch nichts vormachen, uns nicht Sand in die Augen streuten.
Die Situation ist meines Erachtens dramatisch. Auch wenn es religiöse Blüten gibt,
wir dürfen uns nicht zurücklehnen und uns freuen. Es geht um mehr.
Ich neige
zu Toynbee. Wenn wir die Dramatik der Situation erkennen, ist uns noch zu helfen.
Wir dürfen nur nicht die Augen schließen vor der Dramatik. Wir dürfen nicht Zuschauer
sein. Und wir müssen für uns selbst die richtigen Maßstäbe haben. Was sind die
richtigen Maßstäbe? Die Verfassung kennen und auf ihre Einhaltung achten, auch wenn
es weh tut. Sich nicht einlullen lassen von spitzfindigen Interpretationen, sondern
erkennen, wenn wir an der Nase herumgeführt werden. Als Politiker Standpunkte vertreten,
auch wenn dies zwischenzeitlich Stimmen kostet. In Jahrzehnten oder Jahrhunderten
denken – und nicht in Wahlperioden. Hierzu nur Stichworte: Heute sind wir stolz
auf Widerständler gegen Hitler und Stalin, auch wenn sie unmittelbar politisch nichts
erreicht haben. Ich wünsche mir Parlamentarier, die auf ihre politische Karriere für
längere oder kürzere Zeit zu verzichten, weil es ihnen ihre Überzeugungen gebieten.
Wenn wir wenigstens einige solche Politiker hätten, würden junge Leute wieder zu Politikern
aufschauen. Ich weiß, dass Politik Pragmatik ist, die Kunst des Möglichen, aber es
gibt Prinzipien, die halten müssen, auch wenn es weh tut. Heute schämen wir uns der
Politiker, die meinten, mit Hitler hoch zu kommen. Heute freuen wir uns über Politiker,
die Widerstand leisteten oder ausgewandert sind. Wir schämen uns der Mitmacher.
Können
sich heute Politiker schämen, dass sie schweigen oder mitmachen bei Fragen, die in
der Verfassung wohl anders gesehen wurden? Können nur Papst und Roger Schütz für
religiöses Erwachen helfen? Wir können helfen. Ich nenne die meines Erachtens wichtigsten
Bereiche.
Familien: Eltern sollten feste Überzeugungen haben und sie leben.
Wenn bei ihnen reiner Pragmatismus und Relativismus herrscht, werden auch ihre Kinder
Relativisten, denen nichts wichtig und nichts heilige ist. Eltern müssen Zeit haben
für ihre Kinder. Das kostet Kraft und Nerven, aber es rächt sich, wenn die Eltern
keine Zeit haben für Kinderfragen, Kinderspiele. Eltern sollten auch Platz haben für
ihre Kinder. Eltern sollten ihren Kindern auch Antwort geben können, wenn sie Fragen
stellen, die mit Religion und Christentum zu tun haben. Z.B. warum wird der Mann am
Kreuz dargestellt und an der Wand aufgehängt? Wozu braucht man Kirchen und warum haben
sie Türme. Warum ist am Sonntag arbeitsfrei und schulfrei. Und: wer der Mann in weißem
Gewand. Schulen: Lehrer sollten nicht nur unterrichten, sondern auch erziehen.
In der Schule sollte man auch lernen, wie man mit einander lebt, warum es Regeln und
Gebote gibt. Und wo die Gebote herkommen, warum man einander nicht umbringen oder
belügen soll. Wenn Kinder in der Schule vom Christentum nichts hören, dann haben die
Deutsch-, die Geschichts- und die Sprachenlehrer versagt. Man kann unsere Kultur nicht
ohne Christentum verstehen. Kirchen: natürlich happert es auch in den Kirchen.
Priester sollen Gottesmänner sein, sie sollen Jesus Christus verkünden und sonst nichts.
Alle Christen sollen Zeugen des Glaubens sein. Im Gottesdienst soll Platz auch für
Nicht-Grauhaarige sein. Medien: Kürzlich hat eine Untersuchung festgestellt, dass
die Kirchen in den Medien unterrepräsentiert sind. Sie kämen nicht nach der Größe
ihrer Mitgliederzahlen vor. Ich denke, alle Medien-Nutzer sind ein wenig schuld daran,
wenn in den Medien Nebensächliches und rein Unterhaltendes zu viel Platz hat, und
Wichtiges untergeht. Die Medien sprechen von einem deutschern Entführten 100 mal mehr
als von 1000 Gefangene in Guantanamo. Das ist schlecht. Ein Streit um den Gaspreis
wird ausführlicher behandelt als die ernstere Frage des Energiekonsums, des Energieverbrauchs,
der Abhängigkeit. Die Krawatte des Politikers und die Frisur der Kanzlerin spielen
leider eine größere Rolle als die Leistung einer Partei durch viele Jahre. Sind wir
so dumm? Es hapert gewaltig im Medienwald. Parteien: Wenn ich eine Wahlrede halten
würde, würde ich sagen: Schaut nicht auf gutes Aussehen und Redegewandtheit, schaut
nicht einmal auf ein Parteiprogramm, es sei denn sehr gründlich, schaut darauf, was
eine Partei die letzten 10 Jahr getan hat, dann wählt. Erfolg für die Menschen muss
belohnt werden, nicht schöne Papiere und schöne Kleider.
Mit Gott hat das
Leben einen Sinn
Ich komme zum Schluss: Jugend sucht offenbar wieder mehr als
früher Religion, Glaube und sogar Kirche. Wir freuen uns darüber. Wir dürfen aber
nicht nur Zuschauer bleiben. Denn dabei steht mehr auf dem Spiel als ein paar Papstbesuche
oder ein paar mehr oder weniger gefüllte Kirchen. Dabei steht die Zukunft unseres
alten Europa auf dem Spiel. Nicht nur der Islam steht vor der Haustür, auch China
und Indien stehen in den Startlöchern. Ja – sie sind bereits heimlich-still und leise
nach Afrika, Asien und Amerika gesprungen. Mit harter Arbeit und in ihrer Art zu denken,
zu handeln, die nicht immer den europäischen Grundwerten entsprechen. Große europäische
Heilige, die den Kontinent geprägt haben wie Benedikt, Franz von Assisi, Ignatius
von Loyola, aber auch Personen wie Edith Stein, Clemens August von Galen, Dietrich
Bonhoeffer würden uns vielleicht fragen: verspielt ihr gerade das, wofür wir gestorben
sind? Auch Martin Luther und andere die ihr Leben für die Reform der Kirche eingesetzt
haben, würden uns vielleicht kritisch fragen, ob uns die Auszehrung von Glaube und
Kirche vielleicht doch zu gleichgültig sind. Ähnlich Persönlichkeiten wie Lessing
und Schiller, die im Zug der Aufklärung gegen Fürstenherrlichkeit und für Menschenrechte,
Grundwerte, Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz gekämpft haben und teilweise dafür
gestorben sind. Würden diese Aufklärer uns vielleicht kritisch bitten: tut die Augen
auf, verspielt nicht das beste Erbe Europas. Schaut auf die Jugend, die die Krankheit
der Zeit feinfühliger erkennt: sie zeigt euch: O h n e Gott kann man zwar leben
und überleben. Aber m i t Gott lebt man besser, mit Gott hat das Leben einen Sinn.